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Die Freiheit jedes Menschen

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Die Menschenwürde bestimmt das Menschenbild, das dem Liberalismus zugrunde liegt und zugrunde liegen muss. Die Freiheit als Kristallisationspunkt des Liberalismus ist die Freiheit jedes Menschen. In normativer Hinsicht sind alle Menschen vernunftfähig, zur Autonomie bestimmt und darum mit Würde und gleichen Rechten ausgestattet: «All men are created equal» steht in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Darauf basieren die Menschenrechtserklärungen und die Vorstellungen der modernen Demokratie. Doch klaffen Idee und Realität auseinander. Ein menschenwürdiger Liberalismus muss der Frage nachgehen, wie erreicht werden kann, dass jeder eine realistische Chance besitzt, sein Leben in grösstmöglicher Freiheit zu führen. Liberale haben oft nur den tätigen und vernunftgeleiteten Menschen vor Augen, der in der Lage ist, sein Leben zu gestalten und Selbstverantwortung wahrzunehmen – den Homo oeconomicus oder den Homo Faber. Auch unser Rechtssystem wird von einem optimistischen Menschenbild bestimmt.81

Doch sind Menschen durch dreifache Begrenzungen gekennzeichnet: einmal durch mangelnde Kognition und fehlende Willensstärke, durch Eigennützigkeit und durch ihre Eigenschaft, inkonsistente Entscheidungen zu treffen, auch ohne Orientierung an langfristigen Folgen. Menschen sind Patchworkwesen; sie verbinden Gefühl und Verstand, Instinkt und Einsicht, Egoismus und Altruismus, Über-Ich und Unbewusstes. Menschliches Verhalten ist nicht nur auf Maximierung des eigenen Nutzens ausgerichtet, sondern ebenso auf Vertrauen, Fairness und Kooperation, wie etwa der Schweizer Ökonom Ernst Fehr nachgewiesen hat. Im Menschen sind verschiedene Motivationen veranlagt, wie etwa Ehrgeiz, das Bedürfnis, einer Gruppe anzugehören, Angst oder der Kampf um einen Status. Die menschliche Realität liegt in unterschiedlichen Abstufungen zwischen diesen Polen. Entsprechend ist ein realistisches Menschenbild gefordert.82

Der Liberalismus hat diese menschliche Komplexität zugrunde zu legen, wenn er für Freiheit und Verantwortung plädiert, und sich auch um die Freiheit der Schwachen, Bedürftigen und Scheiternden83 sowie der Menschen mit einer Veranlagung zur Unvernunft zu kümmern. Welches ist ihr Platz in der liberalen Ideenwelt? Wenn im Fokus des Liberalismus Würde, Freiheit und Lebenschancen aller Menschen stehen – unabhängig von ihrem Lebensentwurf und Lebensschicksal, ihrem rechtlichen oder sozialen Status –, so haben sich gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen an dieser Komplexität des Menschlichen auszurichten.

Am Beispiel des Bettelns lässt sich die Tragweite der Freiheit von Schwächeren exemplifizieren. Das Recht auf Betteln ist Teil des verfassungsmässigen Rechts auf persönliche Freiheit gemäss Art. 10 Abs. 2 BV und Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Dazu gehört das Recht, andere um Hilfe zu bitten. Ein absolutes und unbeschränktes Bettelverbot verletzt die Bundesverfassung und die EMRK, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt hat.84 Bettelverbote unterliegen einer Prüfung, ob die Voraussetzungen einer Grundrechtsbeschränkung erfüllt sind, etwa weil die öffentliche Ordnung nachhaltig gestört wird. Diese bedingt eine Abwägung der in concreto relevanten Interessen, etwa der betroffenen Personen und ihrer Verletzlichkeit, ihrer allfälligen Zugehörigkeit zu einem kriminellen Netzwerk sowie der Art und dem Zweck des Bettelns. Nicht ausreichend für ein generelles Verbot ist der Umstand, dass das Betteln auf Passantinnen und Passanten störend wirkt. Freiheit gehört allen, auch den Randständigen, den Anderen.

Freiheit in der Demokratie

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