Читать книгу Spätvorstellung - Reinhold Zobel - Страница 3
Kapitel 1
ОглавлениеEs gibt keine bessere Zeit als die Stunde nach Sonnenaufgang. Es gibt keinen besseren Ort als den eigenen Ereignishorizont, sofern man, was selten der Fall ist, Herr der Lage bleibt.
Der vorliegende Tag, ein Dienstag, endete, wie es gelegentlich geschieht, anders als erwartet. Und pfiff dazu ein junges altes Lied. Unterlegt mit einem sanften Knistern, wie man es von Grammophonscheiben kennt. Gut möglich, dass es sich dabei um etwas aus der Abteilung ‘Einbildung’ handelte. Eine eingebildete Show, gemalt mit Tönen, gesungen&gepfiffen, als Beilage und/oder im Schattenriss.
Bin ich Teil oder Schöpfer dieser…Beilage? Lux schiebt den Gedanken beiseite. Was faktisch misslingt. Es ist, all habe er ein paar Überlegungen daran gehindert, ihre Notdurft zu verrichten. Sie drücken ihn. Drücken auf die Blase, die sein Gehirn ist. Geist, denkt er, wäre hier vielleicht ein zu starkes Wort.
"Lux Hardi?! ”
Der Angesprochene dreht sich um, wie man es für gewöhnlich tut, wenn hinter einem etwas ist, dass einen betrifft oder betreffen könnte. Lux sieht einen Mann. Der Mann ist geschmackvoll gekleidet und fortgeschrittenen Datums wie er selbst. Er rudert wild mit den Armen, während seine Gesichtsmuskeln ein mandarintiefes Lächeln auffächern. Seine Stimme rollt über den Platz. Ein starker angenehm temperierter halbdunkler leicht vibrierender Bass.
Lux kennt den Mann. Irgendwoher. Er bleibt stehen. Winkt zurück. Zögernd zunächst. Er macht einen Schritt zur Seite. Er stößt gegen etwas. Es ist nicht die Spanische Treppe, auch nicht der Taj Mahal. Es ist eine Parkuhr. Und ein, wie es ihm vorkommen will, wimmerndes metallisches Geräusch dringt an sein Ohr. Haben, denkt er, Maschinen womöglich eine Seele?
Kaum Unruhe, kaum Unrast oder Ungeduld ringsumher. Gedämpftes Puppenspiel. Das war gestern. Bis auf weiteres leuchtet, als späte Herbstatrappe, der November. Das ist das Heute. Und wer, denkt Lux, mit Schalkeinlage, unbotmäßig Einlass begehrt in Honolulu, Ho, im Himmel, Hades oder auch in Hilversum, der sollte wissen, worauf er sich einlässt…Was aber könnte das Morgen oder Überübermorgen bringen?
“Tony Thadeus?”
“Gütiger Himmel! Wielange mag es her sein, dass wir einander das letzte Mal…”
“…begegnet sind… fünfzig Jahre?”
“Zweiundachtzig?Hundertsechsundzwanzig?”
“Woher kommst du?”
“Aus dem Untergrund, genauer: aus der Metro. Und du?”
“Von einem Banktermin.”
“Also, mein Lieber, wohin lenken wir unsere Schritte?”
“Du meinst..?”
“Natürlich. Das verdient, denke ich, besondere Maßnahmen? Bist du bereit?”
“Für dich. Für uns… keine Frage.”
Pluto, ein klitzekeines klassisches Café am Rande der Milchstrasse. Pulsare. Kometen. Später Nachmittag. Cirruswolken.
“Verstehe.”
“Du verstehst was?”
“Fluch und Segen des Alters sind: Man wird nicht mehr, man ist.”
“Habe ich das gesagt?”
“Du sagtest, Tony, so ich mich recht erinnere - die Dinge müssen in Bewegung sein.”
“Dinge? Welche Dinge?”
“Dinge jeglicher Art.”
“Das habe ich gesagt?”
“Hast du - alles hat ja aber bekanntlich auch seine Zeit.”
“Gewiss. Flugsand beispielsweise, Lebertran, Kaiserreiche, Bügelfalten, Bürgschaften…”
“Und manchmal, nicht wahr, verhält es sich gar so: Man betrachtet seine Füße, Zehen, Finger, Hände, man betrachtet seine gesamte Physis, und fühlt sich, als sei man Fremder im eigenen Haus.”
“Jetzt spielst du wieder auf unser Alter an?”
“In Teilen…Willst du sehen, was ich heute bei mir im Briefkasten fand?”
“Du bekommst noch Post?”
“Gelegentlich. Es ist eine Ansichtskarte… Hier lies einmal.”
Tony setzt die Lesebrille auf und liest wunschgemäß. Und mit Stirnrunzeln:
“…Schon eine geringfügige Verschiebung der Kinnlade bewirkt einen komplett anderen Ausdruck.”
“Das wissen die wenigsten, nicht wahr?”
“Mag wohl sein. Aber die wenigsten wissen auch, dass - wie unser früherer Biologielehrer gern sagte - im 19. Jahrhundert ein reger Handel mit Blutegeln im Schwange war…Apropos Mimik: Im Anfang war - bitte, korrigiere mich - nicht das Wort, sondern die Mimik.”
“Zutreffend. Bei mir verhält es sich allerdings, wie ich glaube, eher umgekehrt.”
“Ah ja?”
“Rührt vermutlich daher, dass ich einer noch weitgehend unerforschten Spezies angehöre.”
“Der Kellner kommt… Was trinken wir, Lux?”
“Für mich Rum. Plus Mineralwasser.”
Lux rollt sich eine Zigarette. Rauchwerk ist hier zulässig. Ja, das gibt es noch - an raren Orten auf diesem Erdball. Und es erfolgt unstatthafterweise kein Eintrag ins Klassenbuch. Kennt die Schule des Lebens doch nicht allein Streber, Statthalter und Sitzenbleiber, sondern ebenso Koautoren, Hofnarren und Querverweiser.
“Und du hast, sagtest du, mehrfach den Beruf gewechselt?”
“Weniger den Beruf. Mehr den Wohnort. Das Kostüm. Das Dressing. Die Regeln.”
“Verstehe.”
“Im Grunde ist es so, Lux: Ich mag es, immer wieder einmal von vorne zu beginnen.”
“Im Leben? Im Spiel?”
“Im Leben wie im Spiel.”
“Hat untertage ein gewisses numinoses Aroma von Pathos.”
“Warum nicht.”
“Ja, warum eigentlich nicht.”
“Und was ist mit dir, mein Freund - lebenshistorisch betrachtet?”
“Nun ja, temporär wie phasenweise leide ich, und das meist ungepaart, unter Stimmungsschwankungen. Mir ist dann wie auf hoher See.”
“Du leidest?”
“Nun ja, deuten wir es volkstümlich: des einen Leid ist des anderen Freud.”
“Und wer ist der andere?”
“Nun ja, schätze, es ist mein zweites, tiefer gelegtes Ich.”
Die Getränke sind da. Die Freunde stoßen an. Denn es sind ja Freunde. Freunde aus frühen Tagen. Man nannte sie auch Plisch&Plum. Nur konnte man sich nie einig darin werden, wer denn nun Plisch war und wer Plum. Die Auffassungen hierüber changierten, vergleichbar etwa dem unter Einwirkung von Sonnenlicht reflektierenden Farbenspiel in einem Goldfischglas. Vereinfachend gesagt: sie klafften auseinander.
Lux war über Jahre ein dickes Kind. Tony ein dürres Gestell. Man nannte ihn auch: Skeletti. Heute ist es, den Leibesumfang betreffend, der Tendenz nach umgekehrt. Tony war blond, Lux hingegen dunkelhaarig. Heute sind sie beide grau, abendnebelgrau. Das verdankt sich keiner göttlichen Trinität. Denn sie bilden ja kein Dreigestirn.
Und doch. Es existierte einst eine weitere Person (ein dritter Knabe) namens Sönke. Sönke hatte eine Schwester, in die beide, Lux und Tony, verknallt waren. Eine Romanze, wie es ihrer viele und sie immer wieder gibt, und eine mit tödlichem Ausgang. Das Mädchen hieß Marie. Sie hatte ein sonnenhungriges Gemüt, knallblaue Augen sowie ein knallbuntes Nervenkostüm, das entfernt nach Karneval duftete. Sie schenkte beiden Jungs abwechselnd ihre Gunst, was naturgemäß zu Verwicklungen führen musste. Eines Tages geriet sie mit dem Fahrrad unter einen LKW, und aus war es. Mit ihr. Und mit allem, was dazugehörte.
Sönke, der Bruder, war bereits in sehr jungen Jahren eine Führerpersönlichkeit. Aber auch Führerpersönlichkeiten verlassen irgendwann die Weltbühne. Seine Spur verlor sich kurz nach der Geschlechtsreife im Halbdunkel der Menschheitsgeschichte. Auch Lux und Tony verloren sich eines Tages aus den Augen. So war das. Es hätte natürlich ebensogut anders sein können.
“Du warst so etwas wie Sönkes rechte Hand, seinerzeit, nicht wahr, Lux?”
“Und du sein Ausputzer.”
“Jedenfalls waren wir beide Subalterne.”
“Und wie hießen die Helden, die Idole unserer Adoleszenz?”
“Albert Schweitzer, Robert Koch?”
“Nein.”
“Audie Murphy, Trini Lopez…Julio Cesar Chavez?”
“Nein, nein, nein.”
“Also, wie dann?”
“Sebastian Konatz, Knut Weser.”
“Ach, richtig, die meinst du. Ja, jetzt fällt es mir wieder ein.”
“Nicht wahr. Jungs aus der Nachbarschaft. Große, starke, furchtlose Jungs.”
Die Tür des Cafés klappt auf. Neue Gäste platzen herein. Und von draußen hört man verhalten Vogelgezwitscher. Tri Tra Tralala. Piep.Piep.
“Kürzlich hörte ich auf einer Audioaufnahme meine eigene Stimme.”
“Und?”
“Es war das erste Mal, dass sie mir halbwegs gefiel.”
“Warst du nicht immer schon ein großer Zweifler… insonderheit an dir selbst?”
“Stimmt. Doch es ist besser geworden damit. Dich habe ich in frühen Tagen übrigens vor allem um eines beneidet, Tony: um dein Selbstbewusstsein…Soll ich uns eine Zigarette drehen?”
“Bittesehr. Ich erinnere mich an eine Art Leitmotiv von dir aus jenen frühen Tagen: Ich wollt, ich wär ein Huhn, da hätt ich was zu tun und so weiter.”
“Es gab dazu, eiertechnisch gesehen, einen Gegenentwurf: ein Hund lief in die Küche und stahl dem Koch ein Ei und so weiter. Das wiederum passte, denke ich, mehr auf dich.”
“Ob man Texte wie diese wohl ins Chinesische oder ins Hebräische übersetzen könnte, ohne dass sie ihre Aura einbüßen?”
“Nicht notwendigerweise ihre Aura, dann eher schon ihren Reim.”
“So ist das mit der Grammatik der Hochkulturen. Mal etwas anderes: Spielst du noch Schach?”
“Nein.”
“Schade. Ich finde, es erlaubt zuweilen erholsame Ausflüge ins geordnet Geistige.”
“Und du, bist du eigentlich nach wie vor viel auf Reisen?”
“Nein. Es strengt mich doch zunehmend an. Im Alter zieht man, denke ich, weniger gern in die Fremde, schon deshalb, weil einem selbst zuhause die vertraute Welt mehr und mehr abhanden kommen kann. Woher weißt du übrigens, dass ich viel gereist bin?”
“Vergessen. Irgendwer muss es mir gesteckt haben.”
“Ja, man wird vergeßlich im Alter.”
“Vergeßlicher.”
“Okay. (lächelt) Du hattest seit jeher einen gewissen Putzzwang, was Worte anbelangt, nicht wahr.”
“Bei wechselndem Erfolg, ja.”
“Und was sind heute deine intellektuellen Wegemarken, Lux?”
“Intellektuell? Wir wollen nicht zu hoch greifen. Ich arbeite, sagen wir es mal so, gern mit einer metageistigen Doppelspitze: 1.Meine Zeit ist bald abgelaufen. 2. Meine Zeit wird kommen.”
“Hübsch. Gefällt mir. Was meinst du, mein Freund, bestellen wir etwas zu essen?”
“Man kann hier essen?”
“Man kann. Wenn auch nur eingeschränkt; Omelett, Salate und Ähnliches.”
“Hunger hätte ich.”
“Das Leben im Konjunktiv… Ich rufe mal die Bedienung.”
Sie müssen nicht lange warten. Aufs Essen. Es dampft. Nur von Tonys Teller, Lux hat Salat mit Huhn bestellt. Tony Bratei mit Speck. Man schweigt, eine Weile; während der Mahlzeit.
“Und wie schaut es bei dir geschlechtsspezifisch so aus, mein Freund?”
“Du stellst Fragen… ich würde sagen, unter den Blinden ist der Einäugige König.”
“Das heißt?”
“Selbstversorger.”
“Masturbation?”
“Ja. Jeder Schuss ein Versprechen…Dabei fällt mir auf, uns fehlen noch Servietten.”
“Ich sage dem Kellner Bescheid.”
“Und wie lautet der persönliche Lagebericht von Tony Thadeus?”
“Ich habe ein blühendes Weib an meiner Seite, Eva heißt die Blume, und sie könnte, den Jahren nach, meine Tochter sein.”
“Hm. Hatte früher des öfteren den Wunsch nach einer Tochter.”
“Komm gern gelegentlich einmal vorbei. Vielleicht kannst du meine Eva ja adoptieren.”
“Sei nicht so gehässig, altes Haus.”
“Willst du hören, wie ich meiner Angebeteten bei unserer ersten Begegnung den Hof machte?”
“Nicht notwendigerweise.”
“Ich erzähle es dennoch: In einem kurzen unbewachten Augenblick flüsterte ich ihr ins Ohr: Ich wünschte, ich wäre ein Lockenwickler in Ihrem Haar.”
“Und sie hat das erheitert?”
“Sie lachte, ja. Zwei Stunden später bot sie mir das Du an, und wir tauschten den ersten Kuß.”
“Wie spätromantisch.”
“Und mit Spätfolgen. Für das kommende Spiel.”
“Welches Spiel?”
“Das Spiel der Spiele, alter Hausbockkäfer.”
“Auch, wenn du nicht Franz heißt - den Käfer nimmst du zurück.”
“Komm, mein Junge, lass uns anstoßen - auf die alten Zeiten.”
“Meinetwegen. Weißt du übrigens, worüber ich mich wundere?”
“Nun?”
“Darüber, dass deine Eva wusste, was Lockenwickler sind…”