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Das Streben nach dem ganzheitlichen Menschen

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Eine liberale Grundhaltung strebt die Entwicklung zu ganzheitlichen Menschen an, auch wenn dieser Weg lang und manchmal beschwerlich erscheint, weil er uns selbst immer wieder infrage stellt. Ganzheitliche Menschen haben nicht nur ihren Verstand ausgebildet, sondern auch ihr Gemüt. Ihre Gehirnhälften sind links und rechts gleichermassen entwickelt und miteinander verbunden. Sie können das Männliche und das Weibliche in sich annehmen und leben. Viele Menschen, gerade auch in der Elite unserer Gesellschaft, neigen dazu, die Welt kopflastig zu erfassen, in den Kategorien von Schwarz und Weiss zu denken und zu handeln, stets das Entweder-oder zu betonen. Viele Schwierigkeiten der heutigen Zeit gehen wohl auf diese Einseitigkeit zurück, viele Probleme der Wahrnehmung und der Verständigung, im Grossen und im Kleinen, zwischen Völkern und innerhalb der Partnerschaft zwischen Menschen. Liberale reissen nicht künstlich auseinander, was in der Schöpfung, in der Natur, in unserem Menschsein zusammengehört und aufeinander bezogen ist: Das Starke und das Schwache, das Harte und das Weiche, das Männliche und das Weibliche, das Helle und das Dunkle, Begrenzung und Entgrenzung, Traditionelles und Innovatives, Sorgen und Unbeschwertheit, Geld und Geist, Selbstverwirklichung und Solidarität, Eigensinn und Gemeinsinn, Mensch und Umwelt. Ganzheitliche Menschen leben, ja leben auf in diesen Polaritäten. Sie sind «Sowohl-als-auch»-, nicht «Entweder-oder»-Menschen, sie wissen um ihre eigenen Grenzen. Deshalb lernen sie voneinander und grenzen sich nicht gegenseitig aus. Ganzheitliche Menschen können Vertrauen entwickeln, Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten, aber auch in andere Menschen. Vertrauen macht die reife Persönlichkeit aus – Selbstvertrauen und Fremdvertrauen.

In jüngster Zeit sind mehrere erhellende Beiträge zum ganzheitlichen Menschenbild erschienen. Annemarie Pieper zeichnet das Verhältnis von Körper und Geist seit der Antike nach, auch anhand des männlichen und des weiblichen Körpers, und wendet sich gegen die «Verachtung alles Körperlich-Stofflichen». Das erkämpfte Selbstbestimmungsrecht hat die Interessen des Körpers angemessen zu berücksichtigen. Dazu muss man lernen, in seinen Körper hineinzuhorchen, die Stimmen, welche Kopf, Herz, Bauch und Hand ihre Bedürfnisse anmelden, voneinander zu unterscheiden und miteinander in Einklang zu bringen. Mit dieser Art von «body talk» lässt sich ein Zustand erreichen, in welchem Geist und Körper zu einem massvollen Ausgleich gelangen. Vorurteile sind oft die Folge der einseitigen Gewichtung einer Stimme im Körper, sei es Verstand (Kopf), Emotionen (Herz), Affekte (Bauch) oder ein Machbarkeitswahn (Hand). Das Ideal eines ganzheitlichen Menschen vereint das auf Nutzen und Maximierung ausgerichtete Verfügungswissen mit dem Orientierungswissen, das mit den sozialen Bedingungen des menschlichen Lebens vertraut macht und alle vier erwähnten Sinne des Menschen zum Tragen bringt.91

Der britische Publizist David Goodhart widmet sich in einer Gesellschaftsanalyse mit dem Titel «Kopf, Herz und Hand» dem Verhältnis von Kopfarbeit, Handwerk und sozialen Berufen. Er kommt zum Schluss, dass in den wohlhabenden Nationen ein sehr begrenztes Spektrum von Fähigkeiten – die kognitiv-analytischen Kopfkompetenzen – zu stark honoriert wird, und zwar finanziell wie gesellschaftlich. Die Definition eines gelungenen Lebens ist zu eng gefasst, und der Weg dorthin mit dem Studium zu schmal gestaltet worden. Im Namen von Effizienz, Gerechtigkeit und Fortschritt wurden Formen des Wettbewerbs eingeführt, in denen die Besten erfolgreich sind, «während sich der grosse Rest als Versager fühlen darf».92 Der Dreiklang von Kopf, Herz und Hand erinnert an den Schweizer Pädagogen Pestalozzi, der schon vor 200 Jahren auf die essenzielle Verbindung dieser menschlichen Sinnesorgane hingewiesen hat.

Freiheit in der Demokratie

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