Читать книгу Letztes Glück - Renate Maria Schöttner - Страница 7
Der Wunsch des Dalai Lama
ОглавлениеIch griff nach dem Wecker und brachte ihn nur mühsam zum Verstummen. In zwei Stunden würde der Reiseführer in der Hotellobby auf mich warten. Ich hatte so gut wie nicht geschlafen, in meinem Kopf hämmerte es unaufhörlich und auf meiner Brust lag eine zentnerschwere Eisenplatte. Tibet, Lhasa, Jokhang-Tempel, Potala-Palast, eintauchen in die jahrhundertealte Kultur dieses Landes, in ihre Religion, ihre Mystik, wie hatte ich auf diese Reise hin gefiebert. Und jetzt das: einhundertzwanzig Puls, liegend, eine Übelkeit, als hätte ich eimerweise Alkohol in mich reingeschüttet und ein Schwindel, der das Bild an der Wand in eine rotierende Scheibe verwandelte. Ich wusste gar nicht, dass Yakmilch-Tee und Mineralwasser derart unangenehme Nebenwirkungen hervorrufen können. Dreitausendsechshundert Meter über dem Meeresspiegel sind zwar ein wenig mehr als Zugspitzniveau, aber dass sie mir so zusetzen würden, machte mich nun doch etwas nachdenklich. Ich verglich mich mit den älteren, Französisch sprechenden Herrschaften einer Gruppe, die mir gestern Abend im Hotel auffielen. Kein einziger von ihnen machte auf mich den Eindruck eines durch die dünne Höhenluft geschwächten und in irgendeiner Weise gesundheitlich beeinträchtigten Reisenden. Sie gingen, nein, sie rannten den langen Hotelflur entlang, waren in bester Laune, aßen und tranken ausgiebig und bejubelten die tibetische Tanzgruppe, die Tänze aus ihrer Heimat darbot.
Herr Chen, mein chinesischer Reiseführer sprang vom Hotelsessel auf und lief mir entgegen, als er mich aus dem Lift kommen sah.
»Hello, let’s go Mr. Frank«, rief er in einigermaßen verständlichem Englisch, lief genauso schnell durch die Hoteltür und zeigte auf ein Auto, in das er mich schob.
Eine Flut aus Worten, die meinen Kopf nun endgültig zum Platzen brachten, brach über mich herein und verebbte erst, als ich fragte, ob denn irgendetwas nicht in Ordnung sei.
»Don‘t worry«, entgegnete er und deutete dem Fahrer an, loszufahren.
Als der Potala-Palast vor uns auftauchte, vergaß ich Kopfschmerzen und Atemnot und alles andere, was seit Betreten tibetischen Bodens über mich hergefallen war. Vor mir thronte auf dem roten Berg die ehemalige Winterresidenz der Dalai Lamas. Das mächtige, prachtvolle Gebäude, eine der bedeutendsten Pilgerstätten des tibetischen Buddhismus, sah auf mich herab und mit ihm die weltlichen und geistigen Oberhäupter Tibets, die von ihrem Volk verehrt werden als erleuchtete Wesen, und ich spürte einen Moment des Glücks, der denen zuteilwird, deren Wunsch sich endlich in Wirklichkeit verwandelt.
Herr Chen führte mich zum Eingang des Palastes. Als wir die Haupthalle betraten, gesellte sich ein Mann zu uns und wechselte ein paar Worte mit ihm.
»Ich hoffe, sie haben nichts dagegen, wenn uns mein Freund begleitet«, sagte Herr Chen. »Er kommt aus Peking. Viele meiner Landsleute reisen inzwischen nach Lhasa und wollen natürlich auch den Potala-Palast besuchen.«
Der Geruch des alten Gemäuers schlug mir entgegen und machte mir das Atmen noch schwerer. Die Schönheit der Räume mit ihren farbenprächtigen Wandgemälden, den Rollenbildern, den prunkvollen Brokatstoffen, den goldenen und bronzenen Statuen betörten Augen und Sinne. Herr Chen deutete auf ein Gemälde und erklärte, dass es sich bei der Darstellung um eine Audienz des fünften Dalai Lama bei einem chinesischen Herrscher, dessen Namen ich nicht verstanden hatte, handelte. Ich bekam beinahe keine Luft mehr und nahm die Ausführungen meines Reiseleiters über dieses historische Ereignis kaum noch war. Der fünfte Dalai Lama neigte plötzlich seinen Kopf nach links, dann nach rechts, bevor mir schwarz vor Augen wurde.
Herr Chen rief meinen Namen, eine Gruppe Touristen stand bei ihm und bombardierte ihn mit wohlgemeinten Ratschlägen.
»Kopf hochlagern«, sagte ein junger Mann in Trekkinghosen und T-Shirt.
»Nein, nein, die Beine«, rief ein älterer Mann, »die Beine müssen nach oben. Das Blut muss in den Kopf.«
»Geben sie ihm das hier, acht müssten genügen«, riet eine Frau, die ihrer Handtasche ein kleines Gläschen mit weißen Kügelchen entnommen und es meinem Reiseführer in die Hand gedrückt hatte.
Eine junge Tibeterin kam aus einem Nebenraum, brachte ein Glas Wasser, zwei Kissen und eine dicke Decke. Herr Chen flößte mir Kügelchen und Wasser ein, schob mir die Kissen unter die Beine und legte die Decke über meinen Körper.
»Wärst du nicht schon ohnmächtig gewesen, spätestens jetzt würdest du es werden«, dachte ich, denn die Decke war schwer wie Blei und roch dermaßen streng, dass ich unwillkürlich die Luft anhielt, obwohl man mir aufgetragen hatte, gleichmäßig und tief zu atmen. Wahrscheinlich hatten schon Generationen tibetischer Hirten die Nächte unter diesem Fell verbracht. Trotzdem war ich dankbar für ihre Wärme, denn der Schüttelfrost ließ mehr und mehr nach.
Der Freund meines Reiseführers, der nicht von unserer Seite gewichen war, betrachtete das Geschehen vom anderen Ende des Raumes. In seinem grauen Anzug, dem weißen Hemd und der dunklen Krawatte glich er so gar nicht den anderen Besuchern des Palastes.
Herr Chen machte sich auf, Sauerstoff zu besorgen und überließ mich der Obhut des Mädchens mit dem rotbraun gebrannten Gesicht und den pechschwarzen Haaren – eine Hüterin der ehrwürdigen Räume, wie ich annahm. Die Gruppe löste sich auf, auch der Freund meines Reiseführers verließ das Zimmer. Mir war immer noch übel, und mit jedem heftigen Schlag meines Herzens glaubte ich, wieder das Bewusstsein zu verlieren. Wenigstens hatten die Kopfschmerzen ein wenig nachgelassen. Der fünfte Dalai Lama sah vom Gemälde zu mir herab, hielt seinen Kopf aber nun gerade.
»Der Dalai Lama möchte sie sehen«, sagte das Mädchen.
»Lebt er denn nicht im Exil?«, fragte ich.
Ich hatte mir das Wichtigste über ihn angelesen, über seine Herkunft, dass er den Friedensnobelpreis erhalten hatte, und dass er aus Tibet geflohen war, als die chinesische Herrschaft über das Land hereinbrach, das Mindeste also, was man als Tibet-Reisender wissen sollte.
»Der Dalai Lama lebt in Indien, und manchmal lebt er hier«, entgegnete sie. »Tibet ist seine Heimat, eine Heimat wird man niemals ganz verlassen.«
»Ich würde mich glücklich schätzen, ihm zu begegnen«, sagte ich.
»Wer bekommt schon die Gelegenheit, mit dem Dalai Lama zu sprechen. Politiker vielleicht, der Papst, Oberhäupter anderer Religionen. Ich würde mit ihm reden, über seine Vertreibung, über den tibetischen Buddhismus, über die Wiedergeburt. Vielleicht würde ich ein neues Bewusstsein erlangen, das mich mehr mit dem Herzen als mit dem Verstand handeln ließe. War ich nicht auch deswegen nach Tibet gereist? Wer ist nicht auf der Suche nach sich selbst, nach innerer Ruhe, nach Zufriedenheit? Wer möchte nicht die Dinge des Lebens annehmen können, wie sie sind, anstatt sich zu verlieren im Kampf gegen sie?«
»Er wartet auf sie«, sagte sie, half mir auf die Beine und führte mich in den Nebenraum.
Der Dalai Lama saß auf einem Stuhl und sah ein wenig betrübt aus. Warum lächelte er nicht? Der Dalai Lama lächelt immer, dachte ich. Er lächelte jedes Mal, wenn ich ihn am Bildschirm sah und er lächelte von den Umschlägen seiner Bücher.
»Eure Heiligkeit, ich fühle mich zutiefst geehrt«, sagte ich und verneigte mich.
»Ich bitte sie, mir die Ehre zu geben und eine Partie Mensch ärgere Dich nicht mit mir zu spielen«, entgegnete er.
»Wenn das der Wunsch Eurer Heiligkeit ist«, sagte ich.
Der Dalai Lama sagte weiter: »Von Zeit zu Zeit verlasse ich mein Exil und kehre zurück in meine Heimat, auch wenn das äußerst gefährlich ist. Die Mönche in den Klöstern benötigen meinen Beistand. Was in Tibet geschieht, macht mich traurig und ärgerlich. Ja, sie haben richtig gehört, der Dalai Lama ist verärgert.«
»Werden sie uns abhören, können sie uns sehen?«, flüsterte ich.
Schon beim Betreten des Palastes waren mir die Überwachungskameras aufgefallen.
»Hier sind wir sicher«, antwortete er, »auf meine Vertrauten ist Verlass.«
»Ich habe den Mann im grauen Anzug beobachtet, der sie nicht aus den Augen gelassen hat, deshalb mein betrübter Gesichtsausdruck«, erklärte er.
»Also kein Freund meines Reiseführers«, sagte ich.
»Kein Freund!«, entgegnete er.
»Lassen sie uns spielen«, bat er und zeigte auf einen Tisch.
Die junge Tibeterin war gerade dabei, das Brett und die Figuren dort auszubreiten.
»Übrigens, Nyima gewinnt meistens!«
Und dann sagte er noch etwas sehr Bedeutendes: »Wenn wir unserem Ärger freien Lauf lassen, machen wir ihn nur stärker.«
Ich kannte dieses Zitat von ihm. Eines von vielen, die den Menschen Hilfestellung sein sollten auf dem Weg zu mehr Gelassenheit. Es persönlich aus seinem Munde zu hören, berührte mich zutiefst. Keiner ist frei von Ärger, entscheidend ist nur, wie wir damit umgehen. Das war seine Botschaft.
»Können wir beginnen?«, fragte er.
»Eure Heiligkeit, es ist mir eine große Ehre, mit ihnen eine Partie spielen zu dürfen«, entgegnete ich.
Herr Chen war zurück.
»Are you o.k.?«, fragte er, entschuldigte sich für seine lange Abwesenheit und reichte mir die Sauerstoffflasche. Ich lag noch immer auf der Bank, nur die Decke war ein wenig nach unten gezogen. Er wies mich an, die Maske an Mund und Nase zu pressen. Nach ein paar Zügen versicherte ich ihm, dass es mir schon viel besserginge und wir die Besichtigung des Potala Palastes gern fortsetzen könnten.
Das Mädchen saß noch immer auf demselben Sessel, auf dem es Platz genommen hatte, nachdem Herr Chen gegangen war. Als sie mir freundlich zunickte, erinnerte ich mich plötzlich an meinen seltsamen Traum. An den Dalai Lama, an seine Worte, an das Mensch ärgere Dich nicht Spiel, das ich gewonnen hatte. Und auch daran, dass er lächelte, als es zu Ende war.
»Bitte sagen sie Nyima meinen herzlichen Dank für ihre Fürsorge«, bat ich meinem Reiseführer.
»Sie kennen ihren Namen?«, fragte er.
Nyima nickte mir wieder zu.
»Irgendjemand muss ihn erwähnt haben«, antwortete ich.