Читать книгу Bis der Nebel sich lichtet - Reinhold Vollbom - Страница 3

Ein bedauernswertes Ereignis

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Die nur teilweise heruntergelassene Jalousie tauchte den Raum in dunkles Grau. Durch einige Schlitze in den Lamellen bahnte sich das trübe Tageslicht einen Weg hindurch. Hierbei warf es gespenstische Formen an die gegenüberliegende Wand. Von einem Punkt des Raumes hallte das monotone Ticken eines Weckers, wie schwerer Glockenschlag. Im Hintergrund fauchte leise das unregelmäßig summende Zischen vorbeifahrender Autos. Es roch intensiv nach verbranntem Kaffee.

Das jähe Läuten des Telefons hämmerte wie ein Paukenschlag in diese Junggesellen-Idylle. Erst nach dem dritten Klingeln drang ein undeutliches Fluchen aus einer Ecke des Raumes. Von der Schlafcouch räkelte sich ein Arm zu dem kleinen Tischchen, das neben dem Bett stand. Vorsichtig tastend, suchten die Finger den Unruhestifter. Doch das Ende der Hand ertastete nur die Basisstation des schnurlosen Telefons. Der Handapparat selber lag seit Stunden vor der eingeschalteten Kaffeemaschine: von der Schlafcouch so weit entfernt, wie der Mond von der Erde.

Einen Fluch ausstoßend sprang Moritz Wolff von seiner Liegestatt auf. Es dauerte zwei, drei erneute Rufe, bis er den genauen Standort des Handapparates ausgemacht hatte.

Die Nase rümpfend betätigte er die Verbindungstaste des Apparates. »Ja?«, knurrte der fünfunddreißigjährige Kriminaloberkommissar, mit den blauen Augen, schlaftrunken in die Sprechmuschel. Mit der linken Hand hielt er den Hörer ans Ohr, mit der rechten schaltete er die Kaffeemaschine aus.

Obwohl Moritz Wolff eine Geheimnummer hatte, meldete er sich am Telefon grundsätzlich ohne Namen. Manchmal dürstete es einem ehemaligen Insassen mit ihm was zu klären. Dann war es die Aufgabe desjenigen, seine Anschrift herauszufinden. Widersacher hatte er genug. Es gab eine größere Anzahl, die er auf Staatskosten hatte unterbringen lassen.

»Mein Gott, Kocke, hast du geschlafen?«, drang eine genervte Männerstimme aus dem Hörer. Christian Borck, sein Partner, mit dem er im Dienst auf Streife fuhr, reagierte unüberhörbar verärgert.

»Schieß los, was gibt’s, Chris?«

»Was es gibt? Na, du bist gut! Der Alte hat nach dir gefragt. Ich habe ihm erzählt, du bist vorgefahren und ich mach mich ebenfalls gleich auf den Weg …«

»Der Alte hat nach mir gefragt?« Misstrauisch wiederholte Moritz die Worte des anderen. Dann ruhten seine Augen fast automatisch auf den Wecker mit den übergroßen verschnörkelten Zeigern. »Es ist kurz vor fünf. Morgens oder abends, Chris?«

»Hör zu, du Scherzbold, heute ist Samstag und in genau vier Minuten ist es siebzehn Uhr. Seit über zwei Stunden warte ich hier im Büro auf dich.«

Moritz atmete lautstark aus. »Verflixt, ich bin eingeschlafen.«

»Ist Cindy bei dir?«

»Komm, keine Anspielungen, sonst bezahlst du deine Currywurst nachher selber.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »Was hast du gesagt? Heute ist Samstag?« Die letzten Worte sprach er langsam gedehnt, sowie ungewöhnlich leise aus. Dabei strich er sich sein fast schulterlanges braunes, etwas strähnig wirkendes Haar, aus dem Gesicht.

»Also, wann tauchst du hier im Büro auf? Ich kann den Alten nicht auf alle Zeit vertrösten.«

»Wiederhole bitte noch mal, welchen Wochentag wir heute haben.« Der spürbar scharfe Unterton in der Stimme verunsicherte den anderen. Moritz lauschte gespannt in den Handapparat des Telefons. Statt einer Antwort seines Kollegen hörte er das hektische Rascheln von Papier.

»Äh …«, tönte es unverhofft kleinlaut aus dem Hörer. »Ich habe mir noch mal den Dienstplan vorgenommen. Kocke, es tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung, dass du dir kurzfristig für heute einen freien Tag eingetragen hast.« Seine Stimme klang weinerlich.

»Der Eintrag ist schon eine Woche alt, Chris. Vielleicht erinnerst du dich daran, dass ich dir vor ein paar Tagen sagte, dass ich heute mit Cindy ins Kino gehe?!« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »Und noch etwas. Sei bitte so nett und hänge den Dienstplan an die dafür vorgesehene Stelle im Büro. Gute Nacht!« Ohne einen entschuldigenden Kommentar seines Kollegen abzuwarten, betätigte Moritz die Trenntaste am Handgerät.

Zweifelsfrei wirkte diese schroffe Reaktion auf Chris unmissverständlich einschüchternd. Andererseits war es nicht seine Absicht den fünfundzwanzigjährigen Kollegen mit Samthandschuhen anzufassen. Die Arbeit vor Ort verlangte gestandene Männer. Bei dem vielen Elend, das sie zu Gesicht bekamen, gab es keine Möglichkeit feinfühlig zu reagieren. Insbesondere dann nicht, wenn das eigene Leben auf dem Spiel stand. Moritz fühlte sich verpflichtet, seinem Kollegen dabei behilflich zu sein, in diese Position hineinzuwachsen. Dazu gehörte sogar eine schroffe Reaktion, wie eben. Einen Dienstplan irrtümlicherweise falsch lesen, kommt vor. Bei einem Einsatzplan hingegen, kann ein derartiger Irrtum tödlich enden. Denn dabei handelt es sich oftmals um Leben oder Tod. Chris fehlte diese Erfahrung. Er war davon überzeugt, dass sein Arbeitskollege und Freund ihm nacheiferte.

Erst jetzt nahm Moritz den penetranten Geruch des verbrannten Kaffees bewusst wahr. Entsetzt sah er zur Glaskanne der Kaffeemaschine. Eine schwarze Kruste hatte sich in den gläsernen Krug eingebrannt. Ein bisschen verärgert rümpfte er die Nase. Dann zog er die Lamellen hoch. Gleich darauf öffnete Moritz das Fenster. Der schauderhafte Geruch ließ sich nur mühsam aus dem Eineinhalbzimmer-Apartment vertreiben. Er sah nochmals zum alten Wecker hinüber. Cindy kommt in einer Stunde, um ihn zum Kino abzuholen.

Gleich darauf läutete es an der Wohnungstür. »Verdammte Bande«, fluchte er leise vor sich hin. In den vergangenen Wochen hatten spielende Kinder ihn mehrmals aus dem Schlaf geklingelt. Immer, wenn er dann schlaftrunken die Tür öffnete, stellte er fest, dass es sich nur um einen Scherz handelte. Insgeheim erinnerte ihn das an seine eigenen Streiche. Oft genug hatte er damit die anderen genervt. Den Knirpsen dieses Übelnehmen war demnach nicht möglich. Andererseits haperte es bei ihm danach mit dem Einschlafen. Die augenblicklichen Probleme beschäftigten ihn immer wieder. Ich werde den Blagen diesmal eine Warnung hinterherrufen. Dann geben sie hoffentlich eine Zeit lang Ruhe, überlegte er.

Mit wuchtigen Sätzen sprang er zur Wohnungstür, riss diese auf, um den Kindern vom Hausflurfenster eine Mahnung zuzurufen.

Kaum das die Tür aufschlug, rannte er aus der Wohnung. Hierbei hätte er fast seine Freundin umgeschubst, die davor stand. Den Schwung, der ihn nach vorn schob, stoppte erst auf den Stufen der herabführenden Treppe.

»Cindy?«, fragte er überrascht. Sein Gesichtsausdruck wirkte wie eingefroren.

Diese sah ihn erstaunt an. »So einen stürmischen Empfang hatte ich lange nicht mehr«, schmunzelte sie. Um ihre Mundwinkel bildeten sich kleine, kaum wahrnehmbare Grübchen. Die freche Miene, unter dem kurzen schwarzen Haar, sah ihn herausfordernd fragend an.

Doch die Aufmerksamkeit von Moritz galt nicht seiner Freundin. Die dunklen, feurig fordernden Pupillen von Cindy, ließen ihn im Moment kalt. Er schaute mit halb geöffnetem Mund an ihr vorbei. Ohne etwas dagegen zu unternehmen, sah er hilflos mit an, wie die Wohnungstür mit zunehmender Geschwindigkeit ihre Stellung veränderte. Ein lautstarkes Knallen beendete den Vorgang.

Erschrocken sah Cindy sich um.

»Verflixt, das Fenster ist auf! Deswegen ist Durchzug.«

»Wenn ich dich so ansehe«, sprach sie zu ihm, »gehe ich davon aus, dass der Schlüssel in der Wohnung liegt.«

Erst jetzt kam ihm ins Bewusstsein, dass er nur mit einer Unterhose bekleidet im Treppenhaus stand. Er hatte sich nur etwas entspannt aufs Bett gelegt. Gleich darauf schlief er unbeschwert ein.

Schlagartig weiteten sich auf einmal aufgeregt Moritz’ Augen. Er vernahm das Geräusch vom sanften Abbremsen des Aufzuges. Gleich darauf öffnete sich die Tür vom Lift.

Die ältere Dame, die an den beiden vorbeiging, schien mit ihren Gedanken woanders zu sein. Reflexartig grüßte sie die stumm Dastehenden. Wie vom Schlag getroffen, blieb sie jedoch urplötzlich stehen. Ihr Kopf drehte sich etwas zu den beiden zurück. Dann erfasste ihr Augenpaar Moritz, wie er zwanghaft lächelnd in Unterhose dastand. Kopfschüttelnd, unverständlich leise vor sich hin schimpfend, betrat sie das Apartment, das neben dem von Moritz lag.

»Und nun?« Achselzuckend sah er seine Freundin an.

Cindy kramte etwas umständlich in ihrer Handtasche. Dann beruhigte sie ihn mit den Worten: »Mein Schatz, hast du vergessen, dass du mir deinen Zweitschlüssel gegeben hast?!« Sie vernahm förmlich sein erleichtertes Aufatmen, das man ihrer Meinung nach noch zwei Etagen tiefer hörte.

Wieder in der Wohnung stellte Moritz das Fenster in die Kipphaltung. »Ich freue mich schon auf den Film heute Abend. Danach essen wir eine Kleinigkeit bei Achilles.« Nachdem er keine Antwort erhielt, sah er sie direkt an. »Is’ was?«, hakte er mit misstrauischer Miene nach.

»Mutter ist seit gestern im Krankenhaus.«

»Davon hast du mir gar nichts erzählt«, entgegnete er ein wenig verärgert.

»Ach, du weißt doch, wie sie ist. Sie hat alle Krankheiten, die in den Frauenzeitschriften behandelt werden. Ihr Arzt hätte sie eingewiesen, sagte sie mir am Telefon. Zur Untersuchung. Und als ich Untersuchung hörte, da dachte ich, dass sie es diesmal auf die Spitze treibt. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass sie tatsächlich kränkelt. Zumindest irgendwas Ernsthaftes hat. Nachdem ich heute Nachmittag im Krankenhaus war, habe ich mit dem Arzt gesprochen …«, mit tränenerstickter Stimme brach sie ab.

»Was hat sie denn, mein Gott, erzähl doch«, forderte er sie barsch auf.

»Sie wussten es selber nicht genau.« Bei diesen Worten rannen ihr zwei kleine Tränen über die Wangen.

»Wissen es selber nicht genau«, wiederholte Moritz entrüstet. »Wenn die Ärzte das nicht wissen, wer sonst?«

»Sie warten einen weiteren Befund von der Untersuchung ab. Erst dann wären sie in der Lage eine detailliertere Auskunft zu geben«, flüsterte sie kaum hörbar.

»Und wann wird das ungefähr sein?«

»Heute Abend haben sie nähere Informationen, sagte mir der behandelnde Arzt.«

»Möglich wäre«, sprach Moritz mit gelassener Stimme, »dass man deiner Mutter klarmacht, dass sie kerngesund ist. – Oder wieder nur mal was Verdorbenes gegessen hat«, fügte er ein wenig spöttisch an.

»Du bist gemein. Mama liegt im Krankenhaus und du amüsierst dich darüber.«

»Stimmt gar nicht«, entgegnete er. Moritz versuchte sie zu beschwichtigen. »Wenn der Film zu Ende ist, verzichten wir auf den Restaurantbesuch. Dann fahren wir sofort in die Klinik. Einverstanden?«

»Bist du verrückt?! Glaubst du, ich gehe ins Kino, während Mutter möglicherweise leidend im Krankenhaus liegt.«

»Leidend«, wiederholte er lang gedehnt. »Du kennst doch ihre liebe für Krankheiten. Ich habe mir diesen Tag heute extra frei genommen, um mit dir auszugehen. Du weißt, wie schwierig das bei mir ist. Deine Mutter wird Verständnis dafür haben, wenn wir statt um sieben um zehn bei ihr sind.«

»Geh meinetwegen ins Kino. Ich fahre ins Krankenhaus.«

»Meinst du das wirklich Ernst, Cindy?«

»Ja, so ist es! Ich rausche ab.«, erwiderte sie wutentbrannt.

»Also, pass auf. Ich mach dir einen Vorschlag. Wir rufen jetzt in der Klinik an und fragen, wie es um ihre Gesundheit bestellt ist. Wenn die Ärzte keine Bedenken haben und sie morgen früh entlassen wird, fahren wir entweder nach dem Kino ins Krankenhaus oder aber«, er zuckte mit den Achseln, »gar nicht hin.«

»Hast du die Telefonnummer vom Klinikum? Sie liegt im Gertrauden

Moritz blätterte im Notizheft. Kurz darauf tippte er eine Nummer in den Tastenwahlblock vom Handapparat. Er wechselte einige Worte mit der Stimme am anderen Ende der Leitung. Die Vermittlung stellte ihn schließlich zum zuständigen Arzt durch.

Cindy sah ihn derweil gespannt an. Dann bemerkte sie, dass sich die Stirn ihres Freundes in Falten legte. Nervös knetete sie ihre Finger.

»Ja, ist mir bekannt. Am Telefon werden keine Auskünfte erteilt. Benötigen Sie die Rufnummer vom Polizeirevier? – Gut. Hm! …«, klang es nachdenklich aus Moritz’ Mund. »Ist es tatsächlich so tragisch … wissen Sie, wir hatten die Vermutung … ach so … heute Nacht beabsichtigen Sie zu operieren? … Mein Gott, hiermit rechnete keiner von uns … Sie hat die Absicht ihre Tochter auf jeden Fall zu sprechen, bevor sie operiert wird? … Selbstverständlich. Wir brechen sofort auf.« Gleich darauf sah er zu Cindy hinüber. Diese beobachtete ihren Freund mit einem sorgenvollen Flackern in den Augen. »Die bereiten schon alles für die OP vor. Allerdings sehen die Chancen nicht allzu rosig aus. Nur, ohne Operation wird sie vermutlich den morgigen Tag nicht erleben.«

Der Schock verhinderte, dass Cindy in Tränen ausbrach. Ihr ansonsten frecher Augenausdruck, mit dem sie ihr Gegenüber zu beobachten pflegte, gab es nicht mehr. Die kurzen schwarzen, seidigen Haare, hingen am Kopf herunter. Ihre Haltung wirkte schlaff und hilflos. Eher mutlos. Die Neunundzwanzigjährige hatte alle Mühe, nicht wie ein Schlosshund zu heulen.

»Komm, mein Schatz«, sprach er leise und einfühlsam. »Im Auto erzähle ich dir, was der Arzt gesagt hat.« Er zog seine dunkelbraune abgegriffene Lederjacke über das rote Baumwollhemd. Dann steckte er nachlässig die Papiere ein. Schließlich verließ er mit seiner Freundin das kleine Apartment.

Cindy sah ihren Freund fragend an. »Das war doch Amtsanmaßung, als du den Arzt fragtest, ob er die Rufnummer vom Polizeirevier benötigt.«

»Aber nein«, entgegnete Moritz schmunzelnd. »Ich hatte vor ihn zu bitten im Revier anzurufen und sich nach meinem Dienstplan zu erkundigen. Aus Zeitgründen war es mir nicht möglich, im Krankenhaus vorbeizufahren. Dann unterbrach er mich und fing an zu erzählen.«

»Weißt du, warum der Teufel seine Großmutter verprügelt hat?« Cindy sah ihn herb an.

»Du wirst es mir gleich sagen«, antwortete er trocken.

»Ihr fiel keine Ausrede mehr ein.«

Auf der Fahrt zur Klinik standen sie plötzlich in einer schier endlosen Reihe wartender Fahrzeuge. Wie ein übergroßer Parkplatz, der ihren letzten Rest an Geduld einforderte. Es dauerte einige Zeit, bis sie abbogen, um zügiger ans Ziel zu kommen. Letztendlich hatten sie es geschafft. Erleichtert stiegen beide mit einem »Puh!« aus dem Fahrzeug.

Cindy leitete ihren Freund durch die sterilen Flure des Krankenhauses. Der Weg Richtung Zimmer 312 war ihr bekannt.

Mehrmals wechselten sie den Gang. Dann kamen sie am Raum der Stationsaufsicht vorbei. Nebenan lag das Krankenzimmer, in dem ihre Mutter lag. Zaghaft klopfte Cindy an die Tür. Langsam drückte sie den Türgriff nach unten. Unverhofft schlug abrupt die Tür auf. Zwei Krankenschwestern bugsierten eilig ein Bett hinaus. An den kleinen Erhebungen der Bettdecke erkannten beide, dass ein Körper darunter lag. Die Decke verbarg den Kopf der darunterliegenden Person.

»Nein!« Cindy brach in ein stilles leises Schluchzen aus.

»Sind Sie die Verwandten?«, fragte ein Arzt, der ebenfalls das Zimmer verließ. »Ihre Mutter … Ich gehe davon aus, dass Sie die Tochter sind?« Die Äußerung klang eher nach einer Antwort, statt einer Frage. Nachdem Cindy kurz nickte, sprach der Mediziner weiter. »Die Operation hat ihren Körper derart geschwächt …«

Moritz fiel dem Arzt ins Wort. »Am Telefon sagten Sie mir, Sie warteten, bis meine Freundin mit ihrer Mutter gesprochen hat. Das war vor einer knappen Stunde. Und nun ist sie schon operiert. Das lief ja alles äußerst schnell ab!«

Irritiert erfasste der Mann in dem Arztkittel, Moritz’ empörtes Gesicht. Dann wendete er sich wieder Cindy zu. »Sie sind Frau Petrisch?«, hakte er kurz nach.

Der Antwort folgte ein leichter Augenaufschlag.

Der Arzt atmete einmal tief durch, bevor er weiter sprach. »Ihre Mutter liegt noch in 312. Ich nahm an, Sie gehörten zu der Verstorbenen, die bei Ihrer Mutter mit auf dem Zimmer lag. Entschuldigen Sie bitte. Aber derzeit ist es bei uns ein bisschen hektisch. Seit dem Personalabbau … Na ja, Sie kennen das«, unterbrach er sich selber. »Sie waren heute schon mal hier. Da haben Sie mit meinem Kollegen aus der ersten Schicht gesprochen?« Er bemerkte Cindys zustimmendes Nicken. »Davon einmal abgesehen«, sagte er mit besorgniserregender Stimme, »der Zustand Ihrer Mutter ist äußerst kritisch. Wie sie die letzten Wochen ohne ärztliche Hilfe ausgekommen ist, bleibt mir schleierhaft.« Zu Moritz gewandt ergänzte er. »Es ist nicht nur die Bauchspeicheldrüse.« Dann sah er wieder zu Cindy hinüber. »Es wird besser sein, Sie suchen erst einmal Ihre Mutter auf. Ich habe sie über ihren kritischen Gesundheitszustand aufgeklärt. Deshalb bestand sie darauf, unbedingt mit Ihnen zu sprechen. Im Augenblick zählt jede Minute. Gern hätte ich einen positiveren Befund gegeben.« Dann legte er seine Handfläche beruhigend auf ihre Schulter.

Leise vorwärts tastend betraten beide das Krankenzimmer, in dem ihre Mutter lag. Im ersten Moment sah man Moritz an, wie ihn das krankhafte Aussehen der Frau bestürzte. Er ließ sich jedoch nichts anmerken.

»Hallo, Mutter! Was machst du für Sachen, sag mal?« Cindy versuchte den besorgten Unterton, in ihrer Stimme, zu überspielen.

Die Angesprochene, mit dem lichten grauweißen Haar, schmunzelte leicht zurück. »Ich fühle mich doch schon seit Jahren geschwächt. Allerdings vermutete ich, dass es mit dem Darm zusammenhing. Meist haben die Schmerztabletten aus der Apotheke geholfen. Aber gestern war es so arg, da bin zu Dr. Strasser gegangen. Na, und der hat mich sofort eingewiesen.«

»Du hast dringend nach mir verlangt?«

»Ja, Maria. Danke, dass du so schnell reagiert hast.«

Cindy fand es immer ungewöhnlich, wenn ihre Mutter sie mit ihrem Vornamen ansprach. Benutzten ihre Freunde und Bekannten doch stets den Spitznamen.

Der leidenden Frau merkte man an, dass ihr das Sprechen schwerfiel. Aus einem Grunde, der sich weniger aus ihrer Krankheit ergab, sondern eher mit dem, was ihr auf der Seele lag. »Ich überlege, wie ich anfange, Maria.«

Cindy und Moritz saßen auf den bis ans Bett geschobenen Stühlen. Trotzdem konzentrierten beide sich auf ihre Worte, um alles zu verstehen.

»Bevor er mich ruft«, dabei deutete sie mit geweiteten Augen nach oben, »werde ich diese Last endlich von der Seele los.« Sie legte eine kurze Pause ein. »Wenn dein Vater noch leben würde, dann brauchte ich heute nicht diese Angst zu haben, dir mein Geheimnis zu beichten.«

»Du hast ein Geheimnis vor mir?«

Die alte Dame nickte. »Dein Vater starb, da warst du siebzehn. Wäre er etwas später gestorben, brauchte ich jetzt nicht solche Angst haben.«

»Wovor fürchtest du dich, Mutter?«

»Vor der Wahrheit, Maria. Vor der Lüge ist es nicht erforderlich, angsterfüllt zu zittern. Die biegt man sich hin, wie es einem gefällt. Aber die Wahrheit gilt es zu nehmen, wie sie ist. Und wahr ist … wahr ist, dass du nicht meine leibliche Tochter bist.«

Das Fallen einer Stecknadel käme in diesem Augenblick einem Kanonenschlag gleich.

»Dann war Vater weiterhin mit einer anderen Partnerin zusammen?« Cindys Stimme zitterte bei diesen Worten.

Mühsam, mit schmerzverzerrtem Gesicht, schüttelte die Kranke ihren im Kissen eingebetteten Kopf. »Nein. – Er war nicht dein leiblicher Vater. Wir haben dich adoptiert. Nun fragst du sicherlich, warum wir dir das nie erzählten. Schließlich ist es keine Schande ein Adoptivkind zu sein. Ist es selbstverständlich nicht. Wir hatten die Absicht, es dir mitzuteilen. An deinem achtzehnten Geburtstag. Aber Heinrich starb ein Jahr zuvor. Und allein hatte ich Angst. Eine fürchterliche Scheu, es dir zu sagen. Mir graute vor der Reaktion. Ich fürchtete, dass du vor lauter Ärger wegläufst …«

»Aber Mutter, warum nahmst du an, dass ich mich derart verhalte? Ihr ward immer lieb zu mir«, unterbrach sie die andere.

Wimmernd wälzte sie den Kopf im Kissen hin und her. Die Gefühle brachen plötzlich aus ihr heraus. Dicke Tränen rannen ihr aus den Augen. Schniefend hüstelte sie ein wenig. »Keine Ahnung, warum mir das in den Sinn kam. Ich vermutete es schlichtweg. Dann glaubte ich, wenn du älter bist, wirst du vernünftiger. Sicherlich habe ich damit gerechnet, dass du mit mir schimpfst. Zumindest hoffte ich darauf, dass du nicht mehr davonläufst. Und so verging ein Jahr nach dem anderen. Irgendwann befürchtete ich, dass du zornig reagierst, wenn ich dich im letzten Augenblick über deine Herkunft aufkläre. Und nun ist es spät, sehr spät. Läufst du jetzt weg, brauche ich nicht mehr so lange darunter zu leiden.«

Cindy bettete die faltenreiche Hand ihrer Stiefmutter in ihre ein. Minuten vergingen, ohne dass ein Wort fiel. Moritz erhob sich, schlenderte zum Fenster, um die grünroten Blätter der Bäume im Park zu beobachten.

»Natürlich laufe ich nicht weg«, unterbrach Cindy nach einer geraumen Weile die Stille. »Wie seid ihr auf mich gekommen?«

»Dein Vater hatte sich so gern ein Kind gewünscht. Er wollte unbedingt ein Mädchen. Aber einen Jungen hätte er genauso lieb gehabt. Dafür kannte ich ihn zu genau. Nachdem mir ein Arzt bescheinigte, dass ich keinen Nachwuchs bekommen kann, waren wir beide enttäuscht. Viele Jahre hatten wir uns damit abgefunden. Dann empfahlen uns Bekannte, ein Kind zu adoptieren. Dein Vater erkundigte sich nach den Voraussetzungen und wenige Tage später waren wir in dem nächstgelegenen Kinderheim. Dort sahen wir uns einige Sprösslinge an. Am liebsten hätten wir alle mitgenommen. Aber das war natürlich nicht möglich. Sie waren so herzallerliebst und spielten ausgelassen miteinander. Bis auf eines. Das stand, mit seiner kuscheligen Puppe, verlegen in einer Ecke des Raumes. Und für dieses verträumte Mädchen haben wir uns spontan entschieden. Die Kleine hieß Maria

»Meine leiblichen Eltern, kanntet ihr die?«

Die andere schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Wie bin ich in das Kinderheim gekommen? Starben Mutter und Vater oder …?«

Die Frau im Bett verstummte einige Sekunden, bevor sie weiter sprach. »Dein Adoptivvater und ich hatten das Gefühl, dass die Leiterin vom Waisenhaus, so nannte man das früher, uns etwas verschwieg. Sie war nett, teilte uns aber nur das mit, was für die Adoption notwendig war.«

»Und was war das?«, hakte Cindy nach.

»Du wurdest in Spanien geboren. Den Namen der Stadt habe ich vergessen. Dein spanischer Vater ist schon vor der Geburt untergetaucht. Deine leibliche Mutter hat dich allein bis zum dritten Lebensjahr großgezogen und ist dann in unsere Heimat zurückgekehrt. Nachdem sie kurz nach ihrer Rückkehr starb, kamst du ins Kinderheim.«

»Und mein Geburtsdatum, haben sie dir das genannt?«

»Natürlich. Das haben wir so übernommen, wie es uns mitgeteilt wurde. Ebenso den Vornamen, den sie uns nannten: Maria. Wir haben der Leiterin unsere ganzen Papiere, Genehmigungen, und was weiß ich alles, gegeben. Heinrich hat den Papierkram mit ihr erledigt. Ich habe mich um dich gekümmert. Du warst noch nicht lange im Kinderheim, deshalb suchten sie deine Sachen zusammen. Die ersten Augenblicke standest du verschüchtert neben uns. Das gab sich aber schnell. Im Auto glänzten die Augen bereits vor Freude und wahrscheinlich auch Neugier.«

»Und«, erkundigte sich Moritz, »habt ihr das Kinderheim später noch mal aufgesucht?«

»Besucht? Nein, warum?«, fragte sie. – »Hast du deine Kette nicht mehr? Die Goldkette mit dem eingravierten Namen.« Ihre Augen tasteten Cindys Hals mühevoll nach dem Schmuckstück ab.

Schlagartig fiel es Moritz wieder ein. Entschuldigend, mit zuckenden Achseln, sah er seine Freundin um Vergebung bittend an. »Cindy, verzeih mir. Ich habe es noch nicht geschafft, beim Juwelier vorbeizufahren.«

»Ist die Kette kaputt?«, fragte ihre Mutter.

»Nein«, erwiderte sie, »nichts Dramatisches. Sie ist mir nur ein bisschen zu klein. Moritz hat vor, weitere Kettenglieder einfügen zu lassen. Du weißt selber, wie traumhaft schön und zierlich die einzelnen Glieder aussehen. So was gehört in die Hände eines erfahrenen Goldschmieds.«

»Aber die Halskette ist von deiner leiblichen Mutter, Maria. Wir hatten nicht die Mittel, uns so was Teures zu leisten.«

»Hat sich mein spanischer Vater wenigstens mal nach mir erkundigt, weißt du das?«

»Erst überlässt er seine schwangere Frau sich allein und dann fragt er nach seinem Kind?«

»Es gibt immer Menschen, die ihre Handlungsweise später bereuen. Warum nicht auch er? Es ist doch möglich, dass er versucht hat mit meiner leiblichen Mutter oder mir Kontakt aufzunehmen? Wie hieß Mama überhaupt mit Nachnamen?«

»Ach, Kind …«, die Frau wälzte den Kopf im Kissen von eine auf die andere Seite. »Ich wusste, es gibt nur Ärger, wenn ich dir sage, dass du adoptiert wurdest. Mir ist der Familienname deiner Mama nicht bekannt.«

»Ich bin nur daran interessiert zu wissen, wo ich herkomme. Du, beispielsweise, kennst deine Herkunft. Oder Moritz. Er hat in seinem Leben unbequeme Zeiten durchgemacht. Aber er weiß zumindest, von wem er abstammt. Weshalb gönnst du mir dieses Wissen nicht? Meine Vergangenheit bleibt im Nebel. Mir liegt daran, diesen nebligen grauen Schleier zu lüften. Warum ist das so schlimm? Ich bin alt genug und habe gelernt einiges wegzustecken.«

Ihre Mutter schwieg. Moritz hatte den Eindruck, dass sie in den letzten Minuten um Jahre alterte. Ihre Augen glänzten wässrig, inhaltslos leer. Krampfhaft lächelnd sah sie zu ihm hinüber. Man merkte, dass sie alle aufzubringende Kraft für die nächsten Worte sammelte. Schließlich nickte sie Moritz zu: »Junge, du bist ein feiner Kerl. Nur dir ist es möglich, Maria davon abzuhalten, eine Dummheit zu begehen.«

»Was für eine Dummheit? Ich verstehe Cindy, wenn es ihr Wunsch ist, Licht in die Vergangenheit zu bringen. Jeder Mensch hat ein Recht zu erfahren, unter welchen Umständen er auf die Welt kam. Hierfür ist es wichtig, alles Mögliche zu unternehmen, um dies zufriedenstellend zu klären. Cindy wird es schon verkraften, wenn sie hört das ihre Mama, beispielsweise«, er zuckte mit Achseln, dabei überlegte er kurz, bevor er weiter sprach, »minderjährig war, als sie geboren wurde. Oder aber ihre Mutter war eine Prostituierte. Sie hat die nötige Reife mit dieser Erkenntnis zu leben.«

»Ach, Kinder«, stöhnte die gebrechliche Kranke in ihrem Bett. »Warum, glaubt ihr, wird auf dieser Welt so viel gelogen? Ich habe es euch vorhin schon einmal gesagt. Die Wahrheit ist, wie sie ist. Sie ist nicht veränderbar. Wir sind gezwungen sie hinzunehmen. Ob uns das gefällt oder nicht. Ist die Wahrheit angenehm, weil wir beim Glücksspiel gewonnen haben, fällt es uns leicht sich mit ihr anzufreunden. Schwierig wird es erst, wenn die Wirklichkeit nicht in unsere Vorstellung passt. Vielleicht hofften wir auf was ganz anderes, als dass, was da passierte. Ich habe mir ein Leben lang, mit meinen eingebildeten Krankheiten, selber was vorgemacht. Tatsächlich waren es alles Lügen, die ich mir so hingebogen habe, dass sie mir in den Kram passten. Ich ahnte, dass echte Erkenntnis Qualen bereitet. Nun spüre ich, dass das meine letzte Nacht hier auf Erden sein wird. Das, zum Beispiel, ist ebenfalls Wahrheit. Und die schmerzt, glaubt mir. Ich habe euch alles gesagt, was die Heimleiterin mir damals mitgeteilt hat.«

In Cindys Augen bildete sich ein wässriger Film.

»Ich werde keine Rede halten. Bedenkt, eure Zukunft ist beeinflussbar, indem ihr die Gegenwart gestaltet. Die Vergangenheit aber, die ist vorbei. Ein für alle Mal. Heinrich hat in solchen Fällen immer auf eine Lebensweisheit hingewiesen: Drei Dinge kann man nicht mehr ändern. Das gesagte Wort, den abgeschossenen Pfeil und die verpasste Gelegenheit. Moritz, nimm deine Freundin an die Hand. Schaut nach vorn und nicht zurück. Maria kam aus einem Kinderheim. Von dort gelangte sie in unsere Familie. Nicht mehr und nicht weniger. Sie ist ein überaus liebes Kind. Lass das im Nebel liegen, was im Nebel besser aufgehoben ist.« Bei diesen Worten sah sie ihre Adoptivtochter an.

Von allen unbemerkt, kam der Arzt ins Zimmer. Er sah auf seine Armbanduhr. »Bedaure, aber es ist dringend erforderlich, dass wir sie in den OP bringen.«

Dann kamen wieder die beiden Krankenschwestern, die das Bett aus dem Zimmer schoben. Cindy und Moritz, blieben sich selbst überlassen, im Raum zurück. Sie sahen sich schweigend an. Noch ehe sie die Worte wiederfanden, setzte urplötzlich ein hektisches Treiben auf dem Flur ein. Sie hörten hastig zugerufene Wortfetzen. Ein leises Scheppern, sowie Klappern, deutete auf gehetzte Beschäftigung hin.

Moritz merkte, wie Cindys Augen fragend auf ihm ruhten. Vorsichtig öffnete er die Tür vom Krankenzimmer. Sein Kopf neigte sich auf den Gang hinaus. Begierig versuchte er das Geschehen auf dem Flur zu verstehen. Nach einigen Augenblicken schloss er wieder die Tür. Er drehte sich nicht um. In diesem Moment war er nicht in der Lage auch nur eine einzige Silbe hervorzubringen. In seinem Kopf hämmerte es. Die Beine hingen wie Blei am Körper. Moritz lehnte sich stützend an den Türrahmen. Er hoffte, dass Cindy ihn nicht ansprach. Immer und immer wieder würgte er den massigen Kloß im Hals hinunter. Hoffentlich fragte sie ihn jetzt nichts. Er hatte nicht den Mut sich umzudrehen. Er vermied, dass sie ihn mit Tränen in den Augen sah.

Moritz hatte das Zeitgefühl verloren. Sein Blick fiel auf die Uhr, um festzustellen, wie lange sie bereits im Krankenzimmer standen. Schließlich atmete er einmal tief durch. Dann fasste er seine Freundin kräftig an die Hand. Gleich darauf verließen beide schweigend das Krankenhaus.

»Bleib heute Nacht bei mir«, bat Cindy ihren Freund. »Für mich ist es jetzt unmöglich allein zu sein.«

»Ich finde es gut, dass sie vor ihrem Tod die Gelegenheit nutzte, dir ihr Geheimnis zu beichten. Nun ist dir bekannt, dass du nicht ihre leibliche Tochter bist. Stell dir vor, das wäre beim Durchsehen der Papiere herausgekommen.«

»Findest du das korrekt, dass sie mir das lange Zeit verheimlicht hat? Erst an ihrem Sterbebett erfuhr ich davon.«

»Allen wäre geholfen, wenn sie es dir früher mitgeteilt hätte. Sie hat es zwar nicht boshaft gemeint, aber sie hat in diesem Fall zu sehr an sich gedacht. Daran, dass du möglicherweise von ihr weggehst.«

»Gut, dass du das so siehst wie ich, Moritz.«

»Was meinst du damit?«

»Ich habe ebenfalls keine zornigen Gedanken, wenn ich in diesem Fall nur an mich denke. Ich beabsichtige, nächste Woche Urlaub zu nehmen. Morgen rufe ich Bernd an. Da man Arbeitgeber sonntags nicht stört, frage ich ihn als Freundin von seinem besten Freund. Du hast doch nichts dagegen?«

»Lass den Quatsch, Cindy.«

»Ich fahre Montag oder Dienstag zum Dachsbau. Kommst du mit?«

»Wer hat dir verraten, dass es ausgerechnet dieses Kinderheim ist? Die hatten die Möglichkeit, dich genauso gut von woanders zu holen.«

»Erzähle bloß niemanden, dass du Kriminalbeamter bist! Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie Mutter sagte, dass sie mit Vater zum nächstgelegenen Kinderheim fuhr? Sie hatten nicht die Geduld abzuwarten. Unbedingt ein Kind adoptieren, das war ihr Wunsch. Und das nächstgelegene Heim ist der Dachsbau

Moritz schwieg.

»Also, kommst du mit?«, fragte sie ihn gleichmütig. »Ich will den Schleier, der über meine Vergangenheit hängt, lüften.«

»Warte doch wenigstens die Beerdigung ab. Du bist derzeit zu gefühlsbestimmt.«

»Die Verzögerungstaktik greift bei mir nicht.«

»Mal ehrlich, Cindy, was versprichst du dir davon? Du erfährst eventuell, dass deine leibliche Mutter eine Geistesgestörte war. Was dann?«

»Ein Grund mehr nachzuhaken. Schließlich beabsichtige ich, mal Kinder zu haben. Was erzähle ich denen, wenn sie mich fragen, wo ich geboren wurde und wer meine Eltern sind? Entgegne ich ihnen, dass ich das nicht weiß? Zumindest habe ich die Absicht dann zu erklären, dass ich alles unternommen habe es herauszubekommen. Aber ich bin zuversichtlich, dass ich im Dachsbau die Informationen bekomme, die ich suche.«

Er hasste es, wenn sie das Dickköpfige hervorkehrte.

»Außerdem«, fuhr Cindy fort, »hast du gegenüber Mutter im Krankenhaus für mich Partei ergriffen, so dass ich deine Zurückhaltung jetzt nicht verstehe.«

»Ich verhindere nur, dass Tatsachen ans Licht kommen, die dich belasten, die dir aber nicht weiterhelfen.«

»Was glaubst du, Kocke, wie mich das belastet eine Vergangenheit zu haben, die im Nebel liegt.«

Moritz kannte das. Sie von einem einmal getroffenen Vorhaben abzubringen, klappte bei ihr fast nie. Jedes Mal, wenn sie ihn bei seinem Kosenamen nannte, bestand sie grauenhaft energisch auf ihre Meinung.

Wenige Minuten später bog er in die Taubertstraße ein. Er hielt vor dem viergeschossigen Mietshaus mit der Nummer sechzehn. Hier hatte Cindy im Erdgeschoß eine Zweizimmer-Altbauwohnung.

Moritz sah seine, um eine Handbreit kleinere Freundin, schmunzelnd an. »Hast du noch die Flasche Chianti, die ich dir neulich mitgebracht habe?« Nachdem sie nickte, sprach er weiter. »Die leeren wir heute. Ich glaube, das haben wir uns beide verdient.« Er stellte den Motor ab. Dann küsste er sie zärtlich auf die Wange, ohne ihre feurig fordernden Pupillen nur eine einzige Sekunde aus den Augen zu lassen.

Bis der Nebel sich lichtet

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