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Noch am Abend desselben Tages klingelte Aurun an der Tür der alten Klonin. Es dauerte eine Weile, bevor geöffnet wurde.

„Gegrüßt!“, sagte Gertran und strahlte über das ganze Gesicht „Komm rein, Kleine!“

Stolz gab sie der Tür einen Stoß, sodass die sich weit öffnete und Aurun das ganze Zimmer überblicken konnte.

Auf dem Boden lagen schwere, farbsatte Teppiche, die Wände waren ockerbraun gestrichen und mit unzähligen kleinen und großen Bildern und Fotografien übersät. Vor dem Fenster hing ein durchsichtiger, windleichter Stoff, wie ihn Aurun noch nie gesehen hatte. Die Möbel, bei genauem Hinsehen die gleichen Modelle, die auch in ihrem eigenen Zimmer standen, hatte die alte Klonin in bunten Farben angemalt, hatte sie verziert mit Ornamenten und Symbolen. Kleine Figürchen aus Holz und Ton tummelten sich auf ihnen. In einer Ecke des Raumes luden dicke Polster zum Hineinsinken ein.

„Mein Zuhause!“, sagte Gertran und verbeugte sich ungelenk. „Sei meine Gastin!“

„Gegrüßt!“, antwortete Aurun erst jetzt, verwundert und eingeschüchtert von der ungewohnten Umgebung.

Gertran ließ ihr einen Moment Zeit, ihr Heiligtum zu bestaunen, dann deutete sie ihr, sich auf die dicken Polster zu setzen und fragte: „Möchtest du etwas trinken, etwas essen?“

„Essen? Ich denke, man darf keine Lebensmittel …“

„Ach, Unsinn! ‚Die Verbringung von Lebensmitteln in die Einzelräume ist untersagt‘, ja, ja. Was für einen Quatsch denken die sich noch aus, diese Dummheimer? Sollen sie doch mal versuchen, mir das abzunehmen, dann lernen sie Gertran Ewinewi kennen – ich habe alles: Tee, Kaffee, sogar etwas Bier. Und allerlei zum Knabbern und zum Schleckern. Sieh mich doch an, Kleine. So drall und gesund wird man nicht vom lebenserhaltenden und nahrhaften Büffet in Ebene zweiundsechzig, das kannst du mir glauben.“

Sie drehte und wendete sich, als müsste sie mit ihrer Körperfülle imponieren. Das sah so drollig aus, dass Aurun lachte. Kurz und hell auflachte. Dann erschrak sie, weil ihr plötzlich klar wurde, dass sie seit vielen, vielen Monaten nicht mehr gelacht hatte und vielleicht überhaupt noch niemals so ehrlich wie gerade eben.

„Du bist schön, wenn du lachst, Kleine. Weißt du das?“

Aurun sah verlegen zu Boden.

„Ich mach uns einen Tee!“, entschied Gertran. „Dazu ein paar Nüsschen und Kokosplätzchen. Ein paar Pfunde mehr könntest du schon vertragen. Na, wir werden dich schon aufpäppeln.“

„Ich habe nachgedacht“, sagte Aurun leise, als sie schließlich nebeneinander saßen und wohlig dem ersten Schluck warmen Tee hinterhergeschmeckt hatten.

„Und?“

„Ich bin mir ganz sicher, das ich nicht fünfzig Jahre hier bleiben will. Oder hundert. Oder wie alt auch immer wir Klone werden können.“

„Aha! Und?“

Aurun zuckte mit den Schultern. „Was soll ich sonst noch sagen? Was willst du hören? Ich bin fast erwachsen, ich habe die Schule durchgemacht, weiß alles, was ich wissen muss, bin gesund, bin bereit, der Gesellschaft der Kleinen Leute ein gutes Mitglied zu sein, und sie stecken mich hier rein. Warum? Weil irgendetwas an meinem Körper nicht richtig ist. Kann ich was dafür? Das ist doch nicht … wie soll ich sagen?“

„Gerecht?“

„Nicht gerecht, ja!“

„Nicht richtig?“

„Ja, nicht richtig!“

„Gemein?“

„Ja, gemein, gehässig, furchtbar. Was soll die Fragerei? Du hockst doch schon seit fünfzig Jahren hier. Du weißt doch besser, was es ist und was nicht!“

„Du hast Recht, Aurun. Ich weiß es. Und ich sage es dir: Es ist un-mensch-lich.“

„Un-mensch-lich“, wiederholte Aurun langsam. „Ja, vielleicht ist das das Wort: unmenschlich.“

„Richtig!“, sagte Gertran, „ Und was nützt diese Erkenntnis? Die kann man, wie du siehst, hier am ersten Tag gewinnen. Was mich seit vielen, vielen Jahren beschäftigt, ist: Wenn das hier unmenschlich ist, was ist dann menschlich? Die da draußen, unsere hochgelobte Gemeinschaft der Kleinen Leute, ist die menschlich? Sind wir Klone überhaupt menschlich? Und wenn wir es nicht sind, wo sind denn die Menschen, die Megahomo sapiens? Wo? Was ist passiert, vor und nach diesem Jahr null, von dem unsere offizielle Geschichtsschreibung sagt, es wäre unser Anfang gewesen. Wer oder was war vor uns und wo ist es jetzt? Es ist wie das Licht der Sonne. Wenn man versucht hineinzusehen, erblindet man. Wird behauptet! Aber über all die Jahre bin ich vor allem zu einer Erkenntnis gelangt: Wenn wir wollen, dass in der Zukunft das Unmenschliche aufhört, müssen wir verstehen, was in der Vergangenheit geschehen ist.“

„Ich weiß, was geschehen ist! Ich habe in der Schule von der Vergangenheit gelernt“, sagte Aurun. „Vor uns gab es den Megahomo sapiens, eine riesengroße Menschenart, die ausgestorben ist, weil sie ihre Reproduktionsmechanismen nicht in den Griff bekommen hat. Es wurden zu viele, sie konnten nicht mehr ernährt werden.“

„Lüge!“, rief Gertran erregt. „Alles Lüge! Denk doch einmal nach. Wenn es wirklich so gewesen wäre: Eine Menschenrasse vermehrt sich so lange unkontrolliert, bis es zu viele sind, bis die Individuen nicht mehr ernährt werden können. Was passiert denn dann?“

„Sie stirbt aus!“

„Blödsinn! So hat man es euch beigebracht. Aber denk doch einmal logisch. Es sterben welche, ja, sicher. Viele, vielleicht die meisten. Aber irgendwann wären doch dann nur noch ganz wenige da. Und die haben dann wieder genug zu essen. Die letzten müssten doch überleben.“

Aurun nickte erstaunt. Das klang logisch. Aber was passierte dann mit diesen letzten? Was war mit ihnen passiert?

„Das ist die Frage!“, sagte Gertran. Anscheinend hatte Aurun ihren letzten Gedanken laut gedacht.

„Eine der Fragen“, korrigierte sie sich. „Es gibt noch viele andere. Zum Beispiel: Wer hat die ersten von uns geklont? Und woraus? Woher kam diese Zelle, aus der wer-auch-immer diesen allerersten Klon geschaffen hat? Sind wir vielleicht nur missglückte, geschlechtslose Miniaturausgaben der Megahomos? Ist da irgendetwas schief gelaufen?“ Gertran stoppte ihre erregte Rede, griff zu ihrer Tasse und trank einen Schluck Tee. Mit einer ganz anderen, fast verschwörerisch leisen und tiefen Stimme fragte sie Aurun dann: „Was sagt dir ‚Bottom‘?“

„Bottom ist das heiligste Geheimnis, das von der Gemeinschaft der Kleinen Leute als der Ursprung des Lebens verehrt wird“, schnurrte Aurun wie aufgezogen.

„Richtig, Gut gelernt. Setzen. Aber: Hast du Bottom gesehen? Weißt du, was es ist? Warst du dort? Kennst du jemanden, der Bottom kennt? Weißt du, wo es liegt? Kennst du jemanden, der es gesehen hat?“

Aurun schüttelte den Kopf.

„Siehst du. In meinem ganzen langen Leben konnte mir noch nie jemand sicher sagen, wer, wo oder was Bottom ist. ‚Heiliges Geheimnis‘, was lassen wir uns noch alles für einen Unsinn erzählen? Alte, noch ältere als ich, alte Klone, die mit zu den ersten gehörten, haben behauptet, Bottom sei ein Ort. Der Ort, an dem die ersten von uns erschaffen wurden. Als ich jung war, hat man versucht alle diese Dinge herauszufinden. Aber dann haben sich die Machtverhältnisse geändert. Plötzlich war all das nicht mehr wichtig. Wenn man sich überhaupt mit irgendetwas beschäftigt hat – denn du weißt, die stärksten Wesensarten dieser Neutra sind Gleichgültigkeit, Interesselosigkeit, Gefühlskälte und Faulheit – wenn also, dann hat man sich lieber mit der Frage beschäftigt, wie man mutierte Klone vom Rest der Gemeinschaft fernhält und Ähnliches. Und seit die Weißen das Sagen haben, können wir froh sein, dass sie uns überhaupt am Leben lassen. Die echten Fragen sind allerdings noch immer ungeklärt: Wo kommen wir her? Wer sind wir? Wo ist Bottom? In einem bin ich mir sehr sicher: Unser aller Rettung liegt darin, diesen verdammten Ort Bottom zu finden!“ Sie ließ sich zurückfallen, erschöpft von der langen Rede. Sie hatte auf Auruns Neugier spekuliert und sie hatte sich nicht getäuscht.

„Du meinst also, es ist ein richtiger Ort? Ein Platz, eine Stadt? Etwas Wirkliches, wo man hingehen könnte und finden, was menschlich ist?“

Gertran nickte. „Menschlich, männlich, weiblich – ich denke, man könnte dort alles finden. Und ich denke, es wird höchste Zeit, danach zu suchen.“ Die Alte sah Aurun bei diesem letzten Satz an, sah ihr eindringlich in die Augen. Aurun bemühte sich standzuhalten und den Blick nicht abzuwenden.

„Höchste Zeit!“, wiederholte Gertran beschwörend.

„Kann ich vielleicht noch etwas Tee haben?“, fragte Aurun, um den unangenehmen Moment zu beenden.

Doch Gertran goss ihr nicht nach, sondern wuchtete sich mühsam in die Höhe und ging zum Fenster. Sie blieb dort schweigend mit dem Rücken zum Raum stehen, bis Aurun schließlich aufstand und sich neben sie stellte.

Zur selben Zeit saß Xylon Xojor unten im Erdgeschoss in seinem Büro neben dem Eingang. Es hatte sich den alten Kopfhörer mit dem zur Hälfte zerbrochenen Bügel über den blanken Schädel geschoben und versuchte zu verstehen, was in Raum Nummer 107 gesprochen wurde. Man erwartete von ihm, dass es Bescheid wusste. Die Gemeinschaft der Kleinen Leute hatte es auf Grund seiner überragenden Fähigkeiten zum Leiter dieses Separationshauses bestimmt und es würde diese Arbeit so gut machen, wie man es von ihm erwartete. Gute Arbeit bedeutete, weiter aufzusteigen. In die Verwaltung der Stadt, in die Organisation der Gemeinschaft, in die Regierung. Wer oder wo das genau war, wusste Xylon Xojor nicht und es interessierte sich auch noch nicht dafür. Früh genug würde es seinen nächsten Einsatzort kennen lernen, vorausgesetzt, hier ginge alles seinen vorgesehenen Gang.

Bestimmte Individuen wurden ihm überstellt, weil sie auffällige Mutationen aufwiesen. Es galt sicherzustellen, sie vom Rest der Gemeinschaft getrennt zu halten. Das war der vorgesehene Gang. Es gab Bewohner, die keine Probleme machten, und es gab Bewohner wie Gertran Ewinewi. Um Aufruhr zu vermeiden, musste man solche Individuen im Auge behalten. Musste erfahren, mit wem sie was zu besprechen hatten, was sie planten, mit wem sie Kontakte knüpften. Man musste spähen und lauschen und Berichte schreiben. Genaue Berichte, mit Datum und Uhrzeit, musste sie schreiben und verschicken an die, die entscheiden würden, was zu tun sei.

Es gab einen Boten, der einmal am Tag kam und seine Berichte vom Separationshaus in Empfang nahm und weiterleitete. Gute, ausführliche Berichte bedeuteten gute Arbeit. Gute Arbeit bedeutete, weiter aufzusteigen. Und das war es, was Xylon Xojor antrieb. Aufsteigen und besser sein als die anderen. Mächtiger sein. Xylon hatte von seinem Sitz aus die Eingangstür im Blick. Konzentriert lauschte es den Stimmen in seinem Kopfhörer und konnte doch sicher sein, dass niemand das Haus betreten oder verlassen konnte, ohne seine Aufmerksamkeit zu erregen.

X-Klone konnten ihr Gehirn auf mehrere Dinge zugleich konzentrieren. Jedes Mal, wenn eines an seinem großen Sichtfenster vorbeiging, sah es auf die Uhr und merkte sich die Zeit. Und am Ende des Tages schrieb es eine Liste mit all den Namen und Zeiten, ohne sich nur ein einziges Mal zu irren, und legte sie seinem Tagesbericht bei. Zugleich lauschte es den Stimmen aus dem Kopfhörer und schrieb nieder, was der Problembewohner Nummer eins, Gertran Ewinewi, dem neuen E-Klon Aurun Ebanan erzählen zu müssen glaubte.

Sie planen Bottom, das Heilige, zu suchen!, schrieb Xylon, während es zugleich weiterlauschte und zur Tür hinsah und so versuchte das zu tun, was von ihm erwartet wurde.

„Dort draußen, die Stadt, das ist alles, was du kennst, oder?“, fragte Gertran gerade. Sie stand mit Aurun vor der bodentiefen Scheibe und sah hinaus.

Aurun nickte.

„Dort irgendwo in den Ruinen hat dein Preklon dich aufgezogen, dort bist du zur Schule gegangen. Hast du dich nie gefragt, was außerhalb dieser Stadt ist?

„Doch, schon. Ich …“

Aber Gertran ließ sie nicht zu Wort kommen.

„Hast du dich nie gewundert, woher diese vielen alten Häuser kommen? Riesengroß, viel größer, als wir sie brauchen. Viel mehr als wir brauchen. Wenn eines zusammenbricht, nehmen wir einfach das nächste. Niemand baut neue Häuser, neue Straßen. Alles stammt aus dem Megaho.

Unter der Stadt laufen riesige Tunnel, durch die früher Züge fuhren, weißt du das? Sie hatten Brücken, die über das Meer reichten, und Maschinen, die fliegen konnten. Überall finden wir solche großartigen technische Einrichtungen, aber fast nichts funktioniert mehr. Alles ist zerfallen. Und niemanden stört es. Wir leben in all dem, als sei es schon immer so gewesen und als würde es nie anders werden. Sind wir Tiere? Warum fragt keiner nach den Ursprüngen, nach den Gründen? Warum schaut niemand in die Sonne? Warum haben die Megahomos so etwas gebaut? Und wie haben sie es gebaut? Und warum hat das alles aufgehört? Stell dir diese riesige Stadt vor, voll von großen Menschen, die gemeinsam dies alles geschaffen haben. Ist das nicht wundervoll?“

Aurun unterbrach sie mit fester Stimme: „Ich habe darüber nachgedacht, Gertran. Schon oft! Doch in der Schule haben wir gelernt, dass der Megahomo sapiens ein gemeinschaftsunfähiges Wesen war, unfähig seine Welt zum Überleben zu organisieren. Und wenn ich Elbon darauf angesprochen habe, hat es nur gesagt, man könne nicht alles verstehen, aber unsere Wissenschaftler arbeiteten daran, all diese Geheimnisse aufzuklären.“

„Unsere Wissenschaftler! Pah! Deren größter Ehrgeiz ist es doch, uns immer wieder einzubläuen, wir seien diesen Megahomos in jeder Hinsicht meilenweit überlegen. Aber ist es nicht offensichtlich, dass all dies Lüge ist? Dass in Wirklichkeit wir, mit unseren armseligen Kommunikatoren, unserer Wissenschaft, die mit Mühe das Klonen beherrscht, und dem bisschen funktionierender Elektrizität die wahren Nieten sind? Diejenigen waren die Genies, die Fluggeräte, Züge in Tunnel, riesige Stahlschiffe, Denkmaschinen, bis zum Himmel reichende Häuser und kilometerlange Brücken erdacht und gebaut haben! Und die vielleicht sogar uns geschaffen haben! Kann es nicht sein, dass wir all das gar nicht so richtig wissen sollen?“

Aurun dachte nach. Dann nickte sie. „Ja, vielleicht. Vielleicht hast du Recht, vielleicht ist es so. Vielleicht sind wir die Nieten und sollen es nur nicht wissen– was ich schon in der Schule nie verstanden habe“, fuhr sie fort, „es ist doch alles da. Wir könnten ja alles anschauen, könnten alles nachmachen, lernen. Bloß scheint es niemandem wichtig zu sein. Warum? Andererseits – leben wir nicht auch ohne das alles?“

Gertran nickte erregt. „Wir leben, das ist wahr. Aber das ist es dann auch schon, mein Kind. Wir sind so furchtbar satt. Nichts interessiert uns, nichts wollen wir verbessern, nichts treibt uns. Und das führt zur wesentlichen Frage: Was hat uns eigentlich so satt gemacht? Oder andersherum, wenn du mein Bild verstehst: Was machte den Megahomo sapiens so hungrig, dass er all dies erschaffen musste?“

Gertran war zurück zu den Polstern gelaufen, hatte sich schnaufend fallen lassen. Aurun stand noch am Fenster, sah hinaus. Sie fühlte plötzlich, dass sie dort hinaus musste, in die Stadt, und weiter. Weiter, um zu sehen, um zu lernen. Vom wirklichen Leben zu lernen, nicht von dem, was sie ihnen in der Schule als das Leben verkauft hatten.

„Ehrlich gesagt“, sagte sie, ohne sich zu Gertran umzudrehen. „Ehrlich gesagt fühle ich mich persönlich gar nicht so satt. Mein Preklon, ja, vielleicht. Viele andere, die ich kenne. Die meisten eigentlich. Aber ich nicht, noch nie. Ich wäre immer lieber irgendwo dort draußen gewesen. Da draußen in der Welt.“

„Eins und eins macht … ?“, sagte Gertran.

„Bitte?“

„Zähle eins und eins zusammen! Da draußen sind viele satte Neutra, tummeln sich dröge und tun nichts, mal abgesehen von den Xen, die getrieben sind von ihrer Machtgier. Und hier drin sind Geschlechtswesen, Weibchen, mehr oder minder. Sie lachen, weinen, stellen neugierige Fragen und wären gerne überall.“

„Du meinst, mit dem Geschlecht kommt die Neugier?“

Gertran nickte. „Nach vielen Jahren der Beobachtung bin ich zu diesem Schluss gekommen. Ja, mit dem Geschlecht kommt die Neugier. Es kommt der Ehrgeiz, die Energie, der Mut, die Angst, der Hass, die Zuneigung – das Menschliche! Wir – oder sollte ich besser sagen die anderen –, sind nur sich immer wieder künstlich reproduzierende Organismen, Überlebensmaschinen, darauf bedacht, nicht zu sterben. Ich habe lange über Leben und Sterben nachgedacht, habe sogar ein paar Jahre lang heimlich Mäuse hier in meinem Zimmer gehalten, um zu verstehen, was uns und diese Wesen am Leben hält. Und ich habe festgestellt, dass es zwei Willenskräfte gibt, die das Leben bestimmen: Es ist der Wille zum Erhalt des eigenen Lebens und es ist der Wille zum Erhalt der eigenen Art. Den ersten, den Lebenswillen, haben wir Klone auch. Sonst würden wir da oben, am Ende der luftigen Blumenwiese, einfach weiterlaufen. Der zweite Wille aber, dafür zu sorgen, dass unsere Art erhalten bleibt, der fehlt uns oder er ist fast vollständig verkümmert. Uns schert doch nichts außer uns selber. Und daran werden wir letztendlich zu Grunde gehen, außer …“

„Zu Grunde gehen?“, fragte Aurun, die erschrocken den Gedanken von Gertran gefolgt war.

„… außer es gelingt uns, wieder Mensch zu werden.“ Nach dieser langen Rede schwieg Gertran. Mehr, das spürte man deutlich, wollte sie jetzt nicht erklären. Sie blickte wortlos die junge Klonfrau an, die verwirrt zu Boden sah.

Das Buch war aufgeschlagen, das verstand Aurun. Nun lag es an ihr, darin zu lesen.

Gertran war wortlos an ihren Tisch getreten und nahm etwas auf, was dort lag, als sei es absichtlich zurechtgelegt worden. Es war ein silbernes Kettchen mit einem dicken, hochglänzend silbernen Anhänger daran. Aus tiefblauem Lapislazuli war in das Amulett eine kreisförmige Fläche eingelegt, kleine goldene Einschlüsse leuchteten in dem blauen Stein. Um den Stein herum glitzerten einige winzige Diamanten.

Gertran ging hinüber zu Aurun und hängte ihr das Kettchen um den Hals.

„Ich bin jetzt bei dir, immer!“, sagte Gertran geheimnisvoll. Dann schob sie Aurun aus dem Zimmer.

Allein auf dem Gang betrachtete Aurun eine Weile das wertvolle Geschenk, dann ließ sie es fast unbewusst unter ihr Hemd gleiten. Niemand trug Schmuck und sie wollte nicht mit diesem Stück um den Hals auffallen.

Erstaunlicherweise fühlte sich das Metall auf ihrer nackten Haut nicht kalt an, wie sie es erwartet hatte, sondern auf eine merkwürdige Weise warm. Warm wie die aufgehende Sonne, die ihr am Morgen auf die Brust geschienen hatte, warm wie der Moment, als sie in Gertrans Arm gesunken war.

Warm, als ob tatsächlich jemand nahe bei mir ist, dachte Aurun.

Perfekt Geklont

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