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Kapitel 3
Оглавление“Ich habe mich noch gar nicht danach erkundigt, mein Freund, was du beruflich so machst oder gemacht hast.”
“Dies und das. Rien de spécial, würde mein zweiter Halbbruder sagen, der Halbfranzose ist.”
“Was genau muss man sich darunter vorstellen?”
“Die letzten Jahre habe ich als freier Journalist gearbeitet, sofern man da von frei reden kann.”
“Dann haben wir ja beinahe verwandte Tätigkeitsbereiche.”
“Beinahe, ja.”
“Und wie geht es dir heute, pekuniär gesehen, beispielsweise?”
“Ich würde sagen, verarmter Nichtadel.”
“Oh, das tut mir leid. Vielleicht könnte ich dir ja ab und an ein paar Aufträge zuschanzen, mein Lieber, sofern dir meine Arbeit liegt.”
“Das ist sehr nett, Tony. Ich werde bei Bedarf darauf zurückkommen.”
Das Gespräch wird unvermittelt durch ein sanft surrendes Geräusch eingefroren. Es ist Tonys Smartphone. Er zieht es aus dem Jackett, einen entschuldigenden Blick in Richtung seines Gegenübers werfend. Lux bekommt mit, dass es sich um Tonys Tochter handelt, die, wie man einstmals gesagt hätte, am anderen Ende der Leitung ist. Man kommuniziert über Facetime. Im vierten oder fünften Satz des Dialogs zwischen Vater und Tochter findet auch Lux Erwähnung.
“Ich sitze hier mit einem sehr guten alten Freund, mein Schatz. Soll ich euch kurz miteinander bekannt machen. Lux, bist du einverstanden, dass ich die Kamera auf dich halte?”
“Nichts dagegen.”
Lux winkt lächelnd in Richtung Smartphone, dass Tony jetzt am ausgestreckten Arm über dem Tisch platziert. Was ersterer auf dem Display erblickt, ist eine recht junge oder jedenfalls jung erscheinende Frau mit Pagenfrisur. Sie lächelt ebenfalls und Lux denkt: Solche Zähne hätte ich auch gerne. Man begrüßt einander, und wenn da ein Wind wäre, der unangemeldet durch den Raum wehte, so wäre es vermutlich ein Frühlingswind.
“Maria ist zur Zeit auf Tour, weißt du.”
“Auf Tour? Womit?”
“Sie hat vor zwei Jahren gemeinsam mit zwei anderen Mädels, oder sagen wir besser, Frauen ein Kabarett gegründet. Die Truppe ist inzwischen recht erfolgreich.”
“Ah ja. Wie nennen sie sich?”
“Das Fotzentrio.”
“Mutiger Name.”
“Das Gute ist, Lux, ich war nie in Verlegenheit, auf irgendwelche Mannsbilder eifersüchtig sein zu müssen, die Maria mit ins Haus hätte schleppen können.”
“Wieso nicht?”
“Meine Tochter liebt ihresgleichen.”
“Verstehe.”
“Gleichwohl vergöttere ich sie.”
“Verstehe.”
“Sie ist übrigens drei Jahre älter als meine aktuelle Gefährtin. Aber die beiden mögen sich.”
“Du bist in einem… wie sagt man… Frauenhaushalt groß geworden, nicht wahr?”
“Das stimmt nicht ganz. Ich hatte auch einen Bruder. Er ist mit neunzehn tödlich verunglückt.”
“Oh.”
“Er erscheint mir mitunter in meinen Träumen.”
“Sind es freundliche Träume?”
“Ja. Gil sah blendend aus, war von ansteckender Fröhlichkeit, war beliebt, alle mochten ihn, vor allem natürlich das weibliche Geschlecht. Und ich weiß nicht warum, aber mir ist, als wenn mein eigenes unstillbares nimmersattes Verlangen nach holder Weiblichkeit etwas mit seinem frühen Tod zu tun hat.”
“Du warst schon in der Schule, wie ich mich erinnern kann, ein Schürzenjäger.”
“George Simenon wird nachgesagt, er habe in seinem Leben mit tausend Frauen geschlafen - oder waren es hundert? Egal. Ganz so weit habe ich es nicht gebracht. Und jetzt bin ja ohnehin von einem weiblichen Limes umgeben. Und das aus freien Stücken. Was hältst du davon, mein Lieber, wenn wir zur Abwechslung mal eine Zigarre rauchen? Mir ist aufgefallen, als ich vorhin auf Toilette war, dass sie hier hinter dem Tresen einen kleinen Humidor stehen haben.”
“Nichts dagegen.”
“Und ein guter Anlass, unsere reizende Bedienung wieder in die Umlaufbahn zu holen.”
Gesagt. Getan. Augenblicke später steigt über dem Tisch der zwei Freunde säulenförmig ein anderer Rauch auf. Und beiden scheint das, was nun der Fall ist, zu gefallen. Lux glückt es gar, einige translunare Rauchringe zu produzieren.
“Gibt es etwas, was du in deinem Leben gern noch erreichen möchtest, Lux?”
“Genau genommen ist es mein Ziel, keines zu haben.”
“Eine Art inverses Leitmotiv.”
“Perverses…?”
“Inverses, Lux, inverses.”
“Ah ja…Betrachte ich es im Rückblick, verhielt es sich übrigens seit jeher so bei mir, nämlich dominant zielarm durch diese unsere Welt zu vagabundieren.”
“Du möchtest damit zum Ausdruck bringen, du seist so gestrickt?”
“Das wollte ich damit nicht zum Ausdruck bringen. Vielleicht trifft es aber den Kern der Sache.”
“Das würde mich mit Stolz erfüllen.”
“Ich will jedoch in diesem Zusammenhang nicht verhehlen, dass, dass…”
“Ja, Lux?”
“…die Sache auch eine Schattenseite hat.”
“Ich höre.”
“Nun, dazu muss man wissen, dass ich, mit geringen Abweichungen, Nacht für Nacht eigentlich immer denselben Traum träume. Er geht wie folgt: Ich habe eine Verabredung. Ich mache mich auf den Weg. Ich laufe durch die Straßen der Stadt, doch finde ich, obwohl ich mich eigentlich gut auskenne, mein Ziel nicht.. Und am Ende weiß ich nicht einmal mehr, wie ich wieder zurück nach Hause komme.”
“Hm… wie gut, dass wir heute nicht verabredet waren.”
“Sozusagen.”
“Apropos Welt…”
“…Jeder lebt in seiner eigenen.”
“Natürlich. Das ist ja eine Binse. Nein, ich wollte in eine andere Richtung gehen: Als ich ein Bub war, weißt du, kam mir die Welt so unendlich weit, so unendlich groß vor, und sie schien nur auf abenteuerliche Herzen wie mich gewartet zu haben. Ich verschlang vor allem Reisebücher. Das liebste war mir “Mit dem Fahrrad um die Welt”. In jenen Jahren ein absoluter Solitär. Ich bin davon überzeugt, dass seinerzeit der Grundstein für mein späteres Reisefieber gelegt wurde. Überhaupt scheint ja vieles von dem, was einen als Erwachsenen ausmacht, bereits in frühen Jahren angelegt. Stimmst du mir da zu, Lux?”
“Natürlich. Das ist ja eine Binse.”
“Revanchist! Also weiter im Text: Ich wollte… zu dumm, jetzt habe ich den Faden verloren.”
“Den Ariadne Faden?”
“Ja. Übrigens, wo du gerade Ariadne sagst, mein Lieber. So hieß die Göttin der größten wie auch unglücklichsten Liebesaffäre meines Lebens. Möchtest du Einzelheiten hören?”
“Wie könnte ich dir etwas abschlagen.”
“Ihr Name war also Ariadne. Ihren Nachnamen habe ich sonderbarerweise vergessen. Spielt ja auch keine Rolle. Ich begegnete ihr auf einem Maskenball… meine Güte, wie passend. All die Zeit über, die wir zusammen waren, schien mir dieser Maskenball nicht enden zu wollen. Ich wusste nie, woran ich mit ihr war. Sie war eine Sphinx, eine sehr verführerische Sphinx. In ihrer Gegenwart verlor ich oft meine Selbstkontrolle, und ich kann dir versichern, das widerfährt mir äußerst selten. Wenn ich morgens neben ihr aufwachte und sie noch schlief, hatte ihr Antlitz etwas Engelhaftes. Das änderte sich über den Tag, und in der Nacht wurde sie zur Schwarzen Witwe. Sie war die erste Frau, die mich betrog. Ich war es sonst gewohnt, derjenige zu sein, der in fremden Betten lag… Warte, die Zigarre ist mir ausgegangen.”
“Kommt mir bekannt vor, Tony, das mit dem Engelhaften etc. Entweder habe ich es gelesen oder jemand anderer hat mir Ähnliches erzählt.”
“Ah ja… Nun, ich erhebe kein Copyright auf Einzelheiten… So, die Cohiba brennt wieder, ich fahre fort: Ich war dieser Frau verfallen, oder um es mit den Worten Stefan Zweigs zu sagen, es war eine brennende Leidenschaft.”
“Der Roman, an den du offenbar denkst, heißt Brennendes Geheimnis.”
“Wie? Na egal… Ich bemerkte leider erst ziemlich spät, was los war. Da war ich bereits mitten drin im Schlamassel. Und ich muss dir sagen, ich litt wie ein Tier, wie eine Schildkröte, die man auf den Rücken gelegt hat. Ja, ich fühlte mich regelrech 10 t ausgeliefert, meinen Emotionen, den Umständen, den Naturgewalten, dem Schicksal, nenne es, wie du willst… Himmel, jetzt wo die Bilder wieder aufsteigen, fange ich regelrecht zu zittern an. Mir ist, als käme alles zurück, vor allem das Liebesleid.”
“Meine Lieblingstante sagte zum Thema Liebeskummer einmal: Man wäre ihn ums Verrecken gern los, im Unterschied zu seinem Erzeuger…mach erstmal Pause, Tony… sonst fällt dir noch die brennende Cohiba aus der Hand.”
“So schlimm ist es nun wieder nicht. Also, um es abzukürzen, das Drama endete, wie es enden musste: mit einem Urknall. Einer von Ariadnes Liebhabern besaß ein Privatflugzeug, eine Chesna. Mit ihm flog sie eines Tages in die Schweiz, genauer nach Genf. Sie kamen aber nie dort an. Und gefunden hat man sie auch nicht, nicht die Spur einer Spur.”
“Und die Moral von der Geschichte?”
“Keine. Andrerseits, moralfrei betrachtet, hatten für mich zum Beispiel Frauen&Lichtphotonen seit jeher eines gemeinsam: ihr Verhalten ist nicht vorhersagbar.”
“Bekannt geworden auch durch die Ode: frei und weiblich rollt die lichte Welle…”
“…Dagegen verhalten wir Männer uns in der Regel eher wie eine klassische Gewehrkugel.”
“Befragen Sie hierzu bei Bedarf Prof.. Dr. Dr. J. Wayne.”
“Oder Ihren Arzt oder Apotheker.”
Tony zündet, während er, tief durchatmend, in seinem Stuhl nach hinten sinkt, die Zigarre, nachdem diese ein weiteres Mal ausgegangen ist, ein weiteres Mal an.
“Du sagtest eben, Tony, das Ganze wäre in einem Urknall geendet. Der steht ja nun bekanntlich für einen Anfang, für den Anfang aller uns bekannten Dinge, nicht wahr?”
“So heißt es, ja. Denk es dir einfach umgekehrt.”
“Wie umgekehrt?”
“Nun, denk es dir als einen Film, der rückwärts läuft, alles zieht sich nach und nach auf einen Punkt zusammen, um letztlich darin zu verschwinden.”
“So sei es also.”
“Oder, stell dir vor, du sitzt in einem Flieger, der Flieger steigt und steigt, du schaust aus dem Fenster, siehst Menschen, Autos, Häuser, wie sie unter dir klein und kleiner werden, bis sie nur noch winzige Flecken sind, Flecken, die sich irgendwann auflösen, scheinbar spurlos.”
“Das erste Bild gefällt mir besser. Apropos Spuren: letztlich hinterlässt ja niemand dauerhafte Spuren. Selbst Personen nicht, die plakativ in der Öffentlichkeit stehen; es wird noch eine Weile über ihren Abgang geredet und geschrieben, dann erlischt jegliches Gedenken, der Mantel des Vergessens legt sich darüber…Zwar wird heute alles gespeichert, ist somit jederzeit verfügbar, doch das Bewusstsein schafft sich seine eigenen Löschfolien.”
“Bringen wir an dieser Stelle doch einmal die Dinosaurier ins Spiel: Sie haben unseren Planeten, wie man weiß, über einen unvorstellbar langen Zeitraum beherrscht - 100 Millionen Jahre, und dann waren sie plötzlich weg, einfach weg. Was ist dagegen schon unsere menschliche Spezies? Nicht mehr als eine Zeitblase, nein, ein Bläschen.”
“Wir reden jetzt schon wie die Unterprimaner.”
“Wie die Unterprimaner…warum denn auch nicht?”
“Ja, warum eigentlich nicht.”
“Außerdem betreiben wir ja keine Physik, die sich darauf beschränkt, nach dem Wie zu fragen.”
“Noch einmal zurück zum vorherigen Thema… Verhält es sich nicht oft so, dass diejenigen, die sich betroffen zeigen über das Verschwinden anderer, das Licht der Aufmerksamkeit mehr auf sich selbst zu lenken bemüht sind als auf den, über den sie sprechen?”
“Sie lenken es auf sich, da es ihnen in Wahrheit darum zu tun ist, die eigene Einschaltquote zu erhöhen, nicht, um sich zu äußern, sondern um ihr Selbst zu veräußern, ich meine, auszustellen.”
“Weißt du, was mir bei der Gelegenheit in den Sinn kommt. Der Spruch, nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Passt das nicht ausgezeichnet auf unsere Jetztzeitkapsel?”
“Mir fallen zum Thema gerade Verse aus dem Mondgedicht von Matthias Claudius ein. Du weißt schon - wir stolze Menschenkinder/wir wissen gar nicht viel/wir spinnen Luftgespinste/und kommen weiter ab vom Ziel.”
“Wo immer das liegen mag.”
“Laß uns gemeinsam ein Loch graben…in guter Hoffnung.”
“In welcher guten Hoffnung?”
“Nicht unterwegs stecken zu bleiben.”
“Und mit welchem Ziel?”
“Auf der anderen Seite der Welt wieder heraus zu kommen. Als Antithema.”
“Ja, und was wollen wir da?”
“Kameradschaft finden, die uns überdauert.”
“Hier ist die Tomatensuppe, die Sie bestellt hatten.”
“Danke vielmals.”
“Sie haben Glück. Eigentlich fehlen Suppen ganz auf unserer Speisekarte.”
“Ich weiß, meine Schöne… Wie heißen Sie eigentlich?”
“Maria.”
“Oh, wie meine Tochter… ich heiße Tony, und mein Freund hier heißt Lux.”
“Angenehm.”
“Maria, was tun Sie nach Feierabend als erstes?”
“Ich gehe duschen.”
“Ach, wirklich…? Sollten Sie noch einen Abtrockner brauchen…”
Die sehenswerte junge weibliche Bedienung, die auf den hörenswerten Namen Maria hört, lächelt und entfernt sich lächelnd. Und es ist das Lächeln einer Sommernacht, obwohl gar kein Sommer ist, und auch wohl niemand gerade an den Bergmannschen Kinostreifen mit diesem Titel, noch an ein mögliches Remake denkt.
“Du bist nicht verheiratet?”
“Nein. War es auch nie.”
“Kinder?”
“Nicht, soweit mir bekannt ist.”
“Aber gebunden schon, oder?”
“Gelegentlich.”
“Oh… schau mal, Lux, vielmehr hör mal, was sie da gerade spielen!”
“Valentyne Suite.”
“Himmel, das erinnert mich an mein erstes Verliebtsein. Mir kommen fast die Tränen.”
“Ich habe John Hiseman einmal live erlebt, auf einer ziemlich kleinen Bühne im Norden dieser Republik. Die anderen Musiker kannte ich nicht. Und auch ihn schien kaum noch jemand zu kennen, in der breiten Öffentlichkeit, meine ich. Das änderte sich dann ja wieder. Aber es tat, wie mein Eindruck damals war, seiner Spielfreude keinen Abbruch.”
“Was hast du gerade erzählt, Lux? Entschuldige bitte, ich war vorübergehend ziemlich in meine Erinnerungen abgetaucht.”
“Ach, nicht so wichtig.”
“Wie es wohl wäre, gäbe es von dem Leben, das man hat, zwei oder mehrere Fassungen.”
“Jedenfalls komplizierter, als es ohnehin schon ist.”
“Vor allem, wenn man, ohne den Inhalt zu kennen, eine Wahl zwischen ihnen zu treffen hätte.”
“Möglich auch, dass wir wählen, ohne es zu wissen. Jedenfalls ist es von Fall zu Fall ja ganz angenehm, nicht selber entscheiden zu müssen. Oder wie denkst du darüber?”
“Wenn also das Schicksal entscheidet.”
“Oder der, der es träumt.”
“Exakt, und darauf wie auf manches mehr kommt es natürlich an bei unserem aparten kleinen Gedankenexperiment. Im Prinzip bin ich da durchaus auf deiner Seite.”
“Vergiß deine Suppe nicht, Tony, sie wird sonst kalt.”
“Du redest wie meine Großmutter. Aber keine Sorge. Ich mag auch kalte Tomatensuppe.”
Nach kurzem existentiellen Innehalten, in der am Tisch der zwei Freunde nur Schlürfgeräusche, die ab&an aus Tonys Richtung kommen, zu hören sind, meldet sich letzterer wieder zu Wort:
“Sag einmal, Lux, hättest du, würde man dich noch einmal in dieses schöne schreckliche Dasein werfen, den Wunsch, etwas grundlegend anders machen zu wollen?”
“Nun, ich wünschte, es wäre mir vergönnt, mein Leben, könnte ich es noch einmal leben, auf Seite Einhundert zu beginnen.”
“Meine Frage zielte zwar in eine andere Richtung, doch will ich dich nicht weiter in Verlegenheit bringen. Übrigens. Weißt du, was seltsam ist?”
“Was denn?”
“Es fällt mir leichter, den Kopf nach links, statt nach rechts zu drehen.”
“Interessant?”
“Ob das etwas zu bedeuten hat?”
“Alles hat etwas zu bedeuten.”
Tony verzieht unvermittelt schmerzhaft das Gesicht, zieht beide Schultern hoch, und dreht, als wollte er zu dem eben Gesagten eine Fortsetzung schreiben, den Kopf abwechselnd nach beiden Seiten.
“Was gibt es?”
“Nur… der Rücken. Habe es mit dem Rücken. Sehr lästig. Immer, wenn ich versuche, eine halbe Erdumdrehung hinzukriegen, oder beim Bücken und selbst nachts, es ist eine rechte Plage, eine Altersplage…”
“Materialermüdung, wie? Gehst du zum Arzt?”
“Zu einem? Herrje, habe mittlerweile eine ganze Armee dieser Gattung konsultiert. Es kommt mir vor, als sei mein leibliches Ich in einen von W.C. Röntgens Erben lizensierten Operationssaal versetzt worden. Man sieht sich dutzend-, ja, hundertfach entblößt, doch im Grunde sieht man nichts. Man wird mit Diagnosen, medizinischen Bulletins, Medikamenten und Krankengymnastik zugepflastert, und doch fühlt man sich wie ein kranker Hund, dem der Besitzer entlaufen ist. Ein Orthopäde sprach gar davon, ich hätte wohl das Kennedy-Leiden. Mir war nicht klar, ob das als Trostpflaster oder als Straftatbestand gemeint war. Egal. Was bleibt, sind Ohnmachtsgefühle der Dritten Art, die mich immer wieder heimsuchen, ein Wäschekorb an Beschwerden, die mich im Schwitzkasten halten. Und das Leiden gerinnt zur Leidenssaga mit ungewissem Ausgang… kurzum, nichts hat bisher geholfen.”
“Ich sehe an deinem epischen Vortrag, es ist ein ernstes Problem.”
“Es gibt Tage, an denen vergesse ich vorübergehend, was mich plagt, schmerzarme Tage, aber sie sind in der Minderzahl…Und? Wie schaut es bei dir so aus, mein Freund?”
“Du meinst…?”
“Kein Altersweh, keine Gebrechen?”
“Nicht in dieser Richtung.”
“Nun, du bist auch ein halbes Jahr jünger als ich, gewissermaßen also noch ein junger Spund.”
“Gleichwohl, was meine Person anbelangt, die Unpässlichkeiten sind - besser gesagt waren - mehrheitlich gemütsbezogen.”
“Ah ja. Dann überlasse ich jetzt dir die Bühne - und zwar besenrein - für eigene Wortbeiträge.”
“Tausend Dank. Wo hast du das nur gelernt, diese Etikette, meine ich.”
“Bei Hofe, mein Lieber, bei Hofe.”
“Also, zum Thema Unpässlichkeiten…vor etwa einem Jahr befiel mich eine, ich möchte einmal sagen, seelische Dysfunktion. Ich erwachte eines Morgens mit einem sonderbaren Gefühl… es war das Gefühl, oder besser, das Empfinden einer gewissen Beliebigkeit. Die Dinge um mich herum erschienen mir unangekündigt leer, ja, austauschbar. Ich selbst erschien mir leer und austauschbar. Ich fragte mich: was soll das alles? Wozu eine Fortsetzung? Eine schlecht rasierte Gedankenmüdigkeit ergriff von mir Besitz, gepaart mit bitterer Lustlosigkeit. Ja, hätte ich eine Pistole zur Hand gehabt, ich glaube, ich hätte ernsthaft erwogen, mein kleines Licht auf der Stelle auszublasen.”
“Klingt dramatisch.”
“Oh nein, es war nicht dramatisch. Das war ja Teil des Problems. Es war vielmehr alles von einer plötzlichen Belanglosigkeit durchdrungen, meine Person eingeschlossen. Ich erlebte die Realität als eine, in der alle Unterschiede erloschen zu sein schienen oder dabei waren zu erlöschen, eine Art Entropie des Daseins hüllte mich ein…ich weiß noch sehr genau, wie ich morgens das Bett verließ mit dem Gedanken: Gleichviel, ob du dir jetzt die Zähne putzt, danach einkaufen und später ins Kino oder im Park spazieren gehst, es ist - bedeutungslos…Du kennst vielleicht auch die Südsee-Erzählungen von Sommerset Maugham… Da beschreibt der Autor das seltsame Siechtum englischer Kolonialisten, der sogenannten ‘Englishman abroad’, deren gleichermaßen exklusiv herrschaftlicher wie ritualisiert britischer, clubhafter Lebensstil inmitten einer fremden, vordergründig betörenden Tropenkulisse mit der Zeit in einen Zustand aus Lethargie, Mattheit, Trunksucht, Schwermut und Selbstmordfantasien übergeht. Daran fühlte ich mich, hinsichtlich der Seelenlage, die mich erfasst hatte, erinnert.”
“Immerhin, du hast es überlebt.”
“Dennoch fürchte ich, es könnte, wie eine Virusinfektion, jeden Tag zurückkehren… du sprachst vorhin davon, du würdest mittlerweile nicht mehr gern reisen, aus Furcht, dich in der Fremde zu verlieren, so oder so ähnlich hast du dich ausgedrückt. Aber man muss offenkundig gar nicht groß verreisen, um sich oder den Zugang zur vertrauten Realität zu verlieren, um ein Gefühl des Ausgesetztseins zu erleben in einem Ozean entfesselter Leere… um ein bekanntes Dichterwort heranzuziehen: ich war der Welt abhanden gekommen.”
“Sprich weiter, mein Freund.”
“Mir ist das oft und gern bemühte Bild vom unterwegs-sein-zu-sich-selbst stets als Hirngespinst erschienen, als der eitle, aber zum Scheitern verurteilte Versuch, etwas zu fassen, das das eigene Ich in einen sinnstiftenden Zusammenhang von Selbstgewißheit und Welterfahrung stellt.”
“Was also könnte helfen gegen diese Art der, sagen wir, menschlichen Hybris?”
“Der Alltag…. eben den aber hatte ich seinerzeit buchstäblich aus dem laufenden Programm genommen. Er war im Hintergrund wohl noch da, jedoch zeigte er sich stumm, taub, öde, von einem dahinter oder darüber liegenden Sinn ganz zu schweigen.”
“Sprich weiter.”
“All das trug sich, um das Bild zu vervollständigen, in einem Abschnitt meines Lebens zu, wo so wenig passierte, dass ich schon vor Aufregung zu zittern anfing, wenn nur der Postbote an der Tür klingelte oder die Müllabfuhr mit den Mülleimern polterte.”
“Du hättest es vielleicht mal mit…Sackhüpfen probieren sollen.”
“Mit Sackhüpfen?”
“Entschuldige, das war jetzt ein Scherz an der falschen Stelle.”
“Entschuldigung angenommen.”
“Hast du aber denn je ernsthaft den Versuch gemacht, besagtem Problem zu Leibe zu rücken?”
“Ja…Mit vierfacher Varianzanalyse bei zweifacher Messwiederholung.”
“Wie bitte?”
“Kleiner Gegenscherz…So hätte der Rat des Statistik Professors, der mein Studium begleitete, lauten können. Egal. Man muss das, was man nicht kann, eben so gut wie möglich vermeiden.”
“Okay, mein Lieber.. Sprich weiter.”
“Ich weiß nicht, war es ein Film, war es ein Buch, in dem mir das Bild begegnete, wo ein Mann in einem Boot sitzt, das auf den Weiten des Ozeans treibt, in einem Boot, das von einem großen Dampfer gezogen wird, mit dem es durch langes, dickes Tau verbunden ist? Und plötzlich sieht der Mann, wie jemand auf dem Dampfer dieses Tau zerschneidet…”
“Sprich weiter.”
“Nein, Tony, laß uns das Thema wechseln.”
“Na, schön. Jedenfalls hast du mich unter anderem dazu motiviert, demnächst wieder mal den guten alten Maugham zu lesen.”
“Es existiert, wie mir gerade durch den Kopf geht, eine, so meine ich, denkwürdige Parallele zwischen den Schriftstellern Sommerset Maugham und Oscar Wilde, sowie dem Maler Francis Bacon. Diese drei Männer und Künstler, alle drei, nebenbei bemerkt, Engländer, was aber weiter nichts bedeuten muss, hatten junge Liebhaber, denen sie bis zur Hörigkeit erlegen waren, von denen sie sich schikanieren und quälen und demütigen ließen. Und ihre Günstlinge waren nicht allein jünger bis deutlich jünger als sie, sie waren auch hemmungslose Egomanen. Schlummert in diesen Konstellationen womöglich ein tieferes Gesetz? Ein Stoff, der, in abgewandelter Form, ja unter anderen auch einen Moses Pate oder einen Friedrich Koethle umgetrieben hat.”
“Hast du zu dieser These denn die entsprechenden Nutzungsrechte?”
“Sagen wir mal so: Ich könnte sie mir bei Bedarf verschaffen.”
“Nein, jetzt im Ernst. Das war als Spaß gemeint, als Gedankenspiel, oder?”
“Spaß und Ernst, Tony, ist das eine nicht oft das andere, nur im Kopfstand?”
“Ich fürchte, mein Lieber, ich kann dir da nicht so ganz folgen…Warte mal kurz!”
Tony hebt die Arme, in einer Geste, welche entfernt an einen Schutzmann erinnert, der, da eine Ampelanlage ausgefallen ist, ersatzweise an einer befahrenen Kreuzung steht, um den Verkehr zu regeln.
“Das Stück, das da über die Boxen kommt, sein Titel lautet, glaube ich, ‘Friedliche Armee’, und es wird gesungen von einer jungen Frau, deren Name mir jetzt nicht einfallen will, gehört wie die Interpretin selbst, zu den aktuellen Favoriten meiner Tochter. Sie spielt es ständig.”
“Ah ja?”
“Ja… Und Maria hat, wie mir schlagartig einfällt, in vier Tagen Geburtstag. Und ich weiß noch gar nicht, was ich ihr schenken soll.”
“Womit wir wieder beim Thema ‘Alltag’ wären.”
“Der Geburtstag meiner Tochter steht natürlich über jedem Alltag.”
“Meinetwegen. Dessen ungeachtet. Irgendwer hat schließlich immer Geburtstag…”