Читать книгу Bis der Nebel sich lichtet - Reinhold Vollbom - Страница 5
Im Dachsbau
Оглавление»Ist heute Dienstag?« Schlaftrunken stand Moritz in Cindys Küche. Halblaut rief er die Frage Richtung Schlafzimmer. Gleich drauf kratzte er sich behäbig am Kopf, um sich sofort selber die Antwort zu geben. »Ach, richtig. Gestern war ich bei Bernd.« Dann füllte er das braune Kaffeepulver umständlich in die Filtertüte der Kaffeemaschine. Ohne hochzuschauen, rief er nochmals fragend in Richtung Schlafzimmer: »Ist es wirklich dein Wunsch, heute zum Dachsbau zu fahren? Oder hast du es dir vielleicht anders überlegt? Da ich Spätdienst habe, könnten wir den halben Tag im Bett verbringen. Mittags lassen wir uns was vom Griechen liefern.«
»Auf das Angebot komme ich später noch mal zurück.« Cindy stand direkt hinter Moritz, der deutlich erschrak, weil er nicht damit gerechnet hatte. Danach sprach sie gelassen weiter. »Ich fahre ebenso gern bei dir im Wagen mit. Deswegen habe ich ihn gestern Abend extra abgeholt.«
»Störrisches Luder«, nörgelte er. »Kennst du den Weg?« Dann bemerkte er ihr schmunzelndes nickendes Lächeln. Knurrend drang es nüchtern aus seiner Kehle: »Na schön. Bereiten wir uns langsam darauf vor. Es ist noch früh am Tage.«
Eine Stunde später lichteten sich die Häuserreihen um sie herum. Sie hatten die Stadtgrenze passiert. Auf Cindys Schoß lag die ausgebreitete Landkarte. Der rosagefärbte Fingernagel ihres Zeigefingers huschte über das knittrige Papier.
Cindy sah zu Moritz hinüber. »Allzu weit ist es wahrscheinlich nicht mehr. Irgendwo am Stadtrand hat man mir gesagt.«
»Wen hast du denn gefragt?«
»Na, ich habe mir die Telefonnummer herausgesucht und dort angerufen.« Dann merkte sie, wie er zu einer Frage ansetzte. Deshalb sprach sie sofort weiter. »Natürlich habe ich versucht, alles telefonisch zu klären. Aber am Telefon geben sie keine Auskünfte, hat man mir gesagt. Da ist ein Hinweisschild. Gleich geht’s rechts ab. – Übrigens, ist dein Navi kaputt?«
»Ich habe nie eines besessen«, antwortete Moritz trocken.
»Warum liegt das Kinderheim so weit außerhalb?«
»Wenn diese armen Geschöpfe schon keine Eltern haben, haben sie die Möglichkeit sich hier draußen wenigstens auszutoben.«
»Ob die Kinder das genauso sehen?«
Moritz und Cindy sahen sich einen kurzen Augenblick lang an.
»Pass lieber auf, wo du hinfährst«, ermahnte sie ihn.
Gleich darauf kam ihr Fahrzeug mit knirschenden Reifen, auf dem Kieselstein-Schotter des Parkplatzes, zum Stehen. Vor ihnen lag ein Ziegelsteingebäude, an deren Fenster üppige, farbenfrohe Blumen herunterhingen.
Moritz sah seine Freundin fragend an. »Und, erinnerst du dich?«
»Mensch, Kocke, ich war drei, dreieinhalb oder vier, als man mich hier abholte.« Immer, wenn Cindy ihrem Freund eindringlich ins Gewissen redete, nannte sie ihn beim Spitznamen.
»Woher weißt du denn, dass du wirklich so alt warst?«
»Du hast doch selber gehört, wie Mutter sagte, dass ihr mein Geburtstag mitgeteilt wurde. In dem Alter ist es möglich, das ziemlich genau schätzen. Außerdem werden wir hoffentlich gleich schlauer sein.«
»Lassen wir uns überraschen. Vielleicht bist du in Wirklichkeit viel jünger.«
Cindy sah ihn mit zusammengekniffenen Augen von der Seite an. Man merkte, dass sie nachdachte, ob er es spöttisch meinte. »Kocke, werde nicht frech. Ich schrecke auch nicht davor zurück, einem alternden Beamten eine körperliche Lektion zu erteilen.« Bei diesen Worten sprühten ihre Pupillen das Feuer, das bei Moritz immer wieder ein leidenschaftliches Verlangen nach ihr auslöste.
»Wie bist du zu den Namen Cindy gekommen?«
»Früher in der Schule. Ich liebte das Märchen Aschenputtel über alles. Und da gab man mir den Namen Cindy. Abgeleitet von Cinderella.«
»Hast du nicht irgendwelche Erinnerungen aus der Zeit hier im Kinderheim?«
»An das Waisenhaus direkt nicht. Undeutlich erinnere ich mich an den Tag, an dem meine Adoptiveltern hier vorbeikamen. Alle lächelten, waren fröhlich und starrten zu mir hinüber. Und man verlangte von mir, ebenfalls froh gelaunt zu sein. Ich wusste nur nicht worüber. Nachdem meine neuen Eltern mich mitnahmen, war mir so, als wäre ich nur kurz abgegeben worden. Um mich gleich darauf wieder mit nach Haus zu nehmen. Ich akzeptierte sie als Mutter und Vater, weil ich es nicht besser wusste. Es gab keinen Grund daran zu zweifeln, dass es nicht meine Eltern waren. Trotzdem hatte ich irgendwie das Gefühl, dass da etwas nicht stimmte. Zumindest in den ersten Wochen. Wenn Mutter mich an die Hand fasste, war der Arm von mir ausgestreckter als gewöhnlich. Das nahm ich unbewusst zur Kenntnis. Ohne das es bei mir irgendwas Besonderes auslöste. Was in dem Alter soundso nicht möglich war. Meine Adoptivmutter war demnach größer als meine leibliche Mutter. Die täglichen Ereignisse, die auf mich einstürmten, lenkten ein kleines Mädchen, wie ich es war, natürlich ab. Und wenn ich nicht erfahren hätte ein Waisenkind zu sein, hätte ich mir das sicherlich nie mehr in Erinnerung gerufen. Erst jetzt, nachdem ich die Wahrheit kenne, habe ich die letzten zwei Tage gründlich über meine Vergangenheit nachgedacht. Mit aller Konzentration habe ich versucht, mich an irgendetwas zu erinnern.«
»War es das Einzige, was dir einfiel?«
»Na ja«, schwankte sie mit dem Kopf leicht hin und her. »In meiner Schulzeit träumte ich öfters davon, dass mir Sterne auf den Kopf fielen …«
»Wie bitte?!«
»Warum ich derartige Gedanken hatte, war mir nicht klar. Diesen Traum hatte ich als Kind öfter. Aber es schmerzte nicht, wenn die Sterne auf mich herabfielen. Bei dieser Träumerei war ich immer total glücklich. Ob das mit meiner Herkunft zusammenhängt, weiß ich allerdings nicht. Ich habe damals viele Märchen gelesen. Vielleicht ist in den Träumen etwas davon hängengeblieben.«
Moritz sah zur Seitenscheibe hinaus. »Es ist Zeit auszusteigen. Die ersten Gören drücken sich an der Scheibe schon die Nase platt.«
Auf dem Weg zum Eingang merkte er, wie Cindy verunsichert mit ihren Augen die Umgebung abtastete. In der besorgten Hoffnung, an etwas erinnert zu werden.
»Haben Sie einen Termin?«
Die beiden schauten überrascht nach links. Das freundliche Gesicht einer jugendlich wirkenden Erzieherin lächelte sie an.
»Ich hatte mich für heute Vormittag bei der Leiterin angemeldet«, sprach Cindy. Nachdem sie den Familiennamen genannt hatte, führte die Frau ein kurzes Telefonat. Dann wies sie beide zu einem Zimmer, das im ersten Stock lag.
Nach einem zaghaften Klopfen forderte sie eine feste Frauenstimme auf einzutreten. Erst nachdem Cindy und Moritz direkt vor dem Schreibtisch der Leiterin des Kinderheimes standen, hob diese den Kopf. Mit einem künstlichen Lächeln auf den Lippen sah sie beide fragend an.
»Petrisch. Ich rief gestern Nachmittag an und fragte …«
»Ach, Sie waren das«, unterbrach sie die Leiterin. Dann wandte sie demonstrativ Moritz den Kopf zu. Nachdem dieser nur mit einem kurzen freundlichen Nicken grüßte, fragte sie barsch: »In welcher Angelegenheit sind Sie hier?«
»In der gleichen«, antwortete Moritz bewusst provozierend.
»Heißen Sie auch Petrisch?«
»Nein.«
»Ich kenne die Leute gern beim Namen, mit denen ich mich unterhalte.«
»Ich ebenfalls.«
»Mein Name steht draußen am Türschild.«
»Ich habe auch ein Türschild mit meinem Namen.« Nach einer kurzen spannungsgeladenen Pause sprach er weiter. »Aber mein Name ist nicht geheim. Er lautet Wolff. Mit einem o und zwei f«.
»Müller«, ertönte es militärisch knapp hinter dem Schreibtisch.
»Habe ich doch schon irgendwo mal gehört.« Moritz’ Stirn legte sich in Falten. Den Zeigefinger presste er auf die Lippen. »Genau!«, schoss es urplötzlich aus ihm heraus. »So heißt mein Nachbar. Übrigens, ein sehr netter Kerl.«
»Wer?«
»Na, mein Nachbar, Herr Müller.«
»Moritz, bitte!« Cindy sah ihren Freund mit glühenden Augen beißend an.
»Sie kommen wegen einer Auskunft, Frau äh … Petrisch?«
Gerade mal, dass sie die Frage gestellt hatte, bemerkte Moritz bei ihr ein kurzes, kaum wahrnehmbares Zucken der Augenlider.
»Ich glaube, dass ich hier früher im Kinderheim einige Zeit zubrachte.«
»Sie glauben?«
»Meine Adoptiveltern starben. Mutter gab mir auf ihrem Sterbebett den Hinweis auf den Dachsbau. Mit ihrem Ehemann holte sie mich seinerzeit hier ab. Vermutlich war das vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren.«
»Demnach glauben Sie nicht nur, dass Sie hier waren. Sie waren also hier.«
Cindy zuliebe ließ Moritz die selbstgefällige Art der Leiterin unbeachtet. Er bedauerte nur die Kinder, die nach seiner Meinung solch eine Vorsteherin nicht verdient hatten.
»Ist es erlaubt zu fragen, was Sie nach so langer Zeit veranlasst, in Ihrer Vergangenheit zu forschen?«
»Hätte ich früher von meinem Aufenthalt im Dachsbau gehört, wären wir uns eher begegnet.«
Mit einem übertrieben unnatürlichen Lächeln auf den Lippen erhob sich die Leiterin schwermütig von ihrem gepolsterten Stuhl. »Einen Augenblick, bitte. Ich hole mir die Akte aus dem Archiv.«
Ordnung herrschte anscheinend in der Dokumentensammlung, überlegte Moritz. Denn es dauerte nicht lange, bis sie mit einem dicken aufgeklappten Ordner zurückkam.
»Petrisch, hießen Ihre Adoptiveltern? – Richtig. Ich vermute, Sie sind hier, um sich nach Ihren leiblichen Eltern zu erkundigen? – Aha. – Hat Ihre Adoptivmutter sie nicht über Ihre Daten informiert?«
»Nur, dass ich in Spanien geboren wurde und mein leiblicher Vater bereits vor der Geburt verschwand. Und das Geburtsdatum natürlich. Kurz nach ihrer Rückkehr in die Heimat starb sie und ich kam ins Kinderheim.«
»Na, dann wissen Sie doch schon alles.«
»Den Familiennamen meiner leiblichen Mutter hätte ich gern erfahren.«
»Wir hatten mit Ihrer leiblichen Mutter nur einmal Kontakt. Ich erinnere mich an den Fall. Damals war ich für die Neuzugänge verantwortlich. Sie sagte, dass sie uns noch ausstehende Dokumente zukommen lasse. Es gab Schwierigkeiten, weil in dem spanischen Krankenhaus, in dem Sie geboren wurden, ein Brand im Archiv ausbrach. Dabei verbrannten die Klinik-Unterlagen von einigen Jahrgängen. Das betraf auch den Zeitraum Ihrer Geburt. Wir haben dann eigene Untersuchungen angestellt. Die haben die Aussage ihrer leiblichen Mutter bestätigt. Allerdings lebte sie zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr.«
»Und wie hieß meine Mama?«
Sekunden des Schweigens. Dann entgegnete die Heimleiterin mit trockener Stimme: »Sie haben alle Informationen bekommen, die für Sie irgendwie wichtig sein könnten. Die Mitteilung ihres Geburtsnamens hilft Ihnen nicht weiter. Im Gegenteil. Bei Namensgleichheit, mit anderen lebenden Personen, ist es möglich, dass es zu Irritationen kommt.«
»Aber meine Mutter hatte doch Eltern …«
»Ihre leibliche Mutter war ein Waisenkind, so viel haben wir in Erfahrung gebracht«, unterbrach sie die Leiterin.
»Vielleicht hat mein Vater nach all den Jahren ein schlechtes Gewissen bekommen und sucht nun den Kontakt zu mir?!«
Die Leiterin wiegte ihren Kopf ein wenig zur Seite, bevor sie antwortete. »Von Ihrem leiblichen Vater wissen wir gar nichts. Vielleicht war er nur, wie Ihre Mutter, für eine begrenzte Zeit zum Arbeiten in Spanien. Möglich, dass er hier aus unserer Heimat kommt. Oder sonst wo her. Wir wissen absolut nichts von ihm. Keine Nationalität, Körpergröße, Haarfarbe, Alter, schlichtweg nichts. Und nach drei Jahrzehnten plagt ihn sein schlechtes Gewissen? Er hat die Absicht, sein Kind kennenzulernen und sich der Gefahr auszusetzen nachträglich die Unterhaltskosten zu zahlen?«
»Vielleicht ist er in der Zwischenzeit zu Geld gekommen und es macht ihn nichts aus, die Kosten zu erstatten?«
»Dann hätte er sicherlich einen privaten Ermittler beauftragt, Sie zu finden. Hat er überhaupt Kenntnis von Ihrer Existenz? In welchem Monat der Schwangerschaft, Ihrer Mutter, ist er verschwunden? Lebt er noch?«
Moritz vernahm eine hämische Genugtuung der Frau, bei diesen Worten. Dann glaubte er, etwas zu bemerken. Er hatte den Eindruck, dass sie irgendetwas versuchte zu verbergen. Womöglich täuschte er sich aber auch. Seine Augen sahen auf den prall geöffneten Ordner, mit den unzähligen Schriftstücken darin. Für ein normales Waisenkind äußerst viel Papierkram! Das erweckte sein Misstrauen. »Ist es möglich mal hineinschauen?« Moritz trat einen Schritt auf die Frau hinter dem Schreibtisch zu, um in den Ordner zu sehen.
Vorbildlich verhinderte sie dies. »Hier steht nichts drin, was Ihnen weiterhilft«, sprach sie gereizt.
Moritz’ letzte Gehirnzelle arbeitete jetzt im Betriebsmodus der Alarmbereitschaft. Einige Sekunden angestrengten Überlegens. Dann stand der Plan fest. Zur Zufriedenheit der Leiterin begab er sich teilnahmslos in Richtung Fenster. Dort angekommen nahm er seinen Kugelschreiber aus der braunen Lederjacke. Diesen ließ er bewusst auf den Boden fallen.
Frau Müller sah kurz auf das auf dem Fußboden niedergefallene Schreibgerät. Ein leichtes Kopfschütteln, mit verständnisloser Miene, Richtung Moritz. Dann wendete sie sich gleich wieder Cindy zu.
Übertrieben langsam beugte sich der Kriminalbeamte nach unten, hob den Kugelschreiber auf, um gleichzeitig mit einer kurzen Bewegung den Telefonstecker aus der Anschlussbuchse zu ziehen. »Wie komme ich zum Örtchen für kleine Jungs?« Entschuldigend sah er zu Frau Müller hinüber, die einige Sekunden wartete, bis sie ihm antwortete.
»Wenn Sie rauskommen, links den Gang hinunter.« Offenkundig mit den Umständen zufrieden, unterhielt sie sich mit ihrem ehemaligen Heimkind unter vier Augen. »Ich erinnere mich gut an die damalige Zeit, Frau Petrisch. Sie standen mit einer Puppe im Arm, verängstigt in einer Ecke des Raumes, als Ihre Adoptiveltern Sie abholten.«
»Gibt es wirklich keinen weiteren Hinweis auf meine Vergangenheit?« Cindy sah die ihr gegenüber Sitzende hilflos fragend an.
Die Leiterin genoss es, diese Rahmenbedingung zu beherrschen. »Die Polizei, Liebste. Die Polizei hat Sie hier bei uns abgegeben. Kurz nachdem Ihre leibliche Mutter ins Krankenhaus eingeliefert wurde und dort starb. Hier im Dachsbau fängt Ihr wirkliches Leben an. Sie werden sich bestimmt schnell damit abfinden. Glauben Sie mir, es gibt schlimmere Vergangenheiten, als die, nicht genau zu wissen, wo man herkommt.«
In der Zwischenzeit zog Moritz auf der Herrentoilette sein Handy aus der Jackentasche. Auf dem Flur entdeckte er ein internes Schreiben der Verwaltung, auf der die Telefonnummer der Einrichtung stand, die er jetzt ins Mobiltelefon tippte.
»Kinderheim Dachsbau, Anmeldung«, zirpte eine freundliche Stimme aus dem Hörer.
»Seit einer Stunde versuche ich die Leiterin, Frau Müller, telefonisch zu erreichen«, log Moritz mit verstellter Stimme, in das Mikrofon des Handys. »Jetzt läuft das Gespräch über die Zentrale. Es eilt nämlich. Ich habe ihr etwas von äußerster Bedeutsamkeit mitzuteilen …«
»Einen Augenblick, bitte«, unterbrach ihn die andere. »Ich verstehe das nicht«, meldete sich die zirpende Stimme gleich wieder. »Sie nimmt den Hörer nicht ab, obwohl …« Einige Sekunden blieb es leise. »Bleiben Sie am Apparat. Ich hole sie in die Vermittlung.« Dann drang nur ein leicht brummendes Geräusch aus dem Gerät.
Abwartend beobachtete Moritz wie eine weibliche Person sich der Bürotür der Leiterin näherte. Gleich darauf bat sie vorsichtig klopfend um Einlass. Wenige Sekunden später verließen beide das Zimmer. Mit grimmigem Gesichtsausdruck eilte Frau Müller dem pflichtbewussten Wesen aus der Anmeldung hinterher.
Kaum außer Sichtweite begab sich Moritz, mit dem noch immer eingeschalteten Handy, zu Cindy zurück. Mit dem Zeigefinger, auf den Lippen, deutete er ihr an zu schweigen. Dann eilte er hinter den Schreibtisch. Hastig durchsuchte er die im Ordner vorhandenen Schriftstücke. Hierbei klemmte er das Mobiltelefon zwischen seiner linken Schulter, sowie dem leicht zur Seite geneigten Kopf.
Cindy sah ihn fragend an. Dabei zuckte sie mit den Achseln.
Dann meldete sich wieder eine Stimme aus dem Hörer. »Müller!«
Mit weiterhin verstellter Stimmlage sprach Moritz in den Handapparat vom Telefon. »Müller!«
»Ja, richtig, hier ist Frau Müller! Leiterin des Kinderheimes Dachsbau. Wer sind Sie und was ist so eilig, dass Sie mich aus einer überaus dringenden Besprechung herausholen? Ich hoffe, der Grund ist zwingend genug.«
»Müller!«
»Ja, hier ist …«
Mit verstelltem Lachen hüstelte Moritz in das Handy. »Hier ist ebenfalls Müller. Mein Gott, eine Namensgleichheit! Habe ich lange nicht erlebt.« Fieberhaft huschten seine Augen über die einzelnen Seiten im Ordner. Mit einem belanglosen Gespräch versuchte er, die Leiterin hinzuhalten. »Fürchterlich mit dieser Personalknappheit«, entrüstete er sich künstlich am Telefon. »Jetzt sitzt schon die Managerin einer so wichtigen Einrichtung wie Ihr Haus, selbst in der Telefonanmeldung und bearbeitet die Gespräche.« Aus dem Hörer vernahm er ein nerviges Stöhnen.
»Bitte kommen Sie zur Sache.«
Moritz’ Interesse galt auf einmal einem behördlichen Schreiben im Ordner. Einem Polizeibeamten, der an einem genannten Tag im September, Cindy im Kinderheim abgab. Dahinter stand die Anschrift des Beamten. Denkbar, dass es gleichzeitig die Dienstanschrift war. Hastig ergriff er was zum Schreiben, sowie ein Stück Papier. »Ich hatte vor, ein Kind zu adoptieren«, sprach er weiter ins Telefon. »Nicht zu groß und nicht zu klein, verstehen Sie?! Eine normale Figur ist wichtig. Auf keinen Fall kommt ein dickes Waisenkind in Frage. Ein zu Dünnes allerdings auch nicht. Senden Sie mir am besten ein Prospekt zu, auf dem die Kleinen abgebildet sind. Ich suche mir dann in aller Ruhe was aus.« Er hatte den Satz noch nicht vollendet, da vernahm er ein Dauersummen aus dem Hörer. Jetzt galt es eilig zu handeln. Die Leiterin betrat sicherlich jeden Augenblick wieder das Zimmer betreten.
Mit flinken Fingern stellte er den alten Zustand es Ordners her. Den beschriebenen Zettel, sowie das ausgeschaltete Handy, ließ er in der Jackentasche verschwinden. Dann eilte er zum Fenster, um den Telefonstecker wieder in die Anschlussbuchse zu stecken.
Im selben Augenblick, in dem er sich aufrichtete, betrat Frau Müller das Büro. Fragend sah sie zu Moritz hinüber. »Sie sind wieder zurück?!«, stellte sie unzufrieden fest.
»Keine Angst wir verschwinden gleich.« Dann erschrak er über sich selber. Die letzten Worte hatte er immer noch mit der verstellten Stimme gesprochen, mit der er kurz zuvor am Telefon sprach. Eilig verfiel er in ein lautstarkes künstliches Hüsteln.
Daraufhin formten sich die Augen der Leiterin zu kleinen schmalen Schlitzen. Fast mechanisch griff ihre Hand zum Telefonhörer. Sie hörte zwar das Freizeichen, ihre Miene jedoch entspannte sich nicht. Eher sah sie nachdenklicher aus. Schlagartig glitten ihre Augen auf den geöffneten Ordner. Erst jetzt schien sie beruhigt zu sein.
Ohne sich auf ein weiteres Gespräch einzulassen, verabschiedeten sich Cindy und Moritz. Zurück blieb ein fragender, unverständlicher Augenausdruck der Leiterin des Dachsbaus.
Nachdem Moritz den Wagen, vom Gelände des Kinderheims auf die kleine schmale Zufahrtsstraße lenkte, atmeten beide kräftig hörbar aus.
»Habe ich nicht das Recht, die Unterlagen einzusehen?«, nahm Cindy das Gespräch wieder auf.
»Ehrlich gesagt, mein Schatz, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall ist der Ordner randvoll gefüllt mit allen möglichen Informationen. Ob bei Waisenkindern grundsätzlich so ein Schwung an Angaben vorhanden ist, wage ich zu bezweifeln.«
»Dann verlange ich offizielle Einsicht. Ich frage den Anwalt, der Bernds Sachen bearbeitet. Der weiß bestimmt, wie weiter vorzugehen ist.«
»Ich glaube nicht, dass hierbei was herauskommt. Wenn es die Absicht von Frau Müller war, uns aufzuklären, hätte sie uns erlaubt einen Blick in die Akte zu werfen.«
»Aber du hast gleich mit ihr gestänkert. Vielleicht war sie deshalb so komisch.«
»Das nehme ich nicht an. Ich glaube auch nicht daran, jemals Einblick in deine Akte zu bekommen.« Er bemerkte Cindys aufkommenden Protest, darum sprach er weiter. »Erhalten wir die behördliche Genehmigung zur Akteneinsicht, wird die Mappe wahrscheinlich wesentlich dünner sein, als sie es heute war.«
»Wenn wir sie dann zur Rede stellen?«
Moritz verzog die Mundwinkel zu einer Grimasse. »Da wir zuvor keine Einsicht in die Akte bekamen, jedenfalls offiziell, haben wir nicht die Möglichkeit zu behaupten, dass was fehlt. Es ist unmöglich, das zu beweisen.« Er nahm seine rechte Hand vom Lenkrad. Dann tastete er die Jackentasche nach dem Zettel ab, den er im Büro dort hastig versteckt hatte. »Hier, lies mal vor«, bat er sie.
Cindy drehte das zerknüllte Stückchen Papier in die geeignete Position. »Polizeihauptwachtmeister Kronitz«, las sie halblaut vor. »Das scheint die Privatanschrift und ebenfalls die Dienstanschrift zu sein. Sonst würde da bestimmt Revier oder sowas draufstehen. Vorausgesetzt, du hast beim Abschreiben nicht was vergessen.« Dann bemerkte sie sein Kopfschütteln. »Na, das ist doch was. Wann besuchen wir ihn? Allzu weit liegt das bestimmt nicht von hier entfernt.«
»Schatz, was glaubst du, wozu es Telefone gibt?«
»Gut, dann fahre ich eben allein.«
»Herrje, nun sei doch nicht wieder so bockig«, entrüstete er sich. »Wenn dieser Polizeibeamte überhaupt noch existiert und er sich erinnert, wird er uns die Auskunft genauso am Telefon geben. Vergiss nicht, dass der Vorgang fünfundzwanzig Jahre zurückliegt.«
»Morgen wird Mutter beerdigt. Am Donnerstag fahre ich hin. Hattest du dir nicht zusätzlich den Tag nach der Beerdigung freigenommen?«
Mit zusammengepressten Lippen starrte Moritz auf die Mittelstreifenmarkierung der Straße. Die kleinen weißlichen Streifen schossen an der linken Wagenseite vorbei. Weshalb war sie immer sofort bockig, fragte er sich? Mühsam versuchte er, die Verbitterung zu verbergen. Dann legte Cindy ihre Hand sachte auf seinen rechten Oberschenkel. Er warf ihr einen knappen Blick zu. Wie war es möglich, ihr zu zürnen? Ihr offenes strahlendes Lächeln, ließ die hellen Zahnreihen wie ein Feuerwerk erscheinen. Dann dieses kurze, seidig glitzernde Haar. Und die verflixten schwarzen, feurig fordernden Pupillen. Zum Kuckuck, wie schaffte sie es immer wieder, ihn rumzukriegen?!
»Danke!«, hauchte sie.
Er hatte sich nie eine Freundin gewünscht, die in der Lage war Gedanken zu lesen. »Ich habe Hunger bekommen. Halten wir beim Griechen an?«
»Wenn wir uns beeilen, haben wir danach Zeit noch zu mir zu fahren. Bis dein Dienst anfängt.«
Schlagartig breitete sich ein zartes Schmunzeln auf seinem Gesicht aus. Wahrhaftig, sie hatte die Gabe Gedanken zu lesen.