Читать книгу Botschaft der Berge - Reinhold Stecher - Страница 9
Die ruhenden Berge
ОглавлениеWir leben schnell. Unser tägliches Spiel heißt „dalli, dalli“. Wir haben unzählige Maschinen erfunden, die schneller laufen, arbeiten, kombinieren, speichern, bauen, bewegen und kontrollieren, als wir es je könnten. Und nun laufen wir atemlos dem Tempo unserer Maschinen nach. Technischer Fortschritt, Mobilität und Dynamik halten uns ständig auf Trab. Am Rand unseres Alltags steht alle Augenblicke ein Termin wie ein ungeduldiger Verkehrspolizist und winkt uns zu: „Weiter, weiter …!“ Der Langsamere ist ein Störenfried, ein untüchtiger Träumer, ein Sicherheitsrisiko. In diesem Karussell des Lebens kommen wir kaum mehr an die Nabe der Zeit, an die innerste Achse, wo man langsamer kreisen könnte – nein, wir werden an die Peripherie hinausgeschleudert, wo alles in rasendem Tanz vorbeihuscht. Die Ereignisse blitzen nur kurz auf wie die Randsteinreflektoren bei schneller Nachtfahrt. Verhaltensforscher haben vom „Momentanismus“ des modernen Menschen gesprochen. Wir sind Menschen des Augenblicks geworden, bedacht auf seinen Nutzen und Vorteil, fasziniert von seiner Lust, bestimmt von seiner Mode, mit wenig Sinn für den Blick auf große Ziele und wenig Verbundenheit mit dem kostbaren Erbe von gestern, einem verminderten Gespür für das zeitlos Gültige und einem tiefen Misstrauen gegenüber der Zukunft.
Die Berge aber ruhen über dieser unstet treibenden Welt. Ihre Konturen sind immer dieselben geblieben – für den Steinzeitjäger, den römischen Legionär, den Pilger des Hochmittelalters und Herrn Schultze mit Familie auf dem Campingplatz.
Zuckerhütl, Ortler und Glockner grüßen mich heute noch so, wie sie mich als Kind gegrüßt haben. Und wenn sie die zehnte Generation nach uns grüßen werden, wird vieles anders sein, aber die Berge werden keine Miene verzogen haben. Die Uhren der Versteinerungen in ihrem Innern ticken nicht in Sekunden, sondern in Jahrtausenden. Die Blumen der Bergkristalle brauchen Weltzeitalter zum Erblühen.
„Was willst du, aufgeregter, wichtigtuerischer Mensch des 20. Jahrhunderts?“ fragt der Berg. „Der Bach, an dem du vorbeigehst, hat seine Schlucht in Jahrmillionen gegraben. Der Stein, über den du stolperst, hat Eiszeiten und Kreidemeere gesehen. Die Wand, die über dir aufragt, ist tausendmal älter als die Menschheit …“
Der Berg holt in die Ruhe. Vielleicht schon damit, dass er uns ein wenig in die natürlichen Rhythmen des Lebens zurückzwingt. Das gilt zunächst von jenem Lebensvorgang, der einen so tiefen Bezug zum Seelischen hat, dass er in manchen alten Kultursprachen mit „Seele“ gleichgesetzt wurde – dem Atem. Wir sind doch kurzatmig geworden wie hechelnde Jagdhunde. Bergsteiger kehren zur natürlichen Tiefenatmung zurück.
Der Berg holt in die Ruhe. Beim Wandern am Berg tauchen die Umrisse langsam auf, verschieben sich allmählich Kulissen und Horizonte, ganz anders als beim Blick aus dem Auto oder dem Schnellzug. Der Berg zwingt uns zum Gesetz der bedächtigen Schritte, der geduldigen Serpentinen, des Überlegens von Griff und Tritt. Bei ihm gilt wieder der vergessene Rhythmus von Tag und Nacht, Sonne und Mond und wanderndem Sternbild. Ein wenig erlöst er uns aus der Diktatur der Motoren und Gashebel, der Elektronik und der Terminkalender und der vielen anderen unheimlichen Einpeitscher und Beschleuniger unseres Daseins.
Am Berg verstehen wir den alten Indianer, der bei seiner ersten Autofahrt nach einer Stunde aussteigen wollte und sich an den Straßenrand setzte: „Was willst du“, fragten ihn die anderen, „ist dir schlecht?“ – „Nein“, hat er gesagt, „ich muss nur warten, bis mein Herz nachkommt …“
Auf den Bergen kann das Herz nachkommen. Dort, wo der Hochwald zum erstenmal den Blick freigibt, bei der Rast am Bergsee, beim Blick auf die ziehenden Talnebel oder die Spiele der Wolken. Ein kleines Stück vom zeitlos souveränen Gehabe der Berge kann auf uns übergehen. Bei ihnen lernen die Kinder der Hast die kostbare Kunst des Verweilens …