Читать книгу Letztes Glück - Renate Maria Schöttner - Страница 4
Das rätselhafte Zeichen
Оглавление»Können sie das hier auch nehmen?«, fragte Herr Birsla, unser Postbote, und stellte mir ein Paket vor die Füße. »Wer Ware bestellt, sollte bitte schön auch zu Hause sein, um sie entgegen zu nehmen. Heutzutage kriegst du alles im Internet, musst deinen Allerwertesten keinen Millimeter bewegen um einzukaufen und schon gar nicht, um es zu dir nach Hause zu schaffen. Ist für Herrn Pal, fünfter Stock, links.«
»Herr, wie nochmal?«
»Pal, fünfter Stock.«
»Links?«
»Links.«
»Kenne ich nicht.«
»Also, sie nehmen es, ich werfe ihm eine Benachrichtigung in den Briefkasten«, sagte Birsla und verschwand eilig in Richtung Aufzug.
»Das kommt von deiner Gutmütigkeit«, sagte ich mir, »hast wieder so ein Ding an der Backe, das große neulich stand vier Tage im Flur, bevor der von nebenan sich endlich bemüht hat, es abzuholen. Und dieser Herr Pal ist wahrscheinlich auch einer von diesen Unzuverlässigen.«
Ich legte das Paket auf den Stuhl neben dem Garderobenschrank. Es hatte ungefähr die Maße einer Schuhschachtel, genauer gesagt Winterstiefelschachtel, war mit hellbraunem Packpapier eingewickelt, sorgfältig verschnürt, wahrscheinlich das Werk eines Verpackungskünstlers, und mit einem Aufkleber versehen, auf den in kleinen und enganeinandergereihten Buchstaben Amit Pal geschrieben stand, nebst Adresse. Was mir sofort auffiel, war das Zeichen, das am unteren Ende des Aufklebers aufgemalt war. Zuerst hielt ich es für ein etwas aus der Form geratenes Herz, dann sah ich darin eine Blume mit welken Blütenblättern, dann wieder einen Stern, und letztendlich wieder ein Gekrakel, dessen Bedeutung ich nicht verstand. Ich hob das Paket hoch und schüttelte es ein wenig. Irgendetwas rutschte von einer Seite auf die andere. Ich schüttelte es ein zweites Mal, kräftiger als vorher. Plötzlich klirrte es. Ich zuckte zusammen.
»Jetzt ist es kaputt«, fuhr es mir durch den Kopf. Porzellan, Glas, wertvoll, ein Geschenk, demoliert, in Scherben, Splittern, Bruchstücken. Werkzeug, wenn es aneinanderschlägt klirrt ebenfalls, versuchte ich mir einzureden. Schraubenschlüssel, Bohrer, Zangen, nicht ordnungsgemäß verpackt, lose in einer Schachtel liegend. Natürlich, Herr Pal war Heimwerker. Er musste renovieren. Wahrscheinlich erst eingezogen, deshalb kannte ich seinen Namen nicht. Das schien einleuchtend zu sein. Und auf dem Paket stand weder »Vorsicht Glas« noch ein anderer Hinweis, der auf einen leicht zerbrechlichen Inhalt deutete. Aber da war noch immer die Sache mit dem rätselhaften Zeichen: Ein Versandhandel klebt erstens auf seine Pakete keine handgeschriebenen Aufkleber und versieht sie zweitens nicht mit undefinierbaren Zeichen. Ich schüttelte es erneut. Wieder das gleiche Klirren. Erst jetzt sah ich, dass der Absender ebenfalls Pal hieß, G. Pal, Köln.
Um neun Uhr abends lag das Paket noch immer auf dem Stuhl. Ich legte es vorsichtig auf den Teppichboden, neben meine Pumps.
»Hast wieder mal recht gehabt«, dachte ich, »wahrscheinlich vergehen wieder vier Tage, bis der Herr sich bemüht«.
Pal, was war das eigentlich für ein Nachname, ein deutscher jedenfalls nicht. Und Amit? Arabisch, vermutete ich. Ich weiß nicht, warum ich seinen Namen mit einer Eigenschaft in Verbindung brachte, die nichts mit Herkunft oder Abstammung zu tun hatte. Ja, vielleicht teilte ich die Menschen ein in zuverlässig und unzuverlässig, was mich selbst oft an mir störte, aber gewiss nicht nach deren Herkunft. Bis dahin hatte ich noch nie einen Unterschied gemacht zwischen Pal oder Pabst, zwischen Amit oder Achim.
Ich hatte beschlossen, das Paket liegen zu lassen. Er wusste schließlich, dass es sich bei mir befand, warum also sollte ich es ihm vorbeibringen. Und meine Schuld war es sicher nicht, wenn etwas zerbrochen war. Von den sechs Kaffeebechern, die ich mir letzte Woche schicken ließ, waren doch auch nur fünf heil bei mir angekommen. Morgen musste ich wieder zur Arbeit, und vor zwanzig Uhr würde ich sicher nicht zuhause sein. Wenn er morgen renovieren will, sein Pech. »Wer zu spät kommt, den bestraft …«
»Sei nicht so streng mit ihm, renovieren ist Strafe genug«, dachte ich und nahm mir vor, ein bisschen früher aufzustehen, sollte er in aller Frühe bei mir klingeln.
»Zwei Tote und mindestens drei Verletzte, was zum Teufel geht in diesen wirren Köpfen vor!«, überfiel mich mein Kollege. »Wenn ich ehrlich bin, mir war nicht wohl heute Morgen in der U-Bahn.«
»Doch nicht schon wieder ein Anschlag?«, fragte ich vorsichtig und merkte, wie ich leicht zu zittern anfing.
»Heute früh, kurz nach sieben.«
»Bei uns?«
»Frankreich, kleines Nest im Süden.«
»Mein Gott, schon wieder Frankreich! Eine Bombe?«
»Messerattacke.«
»Einer dieser Verblendeten, die unsere freiheitlichen Werte für Teufelswerk halten?«
»Vermutlich.«
Diese Terrorangriffe gingen natürlich auch an mir nicht spurlos vorbei. Ich hatte mich in den letzten Monaten schon mehrmals dabei ertappt, wie ich jeden einzelnen, der in die U-Bahn einstieg, mit meinen Augen taxierte und aufgrund seines Aussehens in harmlosen Mitbürger oder potentiellen Attentäter einteilte. Da wurde aus einem schwarzhaarigen jungen Mann mit dunklem Teint schnell ein Bombenleger und aus der Kinderwagen schiebenden Frau mit Kopftuch und Mantel eine Sprengstoffgürtel tragende Terroristin.
»Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen«, sagte mein Kollege.«
»Leicht dahingesagt, aber wenn du morgen wieder an der Stelle vorbeimusst, wo es passiert ist«, entgegnete ich.
»Messer! Messer, die aneinanderschlagen, klirren. Im Paket sind Messer. Das konspirative Zeichen auf dem Aufkleber. Der arabisch klingende Name«: diese Gedanken eroberten nach und nach mein Gehirn und fügten sich zu einem Ganzen, das mich wieder zu zittern beginnen ließ. Ich saß in der hintersten Reihe der U-Bahn, und als der bärtige Mann im Businessanzug und mit Laptoptasche in der Hand mich fragte, ob der Platz neben mir noch frei sei, sah ich ihn verstört an, sprang auf, lief nach vorne und ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Ich war froh, bald aussteigen zu können.
Das Paket musste weg. Ich würde es ihm vor die Tür stellen. Aber wenn er tatsächlich Böses im Schilde führte. Noch bevor ich meine Pumps auszog, begutachtete ich es erneut, neigte es zu allen Seiten, befand es schließlich doch als harmlos und bezeichnete mich als hysterische Kuh, die ihre übertriebene Ängstlichkeit gefälligst in den Griff zu bekommen habe.
»Heute Abend holt er es bestimmt«, sagte ich mir, »dann hast du nichts mehr zu tun mit dieser Sache.«
Er holte es nicht an diesem Abend und auch nicht am nächsten. Ich gab ihm noch genau einen Tag, dann würde es vor seiner Tür landen. Was immer auch da drin sein mochte, es schien ihn sowieso nicht zu interessieren.
Ich wartete auf den Lift. Das Paket hatte ich kurz zuvor neben seine Tür gelegt, nachrichtlos, ärgerlich wie ich war. Freitag, sechsuhrdreißig, Hauptbahnhof! Diese drei Worte in gebrochenem Deutsch genügten bereits, um mich wieder in Aufruhr zu versetzen. Ich drehte mich zur Seite und sah zwei junge Männer mit Rucksäcken die Treppe hinunterrennen, nun einen arabisch klingenden Wortschwall nach sich ziehend.
»Schon Freitag, sechsuhrdreißig, Rushhour!«, stieß ich entsetzt aus.
»Kann ich helfen?«, fragte die Nachbarin, die gerade auf mich zukam.
»Äh, es ist!«, begann ich, besann mich aber glücklicherweise eines Bessren und sagte: »Alles o. k., danke, habe mich nur darüber aufgeregt, dass ich am Freitag in aller Frühe zum Bahnhof muss.
»Ach so, kann ich verstehen, und gute Reise«, entgegnete sie.
Freitag, das war in zwei Tagen. Ich hatte also noch genau heute und morgen Zeit, die Polizei zu informieren und sie über die Zusammenhänge zwischen dem mysteriösen Paket, Amit Pal, den beiden Männern im Treppenhaus und den Wortfetzen, die ich aufgeschnappte hatte, aufzuklären. Ich hoffte, sie würden daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Mehr konnten sie nicht von mir verlangen.
Ich nahm mir vor, gleich in der Mittagspause anzurufen. Es war Abend geworden, und ich hatte die Polizei immer noch nicht verständig. Schließlich konnte ich das auch am Donnerstagmorgen tun, bevor ich ins Büro ging.
»Die sind ja schnell«, sagte ich mir, »wenn es um sowas geht. Ein paar Schwerbewaffnete vor Pals Tür, Waffen und Sprengstoff sicherstellen, Telefonkontakte auswerten, Mitwisser verhören, Untersuchungshaft.«
Am Freitag stand ich um fünf Uhr morgens auf und schaute als erstes auf mein Smartphone. Nachrichten! Nichts Außergewöhnliches. Fünfuhrdreißig: keine neuen Meldungen. Sechs Uhr: alles unauffällig. Zehn Minuten vor halb sieben: mein Magen rebellierte, mir war übel, und ich fing an zu zittern. Ich hatte das ganze Horrorszenario vor Augen. Ich hätte es verhindern können, war Mitwisser, Mittäter, war schuldig. Wie würde ich weiterleben können? Und wenn ich mich doch verhört, Tag und Uhrzeit nicht richtig verstanden hatte. Wenn ich nur etwas missgedeutet hatte. Wenn ich nur ein Opfer meiner lebhaften Fantasie geworden war. Damit tröstete ich mich bis sechsuhrfünfundvierzig. Erst dann wagte ich es, wieder mein Smartphone zu befragen. Hurrican schwächer als erwartet – Florida nicht betroffen, kanadische Außenministerin zu Gast im Kanzleramt, fünfundfünfzigjährige Schwedin bringt Zwillinge auf die Welt, jüdisches Mahnmal beschädigt.
»Nichts Besorgnis erregendes«, dachte ich, »die letzte Meldung natürlich ausgenommen. Eine Schande!«
Nichts war passiert, kein Anschlag, keine Messerattacke, alles friedlich, nichts Erschütterndes. Ich atmete tief durch. Das hatte ich übersehen: Betrieb aller U-Bahnen in Richtung Hauptbahnhof eingestellt. Hauptbahnhof! Auf einen Schlag wurde ich wieder unruhig. Systemfehler! Damit konnte ich diese Sache wieder dorthin rücken, wo sie hingehörte, nämlich in die Rubrik Verkehrsprobleme.
Ich beschloss, mich krank zu melden. Ins Büro würde ich es ohnehin nicht mehr rechtzeitig schaffen.
»Magenverstimmung, wahrscheinlich etwas Verdorbenes gegessen«, verständigte ich meinen Vorgesetzten und dankte dem Himmel, der mich davor bewahrt hatte, eine große Dummheit zu machen.
Diesen Tag hatte ich mir selbst verdorben. Ich war ja offiziell krank, konnte mich deshalb nirgends blicken lassen. Zum Gemüsehändler um die Ecke, das wäre noch erklärbar, eine leichte Gemüsebrühe bei verdorbenem Magen hat noch niemandem geschadet.
»Schönen guten Tag«, begrüßte mich ein sympathischer junger Mann, als ich gerade dabei war, meine gefüllte Einkaufstasche auf dem Boden abzustellen.
Der Lift war wahrscheinlich genauso alt wie das Haus und schon ein bisschen »altersmüde«. Das hatte den Vorteil, dass man während des Wartens – bis der Aufzug sich bemühte – dem einen oder anderen Nachbarn begegnete und genügend Zeit blieb, mehr als nur guten Tag oder auf Wiedersehen zu sagen.
»Übrigens, ich heiße Amit, Amit Pal«, sagte er. »Habe es leider bis heute nicht geschafft, mich bei den Nachbarn vorzustellen, neue Arbeitsstelle, viel zu tun, Wohnung, alles neu am Anfang.«
»Aha, Pal, wohl erst eingezogen«, entgegnete ich etwas unfreundlich.
»Vor drei Monaten, aber die meiste Zeit verbringe ich an meinem Arbeitsplatz. Bin noch nicht oft weggegangen am Wochenende, wird schon werden.«
»Sie mussten sicher die Wohnung renovieren«, platzte es aus mir heraus.«
Er sah mich erstaunt an.
»War doch sicher nicht in bestem Zustand«, setzte ich erneut an, »wenn ich zurückdenke, was es bei mir zu tun gab, bis es gemütlich wurde.«
»Tut mir leid für sie, meine Wohnung war top, sogar der Parkettboden im Wohnzimmer war noch tadellos«, entgegnete er.
»Top also«, dachte ich, »kein Werkzeug demzufolge, und wahrscheinlich ist er auch nicht arabischer Herkunft, obwohl, schwarze Haare, dunkle Augen.
»Ängstliche Kuh«, wandte sich mein Verstand glücklicherweise noch rechtzeitig an mein offensichtlich wieder in Wallung geratenes Gemüt, »der hier ist ein harmloser, überaus freundlicher, gut erzogener junger Mann, aus welchem Land auch immer.
»Ihr Deutsch ist hervorragend«, sagte ich und hoffte, meine Unfreundlichkeit von vorher damit vergessen zu machen.
»Ich bin hier geboren, meine Mutter ist Deutsche«, klärte er mich auf, »und ruft jeden Tag an, ob es ihrem Sohn an irgendetwas fehlt.«
Er grinste wie ein kleiner Junge, obwohl ich ihn auf Anfang dreißig schätzte.
Der Lift war angekommen. Er bückte sich nach meiner Einkaufstasche und reichte sie mir.
»Darf ich sie vielleicht auf eine Tasse Tee einladen, natürlich nur, wenn sie Zeit haben?«, fragte er mich, als wir nach oben fuhren.
Um sechzehn Uhr saß ich auf Herrn Pals gemütlichem, rotbraunem Sofa, hatte die Wahl zwischen schwarzem Tee oder Chai, entschied mich für ersteren, denn Chai gehörte nicht wirklich zu meinen Lieblingsgetränken.
»Was für ein Glück, dass ich heute Nachmittag frei habe!«, sagte er, während er den Tee in der Küche zubereitete.
»Und dass ich mich krankgemeldet habe«, dachte ich.
Das Paket kam mir wieder in Erinnerung. Jetzt, da ich bei Herrn Pal am Tisch saß, mit ihm Tee trank, mit ihm redete und mit ihm lachte, schämte ich mich für mein dümmliches, vorurteilsbehaftetes Denken und Handeln.
Er erzählte mir, dass sein indischer Vater, der vor achtzehn Jahren gestorben war, Ende der sechziger Jahre nach Deutschland kam, um Ingenieurwesen zu studieren und bald nach Abschluss des Studiums seine Mutter geheiratet hatte, die jetzt in Köln, bei seiner Schwester und ihrer Familie lebte.
»Möchten sie Kekse?«, fragte er mich, nachdem er mir eine zweite Tasse eingegossen hatte. »Nan Khatai, indische Gewürzplätzchen.«
Er ging in die Küche, kam mit einer Dose und einem Glasteller zurück und füllte ihn mit den Plätzchen.
»Bitte nehmen sie«, sagte er, »indische Spezialität, hat meine Mutter gebacken.«
Die Kekse sahen toll aus, waren mit gehackten Pistazien verziert und schmeckten vorzüglich. Ich lernte, dass die Hauptzutaten aus Mehl, Kichererbsenmehl, Ghee – eine Art Butterschmalz, Zucker und verschiedenen Gewürzen bestanden, von denen ich Zimt und Kardamom erriet.
»Hat mir meine Mutter mit der Post geschickt, ich glaube, sie sieht durch das Telefon, wenn die vier Dosen leer sind«, sagte er schmunzelnd. »Ich habe das Paket erst heute erhalten, es lag am Morgen vor der Tür. Eigenartig, sie hatte es bereits vor einer Woche abgeschickt.«
»Und, hatten sie denn keine Benachrichtigung im Briefkasten?«, fragte ich vorsichtig.
»Nein. Ist doch merkwürdig, oder? Die Dame, die direkt neben mir wohnt, nimmt die Pakete immer für mich an, aber von dem neuen wusste sie auch nichts.«
Ich glaube, ich war etwas blass geworden und hoffte, dass er nicht bemerkte, wie es in meinem Kopf ratterte: Paket, Blechdosen, Klirren.
»Sagen sie bitte ihrer Mutter, die Plätzchen schmecken himmlisch«, sagte ich schnell.
»Aber gern«, entgegnete er, »das wird sie sicher freuen.«
»Was es mit diesem Zeichen auf dem Paketaufkleber zu tun hat, wirst du aber wohl nie erfahren«, dachte ich.
Als ich einige Monate später für Amit – wir waren inzwischen Freunde geworden – ein Paket seiner Mutter entgegennahm und auf dem Aufkleber wieder ein ähnliches Zeichen fand, fragte ich ihn danach.
Er lachte.
»Das Werk meiner vierjährigen Nichte Sara«, klärte er mich auf.
»Plätzchen für Onkel Amit?«, fragt sie jedes Mal, wenn Mutter einen Aufkleber schreibt und auf das Paket kleben will. »Darf ich etwas darauf malen?«
»Außen Plätzchen, innen Plätzchen«, sagte ich.
»Hm, so habe ich das ja noch nie gesehen«, entgegnete er.