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Besuch bei Bernd

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Die Bäume, vor dem Mietshaus Taubertstraße 16, verhinderten, dass das wärmende Sonnenlicht in die Wohnung im Erdgeschoß drang. Moritz hatte ebenfalls die letzte Nacht bei seiner Freundin verbracht. Etwas quälte ihn an diesem Montagmorgen. Er kannte die Ursache hierfür aber nicht. Anscheinend hatte der Tod von Cindys Adoptivmutter ihn äußerst mitgenommen.

Kurze Zeit später verließ er die Wohnung seiner Freundin. Er fuhr das Fahrzeug ein wenig umständlich aus der Parklücke. Dann schlug er die Richtung zum Polizeirevier ein. Der kleine karminrote Mittelklasse-Wagen, bog bald darauf auf den Parkplatz vom Polizei-Abschnitt 25 ein. Mal wieder war, im Grunde wie immer, keine Parklücke auszumachen. Die geringe Anzahl der Stellflächen verhinderte dies. Das Geld für eine Erweiterung fehlte. Wie vieles, das aus Geldmangel im Polizeirevier nicht angeschafft wurde.

Suchend hüpften seine Pupillen fieberhaft von einer Karosserie zur nächsten. Immer noch in der Hoffnung, eine schmale Stellfläche für das Gefährt zu ergattern. Da! Freudig bemerkte er eine Lücke in der blechernen Perlenkette. Im gleichen Augenblick schimpfte er jedoch über sich selber. Der Parkplatz vom Abschnittsleiter. Unmöglich dort den Wagen zu parken! Die Stirn legte sich in Falten. Der ist doch in Urlaub, überlegte er. Und in seiner Abwesenheit war es nicht erlaubt diese Parkbucht zu benutzen. Typisch. Es sei denn … Es sei denn, der Leiter Fünfundzwanzig, wie ihn die Mitarbeiter nannten, hatte es diesmal jemandem genehmigt, dort zu parken. Wer war in der Lage eine derartige Erlaubnis zu prüfen? Ihm fiel niemand ein.

Gleich darauf schoss das Fahrzeug in die freie Parklücke. Moritz wendete den Kopf nach allen Seiten. Nein, von den Diensträumen aus war sein Wagen nicht zu sehen. Mit eiligen Schritten begab er sich in sein Büro, in der zweiten Etage.

»Hallo, Theo.« Moritz hob kurz die rechte Hand zum Zeichen des Grußes.

Der Angesprochene erwiderte die Begrüßung beiläufig, ohne die Augen vom Schreibtisch zu heben. Kriminalhauptkommissar Theo Hansen stand kurz vor der Pensionierung. Das Arbeitsverhältnis empfand der eine wie der andere sachlich, trocken, sowie hilfsbereit. Zwischen beiden Männern lag eine Generation. Ein enormer Abstand. Die Methoden bei den Ermittlungsarbeiten waren zwangsläufig unterschiedlich. Hinzu kam, dass der Neunundfünfzigjährige die letzten fünfzehn Jahre nur im Innendienst zubrachte. Streitigkeiten, über die jeweilige Arbeitsweise des anderen, trugen sie früher in aller Heftigkeit aus. Heute akzeptierten sich die Männer. Nicht mehr, nicht weniger.

»Ist Chris noch nicht da, Theo?«

»Der holt sich gerade eine Portion Pommes.«

Moritz sah flüchtig auf seine Armbanduhr. Dann schüttelte er sich deutlich. »Der Junge hat eine Ernährungsweise.«

Mit einem leichten Quietschen öffnete sich die Bürotür. Ein weiterer Mitarbeiter des Morddezernats betrat den Raum.

»Hallo, Kocke.«

»Hallo, Rüdiger«, klang es gleichzeitig wie aus einem Munde.

Dann herrschte minutenlanges Schweigen. Jeder der Anwesenden blätterte scheinbar überaus interessiert in seiner Tageszeitung.

Wieder hallte das leise Quietschen der Bürotür durch den Raum. Da jeder im Büro annahm, das Chris mit seiner morgendlichen Portion Pommes frites hereinkam, machte sich niemand die Mühe aufzuschauen.

Es herrschte absolute Ruhe im Raum. Da jedoch nach dem leisen Quietschen, keine weiteren Geräusche ertönten, sah einer nach dem anderen, über den Rand seiner Zeitung, in Richtung Tür.

»Ich hoffe, ich störe nicht, meine Herren?« Die mit scharfem Unterton gesprochenen Worte, stammten aus dem Munde des Ersten Kriminalhauptkommissars.

Zügig, aber nicht überaus eilig falteten alle ihre Zeitung zusammen. Diese verschwanden sofort darauf, eine nach der anderen, in den Schubladen des jeweiligen Schreibtisches.

Dann bewegte sich der Erste Kriminalhauptkommissar, Horst Richter, mit gezielt langsamen Schritten, sowie auf den Rücken zusammengefalteten Händen, auf Theo Hansen zu. »Gratuliere zur Lösung des letzten Falles«, sprach er gleich darauf zu dem vor ihm Sitzenden.

Moritz kannte seinen Dienstherrn genau. Den folgenden Verlauf des Gesprächs vorherzusagen, war auch für seine Kollegen nicht schwierig. Der zuerst Angesprochene hatte kaum etwas zu befürchten. Den Mitarbeiter, auf den es sein Vorgesetzter abgesehen hatte, kam immer zum Schluss dran.

Dann wandte sich der Erste Kriminalhauptkommissar, mit einer ebenso belanglosen Gratulation, an Rüdiger Bachmann. Gleich darauf schritt er auf Moritz zu.

Ich also, überlegte er. Na, mal sehen, was er vorhat.

»Herr Wolff, leider gibt es keine Möglichkeit mich ebenfalls bei Ihnen für Ihren Einsatz zu bedanken. Warum ist das so, was meinen Sie? Arbeiten sie nicht konzentriert genug? Werden Sie am Arbeitsplatz abgelenkt oder lenken Sie sich gar selber ab? Wie ist Ihre Meinung hierzu?« Bei diesen Worten bohrten sich die Pupillen des Vorgesetzten durch das dicke Glas seiner Brille.

»Sie werden es mir gleich sagen, Herr Richter.« Moritz wurmte es jedes Mal, wenn der Andere auf diese Art anfing, ein Gespräch einzuleiten. Für ihn stand unmissverständlich fest: Bestimmt war etwas Schwerwiegendes vorgefallen. Sein Dienstherr erschien nur zu Arbeitsbeginn im Büro, wenn es hierfür einen gravierenden Grund gab.

Horst Richter stand noch immer, mit verschränkten Händen auf dem Rücken, vor Moritz. Hierbei sah er dem vor ihm Sitzenden, mit in Falten gelegter Stirn, sowie zusammengekniffenen Augen, mitleidig lächelnd an. Die, seiner Meinung nach freche Art und Weise, mit der ihm sein Mitarbeiter antwortete, gehörte sich nicht, fand er. »Herr Wolff«, bei diesen Worten lösten sich seine Hände vom Rücken, »nach meinem Dafürhalten sind Sie im Dezernat nicht voll ausgelastet …«

»Liegt es an der Aufklärungsquote? Ist die nicht hoch genug?«, unterbrach er seinen Vorgesetzten mürrisch. Jeder im Raum kannte die Ermittlungsergebnisse der einzelnen Mitarbeiter. Moritz hatte seit Monaten die beste Quote aufzuweisen. Seinem Dienstherrn konnte das nicht entgangen sein.

»Nun, die einen haben schwierige Fälle zu bearbeiten und andere haben eben etwas mehr Glück. Die übernehmen die weniger komplizierten Aufgaben. – Kommen wir zur Sache«, fuhr er nach einer kurzen Pause schroff fort. »Wenn ich Sie frage, ob Sie nicht ausgelastet sind, habe ich einen Grund für meine Annahme.«

Moritz wiegte verständnisvoll den Kopf erst vor, dann zurück. »Der würde mich interessieren.«

Hieraufhin zog sein Vorgesetzter ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der Jackentasche. Ein kurzes Zurechtrücken der Brille, dann las er mit poetischer Ausdrucksweise vom Blatt ab:

»Es weht ein warmer Wind

in der kalten Stadt.

Es fährt ein stilles Kind

mit dem lauten Rad.

Es ist ein Guter blind

auf dem grauen Pfad.«

Verheißungsvoll bewegend, soeben das Ende der Welt verkündet zu haben, sah er hieraufhin zu Moritz hinunter. Der saß stillschweigend vor ihm. »Wissen Sie, wie ich an dieses Blatt Papier gekommen bin? Ich sag’s Ihnen. Sie haben es auf dem Kopierer liegen gelassen.«

Moritz erinnerte sich. Schmerzhaft schoss es ihm jetzt durch den Kopf. Insgeheim über sich selbst ärgernd, bereute er es, nicht besser aufgepasst zu haben. Zu Hause durchwühlte er sämtliche Schubladen nach dem Original. Und dann ließ er es hier auf dem Kopierer liegen. Gefunden hatte es garantiert seine Vorzimmerhexe, die einen umfangreichen Teil ihrer Arbeitszeit am Kopiergerät verbrachte. Vermutlich gab es für diesen Fund ein Extra-Lob vom Chef.

»Zukünftig werden Sie die Gedichte Ihrer Freundin oder Lebensgefährtin hier nicht mehr kopieren. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt, Herr Wolff. Im Übrigen gilt das natürlich für alle anderen Kollegen hier im Raum ebenso.« Bei diesen Worten ließ er seine Augen durch das Büro schweifen.

Moritz stellte sich ahnungslos, obwohl es für ihn ohne Vorwarnung kam. Der kommt gar nicht auf die Idee, dass die Dichtkunst von ihm ist, die er da vorlas. Umso besser, dann brauchte er sich nicht den spöttischen Kommentaren der Kollegen aussetzen.

Kurz bevor sein Vorgesetzter den Raum verließ, drehte er sich noch mal um. »Bald hätte ich es vergessen«, sprach er ein wenig amüsiert. »Es gibt weiterhin was Dichterisches. Ein Elfchen nennt es ihre Freundin.« Seine Augen tasteten das Papier in der Hand ab, bevor er die Worte vorlas.

»Urknall

unnahbare Ewigkeit

unzählige Sterne, Sternenhaufen

unser Weltenkrümmel Erde lebt

Unbegreiflich«

Sekundenlanges Schweigen. Schließlich reißt er ungestüm gestikulierend die Hände nach oben. Hierbei lachte er verärgert. »Unnahbare Ewigkeit … Unnahbare Ewigkeit. Was für Worte!« Gleichzeitig verließ er mit langgestreckten Schritten das Büro. Sekunden später knallte die Tür ins Schloss.

Die anderen im Raum sahen achselzuckend zu Moritz hinüber.

Da öffnete sich die Tür ein weiteres Mal. Kommissar-Anwärter Christian Borck betrat kauend, mit einer Tüte Pommes frites in der Hand, das Zimmer. »Mein Gott, was habt ihr denn mit dem Alten gemacht? So habe ich den, um diese Uhrzeit, noch nie den Gang entlanglaufen sehen.« Da niemand auf die Frage antwortete, setzte er sich, ein wenig verständnislos, an den Schreibtisch, der direkt gegenüber von Moritz seinem stand.

Mit leicht verzogenem Mundwinkel sah dieser den Kameraden an. Er bildete mit Christian Borck ein Ermittler-Team. Beide zusammen, der fünfundzwanzigjährige Chris, sowie er, hatten manches Problem gemeinsam gelöst. Hierbei unterstützten sie sich gegenseitig. Aufrichtigkeit, wie auch Zuverlässigkeit, damit konnten beide punkten. Zwar wirkte Chris, wie Moritz es nannte, immer ein wenig trottelig, aber das täuschte. Christian Borck hatte bei Lehrgängen, sowie Schulbesuchen erstklassige Noten aufzuweisen. Moritz überragte Chris etwas an Körpergröße. Das halblang gewellte braune Haar stand dem jungen Kommissar-Anwärter. Ausschließlich die grünen Pupillen reizten manchen Kollegen, über deren Farbe zu witzeln. Bei bestimmten Treffen hatte immer einer eine spaßige Bemerkung zu seiner Augenfarbe parat.

Die Hand von Theo Hansen griff zum Telefonhörer. Urplötzlich schlug die Bürotür auf. Der Körper vom Ersten Kriminalhauptkommissar versperrte den Durchgang im Türrahmen. Horst Richter rief zu Moritz hinüber: »Ich schaue auf die Uhr, Herr Wolff. In fünf Minuten ist Ihr Fahrzeug vom Chef-Parkplatz verschwunden! In fünf Minuten, hören Sie?!« Gleich darauf fiel die Tür ein weiteres Mal lautstark ins Schloss.

Das mechanische Nicken des Angesprochenen bekam Horst Richter gar nicht mehr mit. Die Gedanken von Moritz beschäftigten sich augenblicklich mit etwas anderem. Fehlten da womöglich weitere Blätter mit Gedichten? Lagen diese etwa an irgendeiner Stelle im Dienstzimmer, überlegte er fieberhaft? Es war ebenso möglich, dass sie bereits Bernd hatte, sein bester Freund, der Literatur-Agent. Er sah auf die Uhr. Nein, anrufen wollte er ihn nicht. Cindy war in dieser Woche nicht im Büro. Somit hatte sein Kumpel jetzt deutlich mehr um die Ohren. Ihn dennoch mit einem Telefongespräch zu nerven, traute er sich nicht. Trotzdem, schoss es Moritz durch Kopf, hatte Bernd alle aktuellen Gedichte von ihm? Es ließ ihm keine Ruhe.

»Du, Chris, ich muss unbedingt zu meinem Freund fahren. Wenn der Alte nach mir fragt, sagst du ihm, ich ermittle im Anger-Viertel. Falls er auf die Idee kommt mich vor Ort aufzusuchen. Der ist heute ja zu allem fähig. Und ins Anger-Viertel traut er sich nicht. Mit seiner Aufmachung, diesem Designer-Anzug, hat er da schlechte Karten, das weiß er. Alles klar?«

Christian Borck schlang die letzten Pommes genüsslich hinunter. Gleich darauf warf er die leere Pappschachtel in den Papierkorb. »Logisch, Kocke. Wie lange brauchst du?«

»Keine Ahnung. Sollte was sein, dann komm über’s Handy.«

Moritz zog die Schreibtisch-Schublade heraus, um den Notizblock hineinzulegen. Da bemerkte er die hellgrau kartonierte Schachtel, in der Cindys verpackte Kette lag. Verflixt, überlegte er, ich muss mich noch nach einem Goldschmied erkundigen, der die Halskette erweitert. Er öffnete nachdenklich die kleine Pappschachtel. Dann besah er sich die darin aufbewahrte Goldkette. Seine Hände tasteten das kalte Metall ab. Die einzelnen Glieder wechselten sich in Kontur sowie Beschaffenheit ab. Mal gab es massige, mal feinere Kettenglieder. In der Kettenmitte hing ein sorgsam geformtes Plättchen, mit drei kleinen unsymmetrisch angebrachten Diamanten, die den eingravierten Namen Maria umgaben. Die gelblich glänzende Kette entzückte ihn. Zeitlos schlicht konnte sie durchaus, mit einer anderen eingeschliffenen Bezeichnung, ebenso von einer männlichen Person getragen werden. Oft überlegte er, für sich ein Duplikat anfertigen zu lassen. Es scheiterte aber immer, bei seinen Überlegungen, an der Höhe der vermuteten Kosten. Deshalb schob er die Schublade wieder seufzend zu. Gleich darauf verließ er das Büro.

Wenig später fuhr er auf dem Stadtring in südlicher Richtung. Um rechtzeitig bei Bernd anzukommen, drückte er das Gaspedal etwas tiefer durch.

Das gläserne Bürogebäude, in dem sein Freund die Literatur-Agentur betrieb, wirkte ehrerbietig auf Moritz. Überraschenderweise ergatterte er direkt vor dem Gebäudekomplex einen Parkplatz. Somit brauchte er nicht in der Tiefgarage ewige Zeiten mit dem Wagen durch die engen Gänge fahren, um einen freien Platz zu finden. In der Empfangshalle betrat er den ankommenden Aufzug. Eine knappe Minute später spuckte ihn dieser im fünfzehnten Stockwerk wieder aus. Ein schmaler Flur, zwei Ecken, nach kurzem Läuten öffnete sich eine Tür.

»Du hast mir heute gerade noch gefehlt, Kocke.« Bernd Meitoschat empfing seinen Freund mit einem leichten Klaps auf der Schulter. »Cindy hat sich diese Woche frei genommen. Na ja, du weißt, wegen ihrer Mutter. Da brennt es hier soundso schon an allen Ecken und Kanten. Wetten, dass ich das nicht lange durchhalte?«

»Oh, komm«, stöhnte Moritz, »versuch mal, ohne das Wort Wetten auszukommen.«

Bernd Meitoschat forderte, mit einer kurzen Handbewegung, seinen Freund auf Platz zu nehmen. Der sechsunddreißigjährige Literatur-Agent, mit dem dunkelblonden Haar, sowie dem unverkennbaren Bauchansatz, zwang sich in den viel zu kleinen Sessel hinter dem Schreibtisch. Sein Hemd über dem Bauch spannte sich hierbei angsteinflößend. Moritz befürchtete, dass die Knöpfe jeden Augenblick wie Geschosse in alle Richtungen durch das Zimmer sausen könnten.

»Was ist, Kocke, hast du keine Manuskripte dabei?«

»Deswegen bin ich ja hier. Einige hatte ich dir zur Durchsicht geschickt. Ein paar andere liegen bei mir noch zu Hause herum. Und zwei Originale hat der Kadi vorhin im Büro vor versammelter Mannschaft vorgelesen.« Moritz erzählte ihm von dem Vorfall, der sich heute Morgen ereignete.

»Mit Kadi meinst du den Richter, deinen Chef?«

»Weißt du doch, Bernd. Der Ausdruck ist unverfänglicher als sein richtiger Name. Und der Kadi ist schließlich ein Richter in islamischen Ländern, also …«

»Mir wäre es lieber, wenn du deine Manuskripte nicht auf Raten einreichst. Du bekommst von mir eine Aufstellung von den Ausarbeitungen, die schon vorhanden sind.« Bei diesen Worten räkelte sich Bernd Meitoschat genüsslich in seinem kleinen Sessel. Die Hände verschränkte er hinter dem Kopf.

Moritz hoffte nur, dass die Knöpfe an dem Hemd wenigstens solange halten, bis er das Büro wieder verließ. »Hast du nicht mal was von einer Diät erzählt?«, fragte er nachdenklich.

Bernd Meitoschat sah seinen Freund mit besorgter Miene an. Dann klatschte er die Hände wohltuend auf den Bauch. »Mücken-Allergie«, sprach er.

»Du hast eine Mücken-Allergie?«, staunte Moritz. »Davon hast du mir nie etwas erzählt.«

»Vor Jahren hat mich mal eine Mücke in den Bauch gestochen. Die Schwellung ist bis heute nicht zurückgegangen.«

Moritz verzog die Mundwinkel, schwieg aber.

Der Literatur-Agent beugte sich wieder nach vorn. »Ich hätte dich im Laufe des Tages angerufen. Wir müssen unbedingt miteinander sprechen …«

»Wegen der Gedichte? Hast du endlich einen Verleger gefunden?« Die Augen von Moritz glänzten vor Erregung.

Bernd kniff die Lippen zusammen, wiegte den Kopf kaum merklich hin und her. »Nein, das ist es nicht.« Man merkte ihm an, wie schwer es ihm fiel, die wahren Worte zu finden. »Mensch, Kocke, wir haben doch bereits tausend Mal darüber gesprochen. Was meinst du, wie viel Leute heute Dichten und beabsichtigen ihre Geistesblitze zu veröffentlichen? Die Verlage werden täglich mit solchen Sachen überschüttet. Wer in den Verlagshäusern hat die Möglichkeit sich das alles durchzulesen, was da auf den Tisch kommt?«

»In Ordnung, in Ordnung«, unterbrach Moritz ihn. »Das habe ich verstanden. Aber schließlich laufen meine Manuskripte über dich. Du kennst die Kniffe und Tricks, damit sich die Lektoren die Skripts ansehen. Außerdem hast du nützliche Beziehungen.«

Bernd Meitoschat stöhnte laut. »Glaubst du ernsthaft, dass jemand von denen ein Buch veröffentlicht, nur weil ich denjenigen näher kenne? Unabhängig von den Verkaufsaussichten? Mach dir doch nichts vor, Kocke. So klappt das nicht. Vielleicht hast du Glück. Möglicherweise hast du wirklich irgendwann einmal Dusel. Selbst, wenn du mich noch so mit deinen poetischen Werken zuschüttest, die Erfolgsaussichten werden dadurch nicht besser. Es tut mir leid, wenn ich dir das mal wieder so klar ins Gedächtnis zurückrufe. Aber manchmal ist das bei dir nötig.«

»Ich bleibe bei meiner Meinung«, sprach Moritz fest entschlossen. »Hast du es denn bereits mal ernsthaft probiert?«

Laut stöhnend, dabei die Augen verdrehend, kam die genervte Antwort. »Wetten, dass …«

»Ohne Wetten, Bernd.«

»Ich hatte die Absicht, mit dir über was anderes zu sprechen.« Die Augen des sechsunddreißigjährigen Literatur-Agenten taktierten Moritz vorsichtig. »Du erinnerst dich, wie du hier vor zehn Jahren, kurz nach meiner Büro-Eröffnung, hereinspaziert kamst und mir deine Gedichte angeboten hast? – Prima! – Du erinnerst dich hoffentlich ebenso daran, dass ich dir empfahl, den Schwerpunkt der Schreiberei auf ein neues Gebiet der Literatur zu lenken? – Gut! – doch du warst bockig. Schreiben über was anderes, kommt für dich nicht in Frage, hast du gesagt.«

»Stimmt! Ich genieße zwar das Romantische im Gedicht, aber deswegen bin ich noch lange kein Autor für Liebesromane oder Ähnlichem.«

»Hast du es denn schon mal probiert?«

»Ich interessiere mich nicht dafür, Bernd. Mir ist nicht möglich etwas zu Papier zu bringen, wofür ich kein Interesse aufbringe.«

»Richtig! Aber es hat auch niemand von dir verlangt, Liebesromane zu schreiben, oder?!«

»Auf was läuft das Gespräch hinaus?«

»Hast du es schon mal mit Krimis probiert? Schließlich sitzt du an der Quelle. Du bist der geeignete Kandidat hierfür. Während deine Krimi-Kollegen ausgiebig recherchieren, flutscht es dir nur so aus der Feder heraus.«

»Bist du etwa der Meinung, was da täglich über die Leinwand und den Bildschirm flimmert, hat auch nur im Entferntesten was mit normaler Polizeiarbeit zu tun?« Moritz sah ihn fragend an. »Wenn du wüsstest, wie nervtötend mir diese Routinearbeit manchmal vorkommt.«

»Aber einen Kurzkrimi hast du damals geschrieben. Erinnerst du dich?«

»Natürlich habe ich das noch in Erinnerung. Du hast mich deswegen lange genug bedrängt. Und was ist damit passiert? Hast du ihn verkauft?«

»Nein, leider. Aber das ist kein Qualitätsurteil. Auf diesem Gebiet ist der Markt ebenfalls überlaufen. Viele Verlage arbeiten mit Haus-Autoren. Da hat man kaum eine Chance, selbst wenn du ausgezeichnete Ware ablieferst. Zumindest dauert es ziemlich lange, bis es da zum Erfolg kommt. Ich beabsichtige nicht, dich vollends zu entmutigen.«

»Plantest du, mich deswegen anzurufen?«

»Ja und nein. Ich bin der Meinung, wenn du in deiner Materie bleibst, wäre das eine vortreffliche Sache. Also, die Kenntnisse aus dem polizeilichen Alltag leserhaft aufarbeiten.«

»Was heißt das übersetzt?«

»Na ja, eben der täglichen Routine den nötigen Kick zu geben, damit das Ganze mitreißend wirkt. Das Motiv einer Straftat fesselnd darstellen. Die Story professionell aufbauen: Prämisse, Hauptfigur, Konflikt. All der Kram, über den wir damals gesprochen haben.« Bernd Meitoschat bekräftigte seine Worte mit entsprechenden Handbewegungen.

»Das Ja hast du erklärt. Und nun das Nein

»Nein, weil ich dir nicht nur das Aufschreiben von Kurzkrimis ans Herz lege, sondern etwas anderes.«

»Und das wäre?«

»Verfasse ein Drehbuch!«

Sekundenlanges Schweigen.

»Wie bitte? Wiederhole das noch mal.«

»Na, ein Drehbuch schreiben. Keine Angst, das bekommst du hin.«

»Mensch Bernd, das wäre absolutes Neuland für mich. Ich habe so ein Textbuch noch nicht einmal in den Händen gehalten.«

»Immer langsam mit den jungen Pferden, mein Lieber. Eine klassische Drehbuch-Schule, wie du sie dir möglicherweise vorstellst, die gibt es nicht. Na ja, das Drehbuchschreiben ist oft nur Teil einer anderen Ausbildung. Die meisten Drehbuchautoren sind Autodidakten. Oder hast du für dein Gedichteschreiben Philosophie studiert? – Na, siehst du! Das Handwerkszeug dazu findest du im Internet. Da gibt es kostenfreie Programme, für das Drehbuchschreiben. Ein bisschen Training und Fleiß und dann bekommst du das auf die Reihe. Da bin ich mir sicher. Du benötigst zum Schreiben Kenntnisse, um Dialoge zu formulieren. Das weiß ich, dass du das beherrschst. Eine Szene, ein Blatt, eine Minute. Der Plot innerhalb der ersten zehn Minuten. Und wie beim Krimischreiben ebenfalls, die Story kurz vor dem Ende kippen. Das ganze gegen den Strich dramatisieren. Du siehst, das Wichtigste habe ich dir in wenigen Sätzen erklärt.«

»Bis wann brauchst du das erste Drehbuch? Reicht morgen früh?«

Bernd Meitoschat schmunzelte. Hierbei wurden seine Hemdknöpfe wieder einer gefährlichen Belastungsprobe unterzogen. »Natürlich hat das ebenso was mit Sachverstand und Talent zu tun. Ist doch klar, oder?! Aber du hast das drauf, Kocke. Dein Problem ist, erst mal den Anfang zu finden.«

»Wenn das so problemlos ist, warum schließt du nicht das Büro und wirst Drehbuchautor? Ist scheinbar alles mühelos.«

»Auf Dauer wäre das nichts für mich.« Dann wiegte er den Kopf leicht zur Seite. »Obwohl, ein bisschen Spaß war an der Sache schon dran. Aber bei dem einen Skript soll’s erst mal bleiben …«

»Was hast du?«, unterbrach ihn Moritz.

»Ich habe aus deinem Kurzkrimi ein Drehbuch erstellt und das an Canal Doppel-Plus geschickt …«

»Das Manuskript, das ich dir seinerzeit gegeben habe?« Moritz sah ihn überrascht an. – »Aus diesem Krimi hast du ein Drehbuch zusammengeschustert? Umgewandelt oder wie immer man so was nennt. Das habe ich damals nur aus Spaß geschrieben, um dir einen Gefallen zu erfüllen. Ich hatte die Absicht dich wegen meiner Gedichte bei Laune halten.«

»Aus deinem Spaß-Manuskript habe ich ein Drehbuch erarbeitet. Natürlich im Auftrag eines Autors habe ich denen gesagt. Die fanden das fesselnd. Eine einzelne Geschichte allerdings war für die nicht akzeptabel. Das Ganze hätte nur als Serie eine Chance. Fünfzig Stories im Jahr, zu je fünfundvierzig Minuten. Idealerweise parallel mit einer gleichzeitig gestarteten Buchausgabe. Nachdem ich zugesagt hatte, entschlossen sie sich das Projekt in einer der nächsten Redaktionskonferenzen nochmals durchsprechen. Sie hatten mir aber schon eine vorsichtige Zustimmung signalisiert. Was sagst du nun?«

»Gratuliere, Bernd.« Moritz lehnte sich leise lächelnd im Sessel zurück. »Während du Kurzkrimis und Drehbücher schreibst, schmeiße ich hier solange mit Cindy deinen Laden.«

»Mensch Kocke, sei nicht albern, so eine Möglichkeit bekommst du nicht wieder.«

»Lieber Bernd, ich verdiene mein Geld damit, dass ich im Morddezernat den größten Teil der Zeit verbringe. Wann, glaubst du, ist es mir vergönnt die Schreiberei zu erledigen?«

»Den Job hängst du an den Nagel, wenn das mit Doppel-Plus klappt.«

»Und nach den fünfzig Serien? Gehe ich dann in Pension?«

»Quatsch! Danach schreibst du eine neue Staffel mit ebenso vielen Krimiserien. Außerdem hat Cindy ihren Job bei mir. Und du hättest die Möglichkeit, dieses oder jenes Gedicht in die Stories einzubauen. Beispielsweise ist eine deiner Stammfiguren ein Gedichteschreiber. Wäre doch was, wetten?«

»Keine Wetten, Bernd. Die Sache hat nur einen kleinen Haken.«

»Und wo liegt der?«

»Ich liebe den Beruf, als Kriminaloberkommissar. Und für nichts auf der Welt würde ich diesen Job hergeben. Auch nicht für viel Geld von Doppel-Plus. Ist das klar, mein Freund?«

»Es dauert sicher noch ein wenig, bis sich Doppel-Plus meldet. Bis dahin hast du Zeit, die Sache zu überschlafen. Tu mir den Gefallen und spreche mal mit Cindy darüber. Apropos Cindy. Du suchst doch schon seit einer Weile ein Wochenendhaus. Ich glaube, sie hat da etwas Passendes für dich gefunden. Vielmehr für euch. Denn ihr werdet sicherlich zusammen einziehen. Vielleicht bekommst du das dann auch einmal auf die Reihe, deine langjährige Freundin zu heiraten. Zeit wird es.«

Moritz überhörte die Stichelei. »Wo liegt dieses prächtige Wochenendhaus?«

»In Kramnitz. Zumindest kurz davor.«

»Ich beabsichtige, nicht auszuwandern, sondern nur ein Ferienhaus zu kaufen oder zu mieten. Vielleicht ergibt sich die Möglichkeit dort hinzuziehen, wer weiß?!«

»Die Wochenendhäuser in der City sind schon alle verkauft, Kocke.«

»Kramnitz, Kramnitz.« Seine Stirn legte sich in Falten. »Habe ich nie gehört«, knurrte er missmutig.

»Sei froh, denn dort wirst du bestimmt keine überdrehten Städter finden. Ich war übrigens schon mal da. Möglich, dass es dir da gefällt. Bei Cindy sehe ich das ähnlich. Es handelt sich um ein parkähnliches Gelände. Ungefähr einen Kilometer vor Kramnitz. Nah an der Straße. Eine kaum befahrene Landstraße. Gleichzeitig ragt es ein Stück in den Wald hinein. Und ein Teich hinter dem Haus.« Bernd Meitoschat geriet ins Schwärmen. »Allerdings wohnen in dem Herrschaftshaus die Besitzer. Das Wochenendhaus liegt direkt neben dem Landhaus. Ein, zwei Steinwürfe vom Haupthaus entfernt. Je nachdem, wie weit man in der Lage ist zu werfen«, schmunzelte er. »Es ähnelt ein wenig an Goethes Gartenhaus. Von der Art und Größe her.«

»Von unserem Schul-Ausflug, damals nach Frankfurt, habe ich es als eine Art Schuhkarton mit Spitzdach in Erinnerung.«

»Die Architektur ist heute auch nicht viel anders. Nur die Technik hat sich geändert. Vielleicht hast du das noch nicht mitbekommen. Aber es ist so. Schaut es euch zumindest an.« Die Worte des Literatur-Agenten klangen eher ein wenig bittend. »Und übrigens, den Schul-Ausflug damals, habt ihr nach Weimar unternommen.«

Mit dem rechten Daumen rieb Moritz am Zeigefinger. Die Stirn legte sich dabei in Falten. Seine Augen sahen scheinbar gedankenverloren durch alles hindurch.

»Sicher, preiswert wird es nicht«, zuckte der Literatur-Agent mit den Achseln. »Aber mit dem Geld von Doppel-Plus …«

»Ach so! Aus dieser Richtung weht der Wind. Da hat mein Freund Bernd bereits mit Cindy über meinen Kopf hinweg entschieden, dass ich den Job bei der Polizei hinschmeißen soll. Ich werde euch was husten.«

»Mensch Kocke, was denkst du, wie Cindy aus dem Häuschen war, nachdem sie gehört hat, wie prima deine Chancen als zukünftiger Drehbuchautor stehen. Natürlich helfe ich dir bei den ersten Drehbüchern. Ist doch klar. Sie ist förmlich ausgeflippt vor Freude.«

»Warum hast du Schwierigkeiten, mich zu verstehen? Ich bleibe bei der Kripo. Und in meiner geringen Freizeit werde ich nicht nebenbei Stories schreiben. Das klappt nicht. Und das beabsichtige ich auch nicht. Punkt, basta, aus!«

»Das Haus anzusehen ist eine Pflicht, Kocke. Da führt kein Weg dran vorbei.«

»Warum ist das eine Pflicht?«

»Ich habe für das übernächste Wochenende einen Termin zur Besichtigung für euch ausgemacht. Mit einer Übernachtung dort. Cindy hat in deinen Rufbereitschaftsplan gesehen, damit es keine Schwierigkeiten gibt. Und Kocke, anschauen ist auf jeden Fall Pflicht. Es ist nicht möglich, Cindy vor den Kopf stoßen und von vornherein den Besuch abzulehnen. Gib ihr das Gefühl, dass du dich mit der Sache beschäftigt hast. Sie braucht es, glaube mir. Gerade jetzt, wo ihre Mutter gestorben ist und wo sie erfahren hat, dass es nur ihre Adoptivmutter war. Sie hat es mir am Sonntag gesagt, nachdem sie mich wegen des Urlaubs anrief. Mach es ihr und mir zuliebe, Kocke. Bitte!« Die letzten Worte drangen leise bittend aus Bernd heraus.

Etwas umständlich stand Moritz aus dem Sessel auf. Dann begab er sich nachdenklich zum Fenster.

»Niemand fordert, dass du dich für was entscheidest, was dir nicht passt. Was nicht dein Wille ist. Nur das Haus ansehen, mehr nicht. Das ist doch nicht Zuviel verlangt, oder?«

»Ich glaube ich spinne«, ereiferte sich Moritz urplötzlich. Nachdem er wie zufällig, aus dem fünfzehnten Stockwerk, nach unten zu dem karminroten Fahrzeug sah, das fast vor der Tür parkte. »Die haben vor meinen Wagen abzuschleppen.« Mit einer hastigen Handbewegung holte er das Handy aus der abgegriffenen Lederjacke. Kurz darauf tippte er aufgeregt eine Nummer in das Gerät.

»Polizeileitstelle. Leiter vom Dienst. Krießling.«

Moritz verdrehte die Augen. Wieder eine Neubesetzung. Den Namen kannte er nicht. Dann sprach er mit hastigen Worten ins Gerät. »Das glaube ich nicht, Jungs! Während ich mich anstrenge, hier einem Gewaltverbrechen auf die Schliche zu kommen, habt ihr nichts Besseres vor, als meine Kiste ins Abseits zu stellen.« Obwohl Moritz die Person am anderen Ende nicht kannte, schlug er einen vertraulichen Ton an. Er hoffte damit, das Abschleppen so zu verhindern.

Inzwischen stand Bernd ebenfalls am Fenster. Aufmerksam sah auch er nach unten.

»Es handelt sich in diesem Fall um Sekunden«, sprach Moritz weiter ins Handy. »Soll ich mir erst einen Parkplatz suchen, um mich dann hinterher bei der Leiche zu entschuldigen? – Ich bin im Büro der Literatur-Agentur Meitoschat, im fünfzehnten … – Prima. Klärt die Sache mit dem Ordnungsamt. Aber macht nichts mit dem Wagen. Tschüss!« Mit einem Lächeln auf den Lippen wandte er sich erneut Bernd zu. »Na klar doch. Natürlich schaue ich mir mit Cindy Goethes Gartenhaus an. Nur damit das unmissverständlich ist. Ich sehe es mir nur an! So, lass uns wieder setzen und erzähl mir mal, wie du als Bücherwurm Zeit findest im Immobilienbereich zu forschen.«

Nachdem die beiden Männer sich in ihre Sessel begeben hatten, sprach Bernd Meitoschat: »Im Grunde genommen ein Zufall. Ein Kunde von mir erwähnte beiläufig, dass er sein Gartenhaus verkaufen wolle. Nur das Gartenhaus. Verkaufen oder vermieten. Im Herrschaftshaus …«, dann fiel ihm Moritz’ kritische Miene auf. Schließlich ergänzte er, »so nannte man das früher halt. Und heute ebenfalls noch. Im … Haupthaus plant er, einen Raum für Literatur-Liebhaber einzurichten …«

»Bernd, komm zur Sache. Du weißt, wie wenig Zeit ich habe.«

»Stets sprichst du davon, dass du so viel nicht aufgeschriebene Überstunden hast …«

»Überstunden, die nicht aufgeschrieben sind, sind keine Mehrarbeit. Bitte, ich habe heute weitere Termine.«

»Der Besitzer beabsichtigt im Landhaus – Landhaus ist in Ordnung? – Literatentreffen zu veranstalten. In Kürze hat er die Absicht, damit zu loszulegen. Geplant sind Zusammenkünfte mit bekannten und unbekannten Personen. Beim ersten Treffen werden die bedeutendsten Fachgrößen im Literaturbereich auftauchen.«

»Warum ist das so wichtig?«

»Weil das Fernsehen dabei ist. In der Vorstellung, zur Einführung des Literaturbetriebes, ist nur ein Info-Spot geplant. Läuft das alles problemlos an, wird in monatlichen Abständen eine einstündige Dauersendung daraus. In der dann auch du eine Einladung erhältst, – wenn das jeweilige Thema behandelt wird.«

»Canal Doppel-Plus

»Nein!«, lautete die schroffe Antwort.

»Wenn ich eingeladen werde, habe ich es nicht weit. Ich wohne gleich im Goethehaus nebenan.«

Bernd Meitoschat sah seinen Freund etwas genervt an. »Schaut euch das Haus wenigstens einmal an. – In Ordnung?«

»Vorher hätte ich gern eine Info bekommen, was das für eine Person ist, die den Literaturbetrieb in seinem … Herrenhaus, Landhaus eröffnet.«

»Wahrscheinlich kennst du ihn sogar.«

Moritz zog die Augenbrauen hoch. »Ach, habe ich ihn schon mal verhaftet?«

»Quatsch! Der Name Wallbaum sagt dir was? Alexander von Wallbaum? – Na, der Juwelier, der Platzhirsch hier in der Gegend. Hat mal mit einem kleinen Laden angefangen und gibt heute den Ton in der Branche an. Zumindest in unserem Einzugsgebiet.«

»Und warum kommt er auf den Gedanken, sein Gartenhaus zu vermieten oder zu verkaufen?«

»Er hat sich entschlossen, mit seiner Frau und seinem Sohn, nur noch das Wochenende im Landhaus zu verbringen. Deswegen würde er demjenigen den Vorzug geben, der in dem Gartenhaus ständig wohnt. Und nicht nur am Wochenende. Vermieten oder verkaufen spielt für ihn keine Rolle. Wenn die von Wallbaums wochentags in der Stadt sind, hättet ihr, in dieser Zeit, sozusagen das ganze Grundstück für euch allein …«

Moritz unterbrach seinen Freund. »Und die Juweliersfamilie hätte gleichzeitig einen Hausmeister, der zwischenzeitlich das Grundstück bewacht. Ist doch so, oder?«

»Sei nicht immer gleich so negativ«, knurrte Bernd Meitoschat.

»Warum plant er, kurz vor dem Rentenalter, seinen Hauptwohnsitz in die Stadt zu verlegen? Normalerweise ist es doch umgekehrt, oder irre ich mich?«

»Der eine Grund ist, dass er schwer herzkrank ist. Das vermute ich jedenfalls aus seinen Äußerungen in unseren Gesprächen. Bei akuten Herzbeschwerden ist er schneller im Krankenhaus, wenn er in der Stadt wohnt. Kramnitz läge, in diesem Augenblick, am Ende der Welt.«

»Dann bleibt nur die Hoffnung, dass seine Herzprobleme nicht am Wochenende auftreten. Bei einem Besuch im Landhaus.« Moritz sah sein Gegenüber fragend an. »Und der andere Grund?«

»Ach so, ja richtig. Ich vermute, dass der andere Grund sein Sohn Oliver ist. Er ist dreißig Jahre und aus meiner Sicht ein verwöhntes Muttersöhnchen.«

»Du kennst ihn?«

»Nachdem ich damals beim von Wallbaum zu Hause war, bekam ich ihn kurz zu sehen. Aus den Reden über den Sohn schloss ich das. Er ist eben der einzige Ableger. Wird verhätschelt, wo immer es machbar ist. Papa ist reich und der Spross nutzt das aus.«

»Er wäre blöde, wenn er das nicht schaffen würde.«

Bernd Meitoschat wippte den Kopf wieder leicht von der linken zur rechten Schulterseite. »Ich meine das anders, Kocke. Der Bursche hat so einen forschenden, eisigen Blick. So, als würde er einen ununterbrochen Prüfen. Der alte von Wallbaum hat einen Hang zur Natur. Er zeigt sich den Mitarbeitern schon mal von der menschlichen Seite. Von Oliver kennt man das überhaupt nicht. Ihn kommt es nur auf Macht an. Möglichst alle Juwelier-Läden in der ganzen Umgebung besitzen. So detailliert hat mir das sein Vater natürlich nicht gesagt. Es sind meine Schlussfolgerungen, aus den Gesprächen, mit den von Wallbaums.«

»Wofür ist er empfänglicher, Macht oder Geld?«

»Mensch, das eine beinhaltet doch das andere. Durchaus möglich, dass er unter Einfluss seiner Freunde steht. Das sind seltsame Gestalten. Zwei, drei Burschen mit Motorrädern. Heiße Öfen, sage ich dir, vom Feinsten. Ich bin ebenfalls oft mit dem Krad unterwegs. Aber diesen Jungs bin ich bisher an keinem der bekannten Treffpunkte begegnet. Oliver fährt genauso so einen Feuerstuhl.«

»Und die von Wallbaums beabsichtigen, deiner Meinung nach, das Landhaus auch deshalb zu verlassen, weil ihr Sohn so komische Freunde hat.«

»Quatsch! Nicht wegen dieser Gestalten. Die sind mit ihren Bikes doch flexibel. Von denen habe ich dir nur erzählt, damit du von dem Jungen mal eine Vorstellung hast. Er ist so ein alles oder nichts Kerl. Wenn ihm ein Juwelier-Geschäft gehört, dann ist es sein Verlangen alle Läden zu besitzen. Wenn er ein nettes Mädchen kennenlernt, ist es sein Bedürfnis über sie zu verfügen. Außerdem duldet er keine Rivalen. Ob ihn die junge Dame noch imponieren würde, wenn die Konkurrenten nicht mehr da wären, ist eine andere Sache. Diese Habsucht, dieses alles für sich allein haben wollen, hat dazu geführt, dass er die Dorfschönste von Kramnitz heiratete. Ellen, hieß die Kleine. War zweiundzwanzig.«

»Hieß? War?«

»Mein Gott, lass einen doch bloß mal aussprechen. Zum Ärger des Sohnes, vom einzigen Gastwirt im Ort, heiratete Oliver dieses Mädchen. Das Landhaus liegt, wie ich dir schon sagte, nicht direkt in Kramnitz, sondern, ungefähr einen Kilometer vor dem Ortsrand.«

»Gut, der Gastwirtssohn hat das Nachsehen. Ist das ein Grund, das Handtuch zu schmeißen und wegzuziehen?«

Bernd lautstarkes Seufzen war zweifelsfrei noch zwei Querstraßen weiter zu hören. »Wie das so auf dem Dorf manchmal ist. Das Mädchen und dieser Gastwirtsjunge waren einander versprochen. Wenn es erlaubt ist, mich so zu äußern. Wenigstens solange, bis sie Oliver kennenlernte. Eine Zeit lang gab es dann gewaltigen Krach im kleinen Dorf. Schließlich heiratete der Juwelierssohn das nette Mädel. Es gab keine andere Möglichkeit. Sie war schwanger. Zähneknirschend nahm Henrik Thomsen, so heißt der Kneipenjunge, dies zur Kenntnis. Wer weiß, vielleicht hätte Henrik irgendwann mal die Zweitschönste im Dorf geheiratet, wenn da nicht diese Sache passiert wäre …«

»Was für eine Sache?«

»Warte es doch ab, Kocke. Die beiden heirateten kurz vor der erwarteten Geburt des Kindes. Aber Ellen starb im Wochenbett. Und mit ihr das Ungeborene. Und dieser Henrik Thomsen macht den Sohn der von Wallbaums hierfür verantwortlich. Er behauptet, dass Oliver das Mädchen absichtlich geschwängert hat, nur damit Ellen es sich nicht im letzten Moment anders überlegt. Der Gastwirtssohn ist davon überzeugt, dass Oliver seine Frau nie geliebt hat. Der war nur darauf versessen, dass Henrik sie nicht heiratete.«

»Glaubst du das ernsthaft, Bernd?«

»Möglich. Im Übrigen tratschen die Leute das im Dorf herum. Für Thomsen jedenfalls, ist Oliver der Mörder seiner Geliebten. Ellen war die Nichte, der bei den von Wallbaums beschäftigten Hausangestellten, Lisa Baerwald. Ellens Eltern sind bei einem Versuch, in ihrem Chemie-Labor, ums Leben gekommen. So spricht man zumindest. Seit deren Tod passieren in kurzen Abständen immer wieder seltsame Sachen. Im und um das Landhaus herum.«

»Seltsame Sachen?«

»Im vergangenen Monat wäre die Bude fast abgebrannt. In der Küche brach ein Feuer aus. Im letzten Moment wurde der Brand unter Kontrolle gebracht. Es hat nicht viel gefehlt und das ganze Haus hätte sich in Asche aufgelöst.«

»Brandstiftung?«

»Die Polizei fand keinen Beleg hierfür. Der Schaden ist wieder behoben. Kurz zuvor verschwand ein Teil des Vorrats an Ungeziefervernichtungsmittel. Kennst du ja, Zyankali. Hochgiftig. Offiziell hat sich ein Landstreicher diese giftige Flüssigkeit unter den Nagel gerissen und ist damit spurlos verschwunden. Angezeigt hatte man den Vorfall wohl nur, weil die Polizei im Haus war. An allen drei Autos, der von Wallbaums, waren die Reifen zerstochen. Wochen vorher lag ein Reh mit durchschnittener Kehle direkt in der Toreinfahrt. Alexander von Wallbaum scheint die Sache sehr ernst zu nehmen. Aus diesem Grund verlegt er den Hauptwohnsitz in die Stadt. Das wäre also der zweite verständliche Anlass. Er vermutet hinter diesen ganzen Vorkommnissen bestimmt den Thomsen. Sicherlich hat die Polizei ebenfalls in diese Richtung ermittelt. Wenn es überhaupt wegen, beispielsweise eines toten Rehs, etwas zu ermitteln gibt.«

»Woher weißt du das alles?«

»Ich bin mir sicher, soweit du in Kramnitz zwei- oder dreimal Einkaufen warst, wirst du noch mehr wissen, als ich. Solltet ihr da einziehen, wird der Spuk wahrscheinlich aufhören. – Ich habe bereits mit Cindy gesprochen, wie das abläuft, wenn ihr dort euren Wohnsitz einrichtet. Es wäre Blödsinn, jeden Tag diese weite Strecke zurücklegen würde. Die Kommunikationstechnik macht heute vieles möglich, nicht wahr?!«

»Woher hast du diese ganzen Informationen, von den Wallbaums? Doch nicht allein aus Gesprächen und Vermutungen?«

»Unter Bikern, mein lieber Kocke, gibt es so gut wie keine Geheimnisse. Auch, wenn man die einschlägigen Treffpunkte meidet.« Auf Bernds Gesicht breitete sich ein genüssliches Lächeln aus.

Moritz atmete hörbar tief durch. »Danke für deine Tipps. Ich habe vor, mir nur kurz das Haus anzusehen. Wahrscheinlich werden wir da gar nicht übernachten. Und ob ich diesen Oliver überhaupt sehe, wird sich zeigen. Ansonsten interessieren mich deren Familienprobleme nicht. Ich habe ebenso die Absicht, mich da nicht einzumischen.« Dann bemerkte Moritz das flüchtige Hinschauen seines Freundes zur Armbanduhr. »Verflixt!«, sprang er verärgert auf. »Mein Gerichtstermin! Wieder mal verplappert. Kurz noch etwas über die Gedichte, Bernd.«

»Kocke, ich sage dir fest zu, heute keine Wetten mehr abzuschließen. Dich verpflichte ich dafür, mir zu versprechen, heute nicht mehr das Wort Gedicht in den Mund zu nehmen.«

Moritz nickte wenig einsichtig. Mit raschen Schritten bewegte er sich in Richtung Tür. Bevor er das Zimmer verließ, drehte er sich nochmals um. »Wir sollten mal wieder morgens gemeinsam joggen, findest du nicht auch?« Bei diesen Worten sah er vielsagend auf die pralle Füllung des Hemdes von seinem Freund. Ohne die Antwort abzuwarten, riss er die Tür auf. Es fehlte nicht viel, dann hätte er die beiden Personen überrannt, die davor standen.

Sekundenlang sahen sich die drei überrascht an.

Moritz bemerkte das teilnahmslose, versteinerte Gesicht des einen Uniformierten, den er fast umgerannt hätte. Kein erkennbares Muskelzucken in dessen Miene. Nichts. Der zweite, merklich kleiner, dafür korpulenter. Moritz nahm an, dass die beiden, auf Grund ihrer fehlenden Reaktion, Zwillinge sind.

»Büro Meitoschat?«, fragte der Lange monoton.

Ah, sie sind in der Lage zu sprechen, stellte Moritz fest.

»Ja!«, ertönte es lautstark aus dem Arbeitszimmer. Wenige Augenblicke später stand Bernd im Türrahmen. »Ja!?«, klang die Stimme nun etwas leiser.

»Wir sind vom Ordnungsamt«, sprach der Längere der beiden. »Liegt bei Ihnen ein Notfall vor? In diesem Fall würde das Falschparken des Kriminalbeamten von uns nicht weiter verfolgt werden. Haben Sie ein Gewaltdelikt gemeldet?«

»Ich, äh …«

Moritz ergriff das Wort. »Herr Meitoschat«, sprach er in dienstlichem Ton, »Sie haben mir Ihre Vermutungen ausführlich geschildert. Weiter brauchen Sie sich jetzt nicht zu äußern. Erst, wenn der Anwalt anwesend ist.«

»Ich, äh …«

Der steinerne Gesichtsausdruck der beiden Mitarbeiter vom Ordnungsamt, verriet ihren Verdruss über die Äußerung des Kriminalbeamten. Nach einer kurzen Pause nahm der Längere das Gespräch wieder auf. Trotz Zurechtzupfen seiner Dienstkleidung, sprach er zu Moritz: »Wir haben die Personalien des Besitzers über das Kennzeichen ermittelt. Wenn Ihr Vorgesetzter uns telefonisch erklärt, dass dieser Einsatz notwendig war, werden wir das Fahrzeug nicht umsetzen. Sie müssten es allerdings sofort woanders platzieren. Ist Ihr Dienstherr Herr Richter?«

Im Hausflur war das Knacken von Handknöcheln zu vernehmen. Ohne das es möglich war, genau zu bestimmen, woher das Geräusch kam.

»Wissen Sie was«, sprach Moritz schließlich zu den beiden, »ich fahre Soundso weg. Schreiben Sie einen Bußgeldbescheid. Ich überweise das Geld.«

»Es ist auch möglich, sofort bar zu zahlen, wenn Ihnen das lieber ist.« Jetzt kam der Hinweis von dem kleinen Korpulenten.

»Ach so, dann werde ich natürlich meinen Chef nicht mit dieser Lappalie belästigen. Was kostet der Spaß? – Wie viel?! Diesen Betrag bekomme ich nicht einmal, wenn ich den Wagen verkaufe.«

Beide Mitarbeiter des Ordnungsamtes zuckten mit den Achseln.

Mürrisch zahlte der Falschparker das Geld. Sein Freund kopierte das Achselzucken der zwei Bediensteten vom Amt.

Mit einem künstlichen Lächeln auf den Lippen eilte Moritz zum Treppenhaus. Jetzt bloß nicht mit den beiden im Aufzug herunterfahren, schoss es ihm durch den Kopf. »Sind Sie immer zu zweit im Einsatz?«, fragte er wissbegierig, bevor er im Treppenflur verschwand.

»Ich wette«, rief Bernd provozierend hinterher, »der Aufzug ist schneller unten.«

Im Treppenhaus hallte Moritz’ Antwort mehrfach nach. »Und ich schreibe mein erstes Drehbuch, Mord im Hochhaus …«

Bis der Nebel sich lichtet

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