Читать книгу Perfekt Geklont - Reinhold Ziegler - Страница 7
6
ОглавлениеAls Aurun am nächsten Morgen gerade vom Frühstücksbüfett aufgestanden war und zurück auf ihr Zimmer gehen wollte, kam ihr an der Schranke zum Speiseraum Gertran entgegen. Fröhlich wie immer grüßte sie, dann drückte sie Aurun im Vorbeigehen heimlich etwas in die Hand. Aurun wartete, bis sie im Aufzug stand, bevor sie ihre Hand öffnete: Es war ein kleiner Schlüssel.
In ihrem Zimmer legte sie ihn auf den Tisch. Warum tat Gertran so geheimnisvoll? Was wollte sie von ihr? Jetzt dieser Schlüssel, von dem sie ziemlich sicher meinte, ihn als den Schlüssel der Dachtür erkannt zu haben. Und gestern dieses Amulett, das Aurun noch immer unter ihrem Hemd trug. Sie zog es heraus, um es noch einmal genauer zu betrachten. Noch immer fühlte es sich merkwürdig an, aber Aurun merkte jetzt, dass es nicht Wärme war, was die silberne Scheibe abgab. Sie schien vielmehr fast unmerklich zu summen, und zwar verschieden stark, je nachdem, wie man die Scheibe hielt. Aurun drehte und wendete sie hin und her, dabei stellte sie fest, dass man den blauen Stein in der Mitte ein klein wenig hineindrücken konnte wie einen Klingelknopf. Und immer wenn sie das tat, schien sich das Summen für einen Augenblick zu verändern.
Nach einer Weile hatte sie genug damit herumgespielt. Ärgerlich, weil sie nicht herausbekam, was es mit dem Anhänger auf sich hatte, schob sie ihn wieder unter ihr Hemd.
Kurz darauf spürte sie zwei-, dreimal ein starkes Vibrieren auf ihrer Brust.
Aurun sah auf den Schlüssel. Was ging hier vor? Wollte Gertran wieder einmal, dass sie eins und eins zusammenzählte? Hatte sie nach ihr gerufen? Sollte sie aufs Dach kommen?
Als sie sich gerade entschieden hatte, tatsächlich nach oben zu gehen, summte ihre Türglocke.
Ah, dachte sie froh, also doch kein geheimes Rufzeichen, sie kommt mich besuchen.
Sie ging schnell zur Tür, öffnete, sagte fast fröhlich: „Gegrüßt!“ – aber es war gar nicht Gertran. Vor der Tür stand dieses oberste X-Klon, einen Kopf größer als Aurun, mit hartem, undurchschaubaren, rotäugigen Blick.
„Gegrüßt!“, sagte es und versuchte ein Nicken, was durch den kalkweißen, haarlosen Schädel, wie ihn die Xe haben, eher bedrohlich als freundlich aussah. „Xylon Xojor, falls Sie sich nicht mehr erinnern sollten!“
„Aurun Ebanan“, sagte sie schüchtern.
„Ich weiß, ich weiß. Ich kenne die Namen aller Bewohner, alle Zimmernummern, alle Daten. Unsere Familie hat ein bemerkenswertes Gedächtnis – aber das wissen Sie ja bestimmt!“
Aurun nickte. Man hörte so viel über die X-Klone, die angeblich eigens dazu geklont worden waren, die Sicherheit innerhalb der Gemeinschaft der Kleinen Leute aufrecht zu erhalten. Sie sollten stärker, größer und schneller sein als die Klone der übrigen Familien und angeblich waren sie ihnen auch an Intelligenz weit überlegen.
Größer zumindest sind sie, dachte Aurun und schaute vorsichtig zu dem Klon auf.
Xylon nickte wieder, wies auf die Stühle an ihrem Tisch und sagte: „Ich darf doch einmal reinkommen – wir müssen etwas bereden.“
Aurun wich zurück und ließ das Klon in den Raum eintreten. Es sah sich schnell um, für einen Moment blieb sein Blick an dem Schlüssel hängen, der auf dem Tisch lag, dann setzte es sich und forderte Aurun mit einer Handbewegung auf, dasselbe zu tun.
„Und?“, fragte es gefährlich freundlich. „Schon Kontakte geknüpft?“
„Kaum“, log Aurun, „ich bin ja erst zwei Tage hier.“
„Gertran Ewinewi, das dicke Alte!“, kam das X sofort zur Sache. „Das kennen Sie aber schon?“
Aurun nickte.
„Ich will nicht drum herum reden. Gertran ist langsam ein echtes Problem für uns und wir denken schon darüber nach, ob wir es nicht von den anderen isolieren sollten. Es ist …“, und bei diesen Worten beugte es sich zu Aurun, als habe es etwas zu sagen, was niemand sonst hören durfte, „… es ist ein wenig verrückt, verstehen Sie. Missfunktion des Gehirns. So was kommt vor, aber die Gesetze verbieten, so etwas auf einfache Weise zu lösen.“
„Aber sie – es …“, wollte Aurun widersprechen, doch Xylon schnitt ihr das Wort ab.
„Da sehen Sie, Sie nennen es schon eine ‚sie‘! Es bringt alle durcheinander mit seiner wirren Geschlechtertheorie. Denkt, wir würden darüber nichts erfahren. Denkt – denkt mit krankem Hirn –, es könnte Gerüchte und Beschuldigungen in Umlauf setzen, sich an jeden neuen Bewohner ranschmeißen und ihn mit wirren Mutmaßungen verunreinigen.“
„Aber sie hat Dinge gesagt, die überhaupt nicht verrückt klangen“, widersprach Aurun mutig, nannte nun absichtlich und trotzig Gertran eine ‚sie‘, auch wenn sie sah, wie Xylon bei diesem Wort jedes Mal ein wenig zusammenzuckte.
„So? Zum Beispiel?“
Aurun begriff, dass sie zu viel gesagt hatte. Trotzig beschloss sie, ab jetzt zu schweigen.
Das X-Klon richtete sich auf seinem Stuhl auf, sodass es noch bedrohlicher aussah. Jede Freundlichkeit, selbst die mühsam gespielte, war mit einem Mal aus dem Gesicht verschwunden.
„Sie wollen nicht mit uns zusammenarbeiten, Aurun Ebanan?“, fragte es.
Aurun schwieg.
„Denken Sie nur nicht, wir wären auf ihre Berichte angewiesen. Wir wissen mehr, als Sie und Gertran denken. Das Dach zum Beispiel. Gehen Sie nur hoch!“ Mit einer abfälligen Geste schob es den kleinen Schlüssel über den Tisch zu Aurun hinüber. „Glauben Sie, wir kennen den heimlichen Platz des Alten nicht? Vor dreißig Jahren hat es diese Bank dort hoch geschleppt. Jeden Morgen sitzt es nun dort oben und beobachtet die Sonne beim Aufgehen. Nicht sehr zweckmäßig, diese Tätigkeit – was meinen Sie, Aurun? Da gäbe es Nützlicheres zu leisten in unserer Gesellschaft der Kleinen Leute, als Morgen für Morgen ins Sonnenlicht zu glotzen, oder?“
„Nützlich!“, rief Aurun aufgebracht. „Was reden gerade Sie von nützlich? Packen uns lebenslang in dieses Geisterhaus – was soll daran nützlich sein?“
„Sehen Sie, kleines Aurun. Das ist der Einfluss des verrückten alten E-Klons. Haben Sie denn die Hausordnung nicht gelesen? ‚Sie werden hier nichts entbehren‘, steht dort, ‚Arbeit wird Ihnen zugeteilt‘. Und sehen Sie in Ihre Einweisungspapiere! Steht dort lebenslänglich? Nein, dort steht ‚bis auf weiteres‘. Täglich verlassen fast genauso viele Klone dieses Haus, wie neue aufgenommen werden. Manche leben hier, obwohl sie gehen dürften. Aber sie wollen nicht gehen, sie fühlen sich wohl hier. – Ein guter Rat …!“ Plötzlich versuchte das X-Klon wieder den Freundlichen zu spielen, legte sogar viel zu vertraulich seine große Hand auf Auruns Arm. „Ein guter Rat, kleines Aurun. Kommen Sie mit Ihren Problemen, falls es welche gibt, lieber zu uns – zu mir persönlich, wenn Sie wollen. Versuchen Sie nicht Hilfe von einem verrückten E-Klon zu bekommen, das Sie über kurz oder lang mit ins Unglück hineinziehen wird.“
Xylon Xojor stand auf und ging auf die Tür zu. Dann drehte es sich noch einmal um. „Ich sage Ihnen etwas, ganz unter uns: Wir hoffen seit vielen Jahren, dass sich das Problem Gertran Ewinewi dort oben auf dem Dach vielleicht eines Tages von selber löst. Zweiundsechzigster Stock – manchmal ist es recht windig dort oben. Aber bisher kam keine Weisung, dem Wind nachzuhelfen. Obwohl es für alle besser wäre.“ Dann verschwand es.
Aurun blieb alleine zurück, ihr Herz klopfte wie wild. Sie wusste nicht, was sie nun tun sollte, stand wie versteinert und starrte auf die Tür, die das X-Klon hinter sich zugezogen hatte. Wieder kroch ihr die Angst in den Nacken. Ihr Blick fiel wieder auf den Schlüssel, sie hatte plötzlich die Idee, ihn zu nehmen und in den riesigen Müllschlucker neben dem Aufzug zu werfen. Aber als sie vor der großen, verdreckten Klappe stand, überlegte sie es sich anders. Schnell steckte sie den Schlüssel in die Tasche, betrat entschlossen den Aufzug und drückte auf den obersten Knopf mit der Aufschrift 31.