Читать книгу Letztes Glück - Renate Maria Schöttner - Страница 3
Letztes Glück
ОглавлениеHerr Tanaka küsst sie auf den Mund. Er wäscht Gesicht und Hals mit einem Tuch, trocknet ihre weiche Haut, kämmt das lange, seidig schimmernde schwarze Haar und streichelt zärtlich über ihre Wangen. Er nimmt das blaue Kleid vom Stuhl und streift es über ihren schlanken Körper. Er steckt ihre zierlichen Füße in weiße Sandalen und setzt sie auf einen Stuhl. Dann befestigt er den Kranz aus zartrosafarbenen Magnolienblüten in ihrem Haar und legt eine weiße Akoya-Perlenkette um ihren Hals. Sie ist schön. Er teilt sein Leben mit ihr. Heute ist Sonntag. Sie gehen aus. Im Rollstuhl schiebt er sie durch den Park. Sie lächelt. Herr Tanaka ist glücklich. Seit Suki bei ihm ist, ist er glücklich.
Herr Tanaka lebt mit Suki in einem winzigen Appartement in Tokyo, weit weg von seiner Frau. Er arbeitet viel. Er muss Geld verdienen. Er muss sich und seine Frau versorgen. Manchmal reist Frau Tanaka zu ihm und macht die kleine Wohnung sauber. Herr Tanaka soll es sauber haben. Frau Tanaka ist eine gute Frau. Wenn er in Rente geht, wird er wieder bei ihr leben. Das hat er ihr versprochen. Sie werden zusammenleben, Herr Tanaka und seine Frau und Suki.
Alfred geht zum Kühlschrank. Der Tag war wieder mal verdammt lang. Wenn das so weitergeht, wird er womöglich noch viele Samstage arbeiten müssen. Gut, seine Firma ist jetzt aus dem Gröbsten heraus, zehn Prozent mehr Umsatz, sagten sie bei der letzten Betriebsversammlung. Das ist schon was, Hauptsache sie müssen keine Arbeitsplätze abbauen. Er wäre einer der ersten, der fliegt, er ist befristet angestellt. In drei Monaten wäre Schluss. Aber es sieht gut aus. Er schuftet wie verrückt.
»Mit siebenundfünfzig bist du weg vom Fenster, wenn‘s in der Firma nicht mehr läuft. Teile der Produktion werden ausgelagert, heißt es dann, einfach weg, nach China oder sonst wo hin. Und du wirst gleich mit ausgelagert, wenn‘s gut geht in den Vorruhestand, und wenn‘s nicht so gut geht, wirst du erst mal abgestellt im Jobcenter. Und wenn du dann ganz viel Glück hast, dann holt dich einer dort ab und lagert dich wieder ein.«
»Mann, die Salami ist aus«, stellt er fest und nimmt sich die Plastikdose mit dem Käse. Er nimmt zwei Scheiben Brot aus der Verpackung, legt den Käse darauf und setzt sich wieder vor den Fernseher.
»Eh gesünder als Wurst«, denkt er. »Solltest wieder mal Gemüse kochen, ist noch gesünder, macht aber Arbeit.«
Arbeit hatte er den Tag über schon genug. Der Käse schmeckt abgestanden. Er nimmt einen Schluck Bier aus der Flasche und spült den üblen Geschmack aus seinem Mund.
»Ein eigenartiger Mensch, dieser Herr Tanaka, teilt sein Leben mit einer Puppe«, denkt er und zappt durch das Programm.
»Die Liebe ist ein Vogerl, es fliegt schon bald zu dir«, trällert das blondbezopfte Wesen mit dem eingefrorenen Lächeln und schwingt mit ihren Armen, als wäre es höchstpersönlich dieses Vogerl.
»Sieht beinahe so künstlich aus wie diese Suki«, stellt er fest.
Da ist ihm der Schrauber schon lieber, der unter dem alten Fiat hervorkriecht und mit glänzenden Augen verkündet, dass das Ding endlich wieder läuft. Das Ding macht einen ohrenbetäubenden Lärm und stößt eine schwarze Rußwolke aus.
Die Flasche ist leer. Alfred holt sich Wasser aus der Küche. Nach zwei Flaschen Bier ist Schluss. Er will schließlich nicht enden wie Ernst.
»Jeden Abend drei, vier Bier, und weil‘s dir guttut, noch gleich ein paar Schnäpse hinterher. Und wenn dann der letzte Kummer vergessen ist und du an nichts mehr denken musst, was dein Herz in Aufruhr bringt, dann trinkst du immer weiter und weißt nicht mehr warum.«
Bei Ernst war das so.
»Ich kann jetzt nicht länger, bin mit Sieglinde verabredet«, ruft Rita ins Telefon.
Alfred nimmt sich doch noch ein Bier.
»Jetzt hab dich nicht so, dein Mann sitzt bestimmt auch nicht den ganzen Abend vorm Fernseher. Komm schon, auf ein Glas Wein, ist doch nichts dabei. Du siehst noch immer verdammt gut aus Ritachen. Wahrscheinlich schwänzelt Hermann andauernd um sie herum«, denkt er. »Von wegen Sieglinde. Hermann hatte doch schon immer ein Auge auf Rita.«
Aber entschieden hat sie sich für ihn. Neunzehn Jahre Ehe mit Rita, und Hermann dazwischen. Und Elfriede, Hermanns Frau. Aber die zählt nicht.
»Frag doch mal Hermann, der kennt sich aus, Herrmann ist immer so charmant, findest du nicht, Herrmann, der kann tanzen. Hermann hier, Hermann dort.«
Es gab nichts, was Hermann nicht konnte und keine gute Eigenschaft, die er nicht besaß. Seine Tanzkünste hat er hinreichend demonstriert, beim letzten Faschingsball, als er mit Rita über das Parkett schwebte und sie so eng an sich drückte, dass kein Blatt mehr passte zwischen die beiden. Und sie ist keinen Millimeter von ihm gewichen, keinen einzigen.
Noch mindestens zwei Monate Samstagsarbeit haben sie gestern in der Firma verkündet. An seine Frau haben sie dabei nicht gedacht.
»Das muss jeder für sich selber regeln, muss sehen, wie er es ihr beibringt, dass er am Wochenende wieder nicht bei ihr sein kann. Ist schon schlimm genug, wenn man die Woche über getrennt ist. Am Wochenende kann man schließlich einiges nachholen, na ja, klappt meistens auch nicht so recht. Ist schon schwer: Jeden Freitagnachmittag nach Hause, zu Frau und Eigenheim, und Sonntagabend wieder zurück. Kaum bist du angekommen, und hast das Allernötigste besprochen, musst du schon wieder weg. Dreihundert Kilometer hin und dreihundert zurück, und dazwischen das Leben, und die Liebe, wenn du überhaupt noch Zeit findest dafür. Da wäre es kein Wunder, wenn sie verloren ginge, irgendwo, zwischen den Strapazen der Woche, den Sorgen um dein Haus, das noch nicht abbezahlt ist und den Wünschen deiner Frau, die du nicht erfüllen kannst.«
»Hauptsache, man hat Arbeit!«
Mit diesem Satz bringt er das Karussell zum Stehen. Er holt sich noch eine Flasche Bier, vorsichtshalber.
»Wenn sie mit Sieglinde weg ist, wird es spät«, sagt er sich und leert die halbe Flasche in einem einzigen Zug.
»Herrmann trennt sich von Elfriede«, sagt seine Frau, als sie am Sonntag miteinander telefonieren.
Wie es ihm geht, wie es um seinen Arbeitsplatz steht, wann er denn wieder nach Hause kommt, danach frägt sie nicht. Dass seine Firma aus dem Gröbsten raus ist, dass er seine Arbeit wahrscheinlich behalten wird, dass er so gern bei ihr wäre, dass er sie liebt, wollte er sagen. Aber er sagt es nicht.
»Befristet! Nochmals ein Jahr!«
Alfred präsentiert Rita stolz den neuen Arbeitsvertrag.
»Und mit der Samstagsarbeit ist jetzt auch Schluss«, verkündet er und wartet darauf, dass seine Frau ihm vor Freude um den Hals fällt.
Rita sagt nichts zu alledem. Sie sieht ihn nicht einmal an.
»Tut mir leid, Alfred, ich ziehe bei Hermann ein«, sagt sie nur. »Tut mir leid.«
Alfred zieht sich ein frisches Hemd an. Sein letztes frisches. Er geht ins »Lonely« um die Ecke.
»Dass ich das noch erlebe!«, ruft Rolf, sein Kumpel von der Arbeit, als er durch die Kneipentür tritt.
Drei Monate hat er sich verkrochen, zwischen dem tristen Mobiliar seiner kleinen Wohnung, den Ravioli- und Suppendosen und den Bergen ungewaschener Wäsche.
»Denk nicht mehr an sie!«, hat Rolf ihm mit auf den Weg gegeben, jeden Tag nach der Arbeit.
Und dann ist er heimgegangen und hat sich auf seinen Küchenstuhl gesetzt und an Rita gedacht. Wie er sie gefragt hatte, ob sie seine Frau werden wolle, wie sie ihn zärtlich küsste und für immer und ewig zu ihm sagte, und wie sie sich geliebt haben, bis ihm schwindlig wurde vor Glück. Und dann ist ihm hundeelend geworden und er hat erst einmal ein paar Bier in sich hineingeschüttet.
»Von den Toten auferstanden!«, witzelt Rolf und macht ihm Platz.
»Na, wie wär’s mit der da?«, sagt er und deutet auf die Frau mit dem roten Gesicht und den klebrigen Haaren, die zwei leere Wodkagläser vor sich stehen hat und wie wild das Display ihres Smartphones bearbeitet. »Für den Anfang, was meinst du?«
»Trottel!«, sagt Alfred.
»Wie Rolf solltest du sein«, denkt er, »ist die eine fort, holt er sich die andere. Aber das geht nicht, wenn du dich nach einer sehnst, die dir ansieht, wenn dir ein Pfahl in der Brust steckt und ihn herauszieht, wenn‘s nötig ist, und die zu dir hält, wenn sich das Leben wieder einmal gegen dich stemmt und dir die letzte Luft aus deinem Körper presst.«
»Auf dein neues Leben!«, prostet Rolf ihm zu und kippt sich den Klaren in die Kehle.
Rolfs Arbeitsplatz ist nicht sicher. Auch befristet. Noch zwei Monate. Er hat wenig Hoffnung. Er ist einundsechzig.
»Und auf dich, damit es weitergeht!«, sagt Alfred.
Das Haus hat er vermietet. Er möchte nicht mehr darin leben, ohne Rita. Hermann ist jetzt Ritas Mann. Er hat jetzt einen festen Arbeitsvertrag. Mit Rolf geht er nur noch selten aus. Er trinkt kaum noch Alkohol. Er will nicht enden wie Ernst. Manchmal geht er zu Tatjana. Sie reden nicht viel miteinander. Zum Reden hat sie keine Zeit. Sie muss Geld verdienen. Für sich und ihre kleine Tochter. Die lebt weit weg von ihr, in der Ukraine, bei ihrer Großmutter.
»Schau nach vorn«, sagt er sich und zerreißt ein Foto nach dem anderen: Die Fabrik, wo er seine Lehre gemacht und an der Drehbank gestanden hatte, bis es nicht mehr ging und einer nach dem anderen entlassen wurde. Das lindgrün gestrichene Haus mit der Holzterrasse, der kleine, mit Thujen umzingelte Garten. Rita und er auf der Eichenbank. Rita mit Hut. Rita im heißen Bikini. Rita beim Tischdecken. Alles in Fetzen. Für immer und ewig hatte sie ihm versprochen. Rita war achtundzwanzig, damals.
»Vielleicht sollte man nicht zu viel versprechen, wenn man jung ist, wenn man keine Glaskugel hat, in der man sehen kann, dass jemand seine Arbeit verliert, dass er weg muss von dir, dass du allein klarkommen musst. Wahrscheinlich kommst du ohnehin besser zurecht ohne Glaskugel«, denkt er und steckt das Hochzeitsfoto wieder zurück in den Rahmen.
»Hauptsache nicht allein!«, sagt er sich und sieht dem alten Paar nach.
Er geht zum Pavillon und setzt sich auf die verwitterte Holzbank. Die Sonne scheint auf sein Gesicht und seine Hände, doch ihm ist kalt. Bei Rita war es warm. Wenn er sie in seinen Armen hielt, wenn er sich an sie drückte, war es warm.
Sie hat kurzes braunes Haar, fast so kurz wie Rita. Alfred kleidet sie aus, zieht ihr das rosa Hemd an, gibt ihr einen Kuss und legt sich neben sie. Morgen kauft er ihr ein hübsches, neues Kleid. Und einen Hut! Und irgendwann geht er mit ihr zum Pavillon. Vielleicht.