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Von der Identität des Menschen

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Was macht den Menschen aus, welches ist seine Identität?85 Bei der Identität handelt es sich um einen schillernden und mehrdeutigen Begriff. Die Identität ist angesichts der Pluralisierung erodiert.86 Im Zusammenhang mit der menschlichen Autonomie steht die Selbstdefinition des Individuums im Vordergrund, sein «Narrativ» über die ihn kennzeichnenden Eigenschaften. Daneben wird der Begriff auch für die Fremdbeschreibung einer anderen Person sowie für eine Gruppenzugehörigkeit verwendet. Oft bleibt unklar, welche Bedeutung in der praktischen Begriffsverwendung gemeint ist. Vor allem Selbst- und Fremdbeschreibung können ineinanderfliessen. Eine liberale Sichtweise stellt sich gegen die Vorstellung eines «Besitzes» der Identität, gegen jegliche Beschwörung tradierter Rollenbilder, die oft eine Vergangenheit festhalten wollen, die es gar nie gegeben hat, und die vor allem angerufen wird, um sich gegen Veränderungen zur Wehr zu setzen.87 Liberale sind auch skeptisch gegenüber Gruppenidentitäten, die ebenfalls oft konstruierte Gemeinsamkeiten stärker gewichten als die personale Autonomie, was später im Abschnitt über die Identitätspolitik (siehe S. 145) näher zu beleuchten ist.

Der indisch-amerikanische Philosoph, Nobelpreisträger im Jahr 1988 und Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2020, Amartya Sen, propagiert eine Unteilbarkeit des Menschen als Basis des Liberalismus.88 Sen beschäftigt sich mit den Gefahren, die mit der Festschreibung von Identitäten und einem reduktionistischen Konzept von Identität einhergehen. Er kritisiert die Vorstellung, Individuen seien vor allem über das Merkmal ihrer Gruppenzugehörigkeit definiert, und die Identitäten von Individuen und Kollektiven könnten über die Zugehörigkeit zu einer einzigen Kultur bestimmt werden. Im Gegenteil gehören Individuen einer Vielzahl von Kulturen an.

Menschen haben nach Sen nicht eine feste Identität; Identität ist im Plural zu denken und im steten Wandel begriffen. Kein Mensch ist nur Muslim oder Hindu, er ist auch Frau oder Mann, hat Kinder oder nicht, politische Überzeugungen, eine eigene Biografie – oder auch eine bestimmte Schuhgrösse, die ihn mit anderen Menschen verbindet oder nicht. Er sieht in diesem Missverständnis einer festen Identität ein Hauptübel der Gegenwart und plädiert für die Freiheit des Individuums, die eigene Gruppenzugehörigkeit zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern.

Nach Jörg Paul Müller geht auch im öffentlichen Wirken als Politikerin, Beamter oder Magistratin die Identität eines Menschen mit seinen religiösen Wurzeln, seinen weltanschaulichen Zweifeln oder mit seiner Angst vor allem Autoritär-Herrschaftlichen, aber auch mit seinen physischen und psychischen Bedürfnissen nicht einfach verloren.89

Francis Fukuyama unterscheidet zwischen einem wahren inneren Selbst und einer Aussenwelt mit gesellschaftlichen Regeln und Normen, die den Wert oder die Würde des inneren Selbst nicht adäquat anerkennt. Grundlage der sich im Lauf der Zeit wandelnden menschlichen Würde ist das innere Selbst, das nach Anerkennung drängt. Nach Fukuyama manifestieren sich in der Seele drei Teile, die sich im modernen Identitätsbegriff vereinigen: «Thymos» als erstes Phänomen sehnt sich nach Anerkennung der eigenen Würde. In der «Isothymia» als zweitem Teil tritt das Bedürfnis auf, anderen gegenüber als gleichwertig zu gelten. «Megalothymos» schliesslich stellt den Wunsch dar, von anderen als überlegen betrachtet zu werden. Selbstachtung geht aus der Achtung durch Andere hervor. Viele Konflikte der Welt sind auf das Verlangen nach Anerkennung der eigenen Identität zurückzuführen.90

Freiheit in der Demokratie

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