Читать книгу Spätvorstellung - Reinhold Zobel - Страница 4
Kapitel 2
Оглавление“Lux, darf ich dir noch eine zweite, äußerst intime Frage stellen?”
“Schieß los.”
“Was hältst du vom Ende der Zeitumstellung?”
“Ähm…”
“Bleib ganz ruhig. Du musst nicht sofort antworten.”
“Ich kann mir also Zeit lassen mit einer Stellungnahme?”
“So ist es.”
“Es ist ja auch eine sensible, hochgradig nervöse Angelegenheit.”
“Die Zeit?”
“Eben die…vor allem in unserer Altersliga.”
“Ich denke, letztlich wohl für jedermann.”
“Ja, hm, also…”
“Ja, Lux?”
“Also, ich schlage vor…”
“Ja, mein Lieber?”
“Nun, ich schlage vor, dass wir dieses Thema vorerst vertagen.”
“Und was setzen wir an dessen Stelle?”
“Wir könnten gemeinsam ein Lied singen.”
“Tun wir das nicht bereits?”
“Man könnte es so auslegen, Tony.”
“Was schlägst du diesbezüglich vor, mein Freund?”
“Wenn ich mir was wünschen dürfte… Komponist Friedrich Holländer. Kennst du zufällig die wunderbare Aufnahme mit Greta Keller?”
“Keller? Ich kenne nur die wunderbare Greta Garbo.”
“Macht nichts. Im befreundeten Ausland kennt sie sicher auch kaum jemand.”
Lauter geworden ist es. Im Café. Die beiden Freunde wechseln daher den Tisch, was die junge weibliche Bedienung, die das Essen gebracht hat (nicht der junge Kellner, der die Getränke gebracht hat) möglich macht. Tony schaut noch lange&gern dem sich entfernenden Hüftschwung der jungen weiblichen Bedienung hinterdrein.
“Mit elfeinhalb, was soll ich dir sagen, hatte ich den ersten Sex…sie war vierzig und unsere Putzfrau… mit achtzehn bekam ich mein erstes Auto und mit vierundzwanzig meine erste Geschlechtskrankheit.”
“Du warst halt ein Frühentwickler, Tony. Im Gegensatz zu mir. Ich hatte mit vierundzwanzig noch Schlaf in den Augen.”
“Ich weiß da jemand, auf den das gleichermaßen zutrifft.”
“Ein Bekannter?”
“Eine Romanfigur.”
“Ja, man sollte mehr lesen.”
“Oder gelesen werden.”
“Du schreibst?”
“Phasenweise.”
“Und was, wenn man fragen darf? Tagebücher? Dramen? Mordgeschichten?”
“Kochbücher.”
“Das tun ja viele. Heutzutage.”
“Man ist ja auch nur einer unter vielen…. “
“Sonst noch was?”
“Ja…Reiseführer. Beispielsweise. Des weiteren Bedienungsanleitungen. Ich bestreite so meinen Lebensunterhalt.”
“Was war denn Gegenstand deines letzten Reiseführers? Beispielsweise?”
“Detroit.”
“Ah ja?…Ein Halbbruder von mir wollte immer gern dorthin.”
“Soll ich ihm ein Freiexemplar zukommen lassen?”
“Habe leider seine genaue Adresse nicht. Außerdem, er hat eine Lese-Rechtschreibschwäche.”
Lux setzt seine Brille auf, setzt sie wieder ab. Ihm ist entfallen, warum er sie aufgesetzt hat. Er schaut um sich. Er schaut sein Gegenüber an.
“Wie spät ist es,Tony?”
“Dreiviertelsieben… Ist deine Uhr stehen geblieben?”
“Das wäre nicht schlecht… nein, ich habe gar keine.”
“Auch kein Handy?”
“Doch. Aber nicht dabei.”
Im Café stapeln sich, in Bodennähe, vereinzelt Nebelbänke. Seit der Zweiten respektive Dritten Völkerwanderung, so könnte man mutmaßen, ist nicht mehr so massiv geraucht worden. Jedoch der Eigner der Einrichtung stellt baldige Besserung in Aussicht, obschon kein Gast sich bislang beschwert hat. Die hauseigene Klimaanlage, so erfährt man über Lautsprecher, stünde unmittelbar vor ihrer Inbetriebnahme.
“Weißt du, Lux, ich kann mich nicht dazu verstehen, Beilagen dieser Prägung wertzuschätzen. Das sind keine Durstlöscher für Geist und Seele, noch taugen sie als Mörtel für das Mauerwerk einer nichtkollektiven Gedächtnislade. ”
“Obwohl ich nur eine vage Ahnung habe, welche Botschaft sich hinter deinen Worten verbirgt, erscheint mir manches daran doch hypertroph. Ja, ich möchte fast soweit gehen zu sagen, dass du Ähnlichkeiten zu erkennen meinst, wo keine sind.”
“Wünschen die Herren noch etwas zu trinken?”
“Bringen Sie uns bitte noch eine Flasche von diesem fränkischen Rotwein, Sie wissen schon.”
“Kehren wir doch noch einmal zurück zu den späten 80ziger Jahren. Das war nun aber, wie ich finde, in jedem Fall ein in mehrfacher Hinsicht zur Übertreibung neigendes Jahrzehnt.”
“Das finde ich nicht, Tony. Außerdem, für mich war es das Dezennium, in dem mein heutiges Selbst geboren wurde. Vorher war ich nicht mehr als das Abziehbild eines Abziehbilds.”
“Nun bist du es aber, der übertreibt, mein Lieber.”
“Mag sein…mich deinem Verdikt aus, sagen wir, purer Höflichkeit vorübergehend beugend.”
“Was hat dich an diesem Jahrzehnt denn nur so gefesselt?”
“Es hat in vielen Bereichen Zeichen gesetzt, es war bunt, es war neugierig, es war schöpferisch. Und für mich galt, obwohl nicht selten einsam - ich war verliebt in die Gegenwart.”
“Liebe macht bekanntlich blind.”
“Blinde sehen bekanntlich anders.”
“Na schön, Lux. Belassen wir es dabei. Man muss dir ja nicht in allem und überallhin folgen…
Drehst du mir noch eine Zigarette?”
“Natürlich. Jetzt fällt mir gerade wieder ein, wozu ich vorhin meine Brille aufgesetzt hatte… ich wollte meine Augen gegen den Tabakrauch schützen. Sie sind in letzter Zeit so empfindlich.”
“Ich weiß etwas, was dagegen hilft.”
“Und das wäre?”
“Una siesta, amigo.”
Nicht lange, nachdem die klimaanlagenbezogene Ansage über die Lautsprecher erfolgt ist, ertönt aus denselben Musik; dem allgemeinen Verständnis nach - populäre Musik.
“Kennst du ja ohne Frage… das Stück, meine ich, das gerade gespielt wird.“
“The Thrill is Gone… aber gewiss doch. Wir haben früher schließlich untereinander so manches Vinyl vom King getauscht. Du erinnerst dich?”
“Ich erinnere mich.”
Im Café Pluto geht als nächstes der Song “9” von Drake auf Sendung. Und dessen Bässe bohren sich kraftvoll bis in die untere Lithosphäre - Neutrinos kennen keinen Schmerz. Tony Thadeus kratzt sich gedankensatt an seinem schlohweißen Backenbart. Lux schaut zu. Er ist bartlos, aber unrasiert. Und er muss - er weiß nicht weshalb - daran denken, irgendwo gelesen zu haben, dass man mit unbewaffnetem Auge etwa 6000 Sterne am Nachthimmel erkennen kann (oder waren es 5000?).
“Es existieren eben manchmal kaum Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, oder?”
“Nicht für dich.”
“Und nicht für dich.”
“Nicht für uns alle.”
“Das meine ich.”
“Eine Frage, der man im Beichtstuhl der Zeit öfter begegnen wird.”
“Ja. Und man mag das, zu geeigneter Stunde, als imaginativen Malkasten betrachten, sowie - jetzt bitte nicht erschrecken - als zuweilen lockeres Stelldichein zeitweiliger Zeitlosigkeit.”
“Ein Stelldichein, liebe Mitreisende, im Grenzgebiet des Nirgendwo.”
“Das meine ich.”
“Die Droge Alkohol beginnt langsam zu wirken, nicht wahr, Lux?”
“Bei mir nicht.”
“Egal. Jetzt fehlt, um das Glücksmaß des Tages voll zu machen, im Grunde nur noch die - ich benenne es an dieser Stelle freimütig - beidseitige Befüllung einer knackfrischen Jungfrau.”
“Es müsste, denke ich, nicht zwingend eine Jungfrau sein.”
“Ich habe das lediglich gesagt, mein Alter, um dich ein bisschen aus der Reserve zu locken.”
“Was dir um ein Schamhaar geglückt wäre.”
Lux schickt ein Räuspern auf Wanderschaft. Auch sein Blick wandert, manövriert, bahnt sich so tapfer wie ungeschickt über alle echten und vermeintlichen Hindernisse hinweg einen Weg zu einem der anderen Tische. In Fensternähe sitzen drei Männer, drei Frauen, mutmaßlich einander in Ehe- oder eheähnlichen Verhältnissen verbunden.
“Lebt dein Vater eigentlich noch?”
“Er ist vor vier Jahren gestorben, kurz vor seinen sechsundneunzigsten Geburtstag.”
“Er war ein recht bedeutender Kapellmeister.”
“Fabelhaft, das du dieses Wort gebrauchst. Mein Vater gebrauchte es selber gern, wenn es um seine Berufsbezeichnung ging.”
“Woran denkst du, wenn du an ihn denkst.”
“Er war warmherzig. Er hatte Humor. Er nannte sich gelegentlich einen musikalischen Kobold und Narren, mit Betonung auf letzterem. Ein Satz von ihm ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Humor sei Aspirin gegen den Kopfschmerz der Vergänglichkeit. “
“War er nicht auch ein Bruckner Spezialist?”
“Stimmt. Und er hatte, noch in seinen späten Jahren, eine glühende Verehrerschaft. Er sah das allerdings mit einer gewissen Wehmut. Ich erinnere mich, wie er eines Tages sagte, von sich in der dritten Person sprechend, in seinem Alter werde man nicht verehrt für das, was man ist, sondern für das, was man einmal war.”
“Ich habe gelesen, er habe sich lange geweigert, seine Aufführungen auf Tonträgern konservieren zu lassen. Warum eigentlich?”
“Ich weiß es nicht. Er hatte diese Verweigerung mit einem anderen sehr bedeutenden Vertreter seines Fachs gemeinsam. Mein Vater meinte übrigens einmal: so man das Leben als Raum sieht, gelte es, diesen mit der eigenen Musik aufzufüllen; er war ferner der Auffassung, Musik werde weniger erfunden, als vielmehr entdeckt.”
“Ein Hoffnungsschimmer für alle schöpferisch minderbegabten Geschöpfe.”
“Lux, wie bist du jetzt eigentlich darauf gekommen, mich nach meinem Vater zu fragen?”
“Weil dort hinten jemand sitzt, der ihm, wie ich finde, ein bisschen ähnlich sieht.”
“Hm, die Wahrnehmungen sind ja doch unterschiedlich.”
“Ich hätte an dieser Stelle darauf verwiesen, dass das Gleiche im Unterschiedlichen wohnt.”
“Okay, mein Lieber, das sei dir unbenommen. Und jetzt verlasse ich dich für eine kleine Weile. Ich muss nämlich mal aufs Klo.”
Lux nutzt die Unterbrechung, um sich eine weitere Zigarette anzuzünden. Er unternimmt einen kurzen Anlauf, seine Gedanken neu zu ordnen. Es bleibt bei dem Anlauf.
“Da bin ich wieder… Bestellen wir noch etwas?”
“Aber vorerst bitte keinen Alkohol. Jedenfalls nicht für mich.”
“Vollkommen deiner Meinung… Ich werde unsere reizende weibliche Bedienung rufen.”
“Das ist sie, postbiblisch betrachtet - aufreizend reizend.”
“Oder andersherum. Wir sollten es ihr bei nächster Gelegenheit zuraunen. Denn, wenn alte Männer jungen Frauen Komplimente machen…”
“Ältere Männer.”
“In Ordnung. Also, wenn ältere Männer jungen Frauen Komplimente machen, muss es ja nicht gleich etwas Anzügliches oder Forderndes haben. Und ich sage das als der triebhafte Pan, der ich nun einmal bin, pardon, ich meine natürlich, war.”
“Muss es nicht, nein. Aber ist es nicht punktuell ein Widerspruch?”
“Wie meinst du?”
“Man kommt einander doch nicht näher, um sich voneinander zu entfernen.”
“Du willst sagen, es bleibt in jedem Fall ein Annäherungsversuch?”
“Nennen wir es einen Versuch, Nähe herzustellen.”
“Hm, ja, man nähert sich als Fremdling, als Eindringling und möchte als Vertrauter, als Intimus verweilen.”
“Im günstigsten Fall.”
“Und im ungünstigsten Fall?”
“Findest du Trost im Gebet. Das Falten der Hände bietet, so hört man, mannigfache Möglichkeiten der Tiefen-Entspannung.”
“Das lässt mich spontan an unsere Schulhofpausen von früher denken, genauer gesagt, an so manche subtropische Ansage im Tertiärsektor.”
“Ich ahne nur ungefähr, wovon du sprichst.”
“Schau, da kommt sie!”
“Heißa, ja, da kommt sie!”
“Die Herren wünschen noch etwas?”
“Ganz recht. Und wir haben einen gemeinsamen Beschluss gefasst, mein Freund und ich.”
“Ja, bitte?”
“Wir möchten Ihnen in aller Zurückhaltung sagen, dass Sie eine Augenweide sind.”
“Danke schön. Und womit kann ich sonst noch dienen?”
“Dienen… dieses Wort aus Ihrem Munde - so schillernd. Nun, wir akzeptieren natürlich unsere Grenzen und die des guten Geschmacks, wenn das auch nicht immer ganz leicht fällt. Ich hoffe, Sie finden uns nicht allzu aufdringlich?”
“Ich finde Sie recht amüsant.”
“Was macht übrigens ihr junger sympathischer Kollege?”
“Nett, dass Sie nach ihm fragen. Er hat Feierabend.”
“Es soll ja niemand behaupten können, wir hätten etwas gegen eine Männerquote…Dürfen wir Ihnen einen Likör oder einen Brandy spendieren?”
“Ich trinke nur Tee… wenn ich im Dienst bin.”
Während Lux sich, lediglich seinen Vorrat an Lächeleinheiten ausschöpfend, bedeckt hält, gibt sein Sitznachbar alles, um die Situation schmeichelhaft zu gestalten. Die Bedienung bleibt so gelassen wie die Fransen ihres blonden Haarschopfes. Die kleine Charme-Affäre hat nur einen Akt. Wie so viele Affären. Kaffee kommt für die beiden Freunde; für Lux, mit Rücksicht auf die eigene Libido, zusätzlich das hauseigene Dessert, warmer Grießpudding mit Johannisbeersoße. Und dabei ist ihm, für den Bruchteil einer kurzen Zeiteinheit, als wenn von drei vernommenen erotischen Obertönen sich zwei, und zwar in der Dauer, nicht jedoch in der Höhe, voneinander unterscheiden.