Читать книгу Meditationen / Abhandlung über die Methode - Рене Декарт - Страница 9
Erster Abschnitt
ОглавлениеDer gesunde Verstand ist dasjenige, was in der Welt am besten verteilt ist, denn jeder glaubt so reichlich damit versehen zu sein, dass sogar Menschen, die in allen anderen Dingen außerordentlich schwer zufrieden zu stellen sind, hiervon für gewöhnlich nicht mehr haben wollen, als sie besitzen. Dass alle sich hierin täuschen, ist unwahrscheinlich; es beweist vielmehr, dass die Fähigkeit, richtig zu urteilen und Wahres und Falsches zu unterscheiden, worin eigentlich das besteht, was wir gesunden Verstand oder Vernunft nennen, von Natur aus bei allen Menschen gleich ist, und dass also die Verschiedenheit unserer Meinungen nicht daher kommt, dass der eine mehr Verstand hat als der andere, sondern daher, dass wir unsere Gedanken verschiedene Wege gehen lassen und nicht die gleichen Dinge betrachten. Denn es genügt nicht, einen guten Verstand zu haben, sondern es kommt darauf an, ihn gut anzuwenden. Die größten Geister sind ebenso der größten Laster wie der größten Tugenden fähig; und wer langsam geht, jedoch stets den rechten Weg verfolgt, kann viel weiter kommen als ein anderer, der zwar läuft, aber sich von ihm entfernt.
Was mich betrifft, so habe ich mir niemals eingebildet, mein Geist sei in irgendeiner Beziehung vollkommener als der eines Durchschnittsmenschen; ja, ich habe mir sogar oft die schnelle Auffassungsgabe, das klare und scharfe Vorstellungsvermögen oder das umfassende und allgegenwärtige Gedächtnis anderer gewünscht; und ich wüsste nicht, welche Eigenschaften sonst die geistige Vollkommenheit ausmachen sollten; denn was die Vernunft oder den Verstand anbetrifft, die allein uns erst zu Menschen machen und von den Tieren unterscheiden, so glaube ich doch, dass sie ganz und ungeteilt in jedem sind, und ich schließe mich der gewöhnlichen Meinung der Philosophen an, welche sagen, dass es nur unter den Akzidentien ein Mehr oder Weniger gäbe, nicht aber bei den Formen oder Naturen der Individuen einer Gattung.
Jedoch scheue ich mich nicht, zu bekennen, dass ich viel Glück gehabt zu haben glaube, da ich mich seit früher Jugend auf Wegen befand, die mich zu Betrachtungen und Regeln führten, aus denen ich eine Methode bildete, die mir geeignet scheint, mein Wissen von Stufe zu Stufe zu erweitern und endlich auf jene höchste Höhe zu erheben, welche die Mittelmäßigkeit meines Geistes und die kurze Dauer meines Lebens zu erreichen gestatten, denn ich habe durch sie schon Früchte dieser Art geerntet, obwohl, wie ich mich selber beurteile, ich stets bestrebt bin, eher nach der Seite des Misstrauens als der Anmaßung hinzuneigen, und wenn ich mit dem Auge des Philosophen die verschiedenen Handlungen und Unternehmungen der Menschen betrachte, so erscheinen sie mir alle eitel und unnütz; wenngleich ich sagen muss, dass ich die höchste Befriedigung aus dem Fortschritt schöpfe, den ich in der Erforschung der Wahrheit bereits gemacht zu haben glaube, und ich erhoffe so viel von der Zukunft, dass ich zu glauben wage, von allen Beschäftigungen der Menschen, lediglich als Menschen, sei die von mir gewählte die einzige, welche wahrhaft gut und wichtig ist.
Indessen mag ich mich irren, und vielleicht ist es nur ein bisschen Kupfer oder Glas, was ich für Gold und Diamanten halte. Ich weiß, wie leicht wir uns in allem irren, was uns selbst betrifft, und wie verdächtig uns sogar die Urteile unserer Freunde sein müssen, wenn sie für uns günstig sind. Aber ich bin gern bereit, in dieser Abhandlung die von mir eingeschlagenen Wege zu schildern und mein Leben wie in einem Gemälde darzustellen, damit jedermann es zu beurteilen vermag, und wenn die öffentliche Meinung mir die Ansichten darüber zuträgt, so möge das ein neues Mittel der Belehrung für mich sein, das ich denen, die anzuwenden ich gewohnt bin, hinzufügen werde.
Mein Plan ist also nicht, hier die Methode zu lehren, die ein jeder befolgen muss, um seine Vernunft richtig zu gebrauchen, sondern ich will lediglich zeigen, wie ich es anfing, die meinige zu leiten und zu gebrauchen. Wer es unternimmt, andere zu belehren, beweist damit, dass er selbst sich für klüger hält als die andern, die er belehren will, und wenn er dann den geringsten Fehler macht, verdient er, getadelt zu werden. Daher will ich diese Schrift nur als eine Geschichte oder, wenn man will, als eine Fabel darbieten, darin sich neben mancherlei nachahmenswerten Beispielen vielleicht auch manche finden werden, denen man aus guten Gründen nicht folgen wird, und so hoffe ich, dass sie manchem nützen und niemandem schaden wird und dass alle mir für meine Offenheit dankbar sein werden. Schon während meiner Kindheit bin ich in den Wissenschaften unterwiesen worden; und da man mich überzeugte, durch sie könne man eine klare und sichere Erkenntnis von allein erlangen, was für das Leben nützlich ist, war ich von dem sehnlichsten Wunsche erfüllt, das kennenzulernen. Als ich jedoch den Studiengang hinter mir hatte und mich, wie es Sitte war, zu den Gelehrten hätte rechnen dürfen, hatte meine Auffassung sich völlig geändert. Zweifel und Irrtümer bedrängten mich, und meine Lernbegierde hatte mir nur einen Vorteil gebracht, nämlich die allmählich wachsende Erkenntnis meiner Unwissenheit. Und doch besuchte ich eine der hervorragendsten Schulen Europas, wo es, wenn überhaupt irgendwo in der Welt, gelehrte Männer geben musste. Ich hatte dort alles gelernt, was die andern lernten. Ich hatte mich sogar nicht mit der Weisheit begnügt, die man uns lehrte, sondern alle Bücher durchgelesen, die von den merkwürdigsten und seltensten Dingen handelten, wenn sie mir in die Hände fielen. Ich kannte außerdem die Urteile der andern über mich und wusste, dass man mich keineswegs geringer einschätzte als meine Mitschüler, obwohl manche von diesen bestimmt waren, an die Stelle unserer Lehrer zu treten. Sodann schien mir unser Jahrhundert ebenso blühend und fruchtbar an guten Köpfen als irgendein vergangenes. So nahm ich mir dann die Freiheit, alle andern nach mir zu beurteilen und anzunehmen, dass es in der Welt keine andere Lehre jener Art gäbe, wie man mich früher hatte hoffen lassen.
Dennoch ließ ich es niemals an Achtung gegenüber den Arbeiten mangeln, wie man sie in den Schulen treibt. Ich wusste, dass die Sprachen, die man dort lernt, nötig sind zum Verständnis der Bücher der Alten; dass die Anmut der Fabeln den Geist weckt; dass die denkwürdigen Begebenheiten der Geschichte ihn erheben und, wenn sie mit Verständnis gelesen werden, das Urteil bilden helfen; dass das Lesen aller guten Bücher einer Unterhaltung mit den bedeutendsten Männern vergangener Zeiten gleicht, welche sie verfassten, und zwar einer gelehrten Unterhaltung, bei der sie uns nur ihre besten Gedanken offenbaren; dass die Beredsamkeit eine unvergleichliche Macht und Schönheit, die Dichtkunst hinreißende Feinheit und Zartheit besitzt; dass die Mathematiker scharfsinnige Erfindungen machen, die sowohl die Wissbegierigen befriedigen als auch die Ausübung aller Künste erleichtern und die menschliche Arbeit vermindern; dass die Schriften über die Moral viele Belehrungen und Ermahnungen zur Tugend enthalten, die von großem Nutzen sind; dass die Theologie den Himmel zu gewinnen lehrt; dass die Philosophie die Mittel gewährt, über alle Dinge zuverlässig zu sprechen und sich von den weniger Gelehrten bewundern zu lassen; dass die Rechtswissenschaft, die Medizin und die übrigen Wissenschaften denen, die sie pflegen, Ehren und Reichtümer bringen; und endlich, dass es gut ist, sie sämtlich geprüft zu haben, selbst die törichtsten und falschesten, um ihren wahren Wert zu erkennen und sich vor Täuschung zu schützen.
Ich glaubte jedoch, auf die Sprachen und selbst auf die Lektüre der alten Schriften, ihrer Geschichten und Fabeln schon genug Zeit verwendet zu haben, denn die Unterhaltung mit Männern vergangener Jahrhunderte ist fast genau so wie das Reisen. Es ist gut, etwas von den Sitten verschiedener Völker zu wissen, um über die unsrigen ein gesunderes Urteil zu bekommen und nicht zu meinen, alles, was unseren Gewohnheiten zuwiderläuft, sei lächerlich und unvernünftig, wie es für gewöhnlich diejenigen tun, die nichts gesehen haben. Wenn man indessen zu viel Zeit auf das Reisen verwendet, so wird man schließlich im eigenen Lande fremd; und wenn man sich zu eifrig mit den Ereignissen verflossener Jahrhunderte beschäftigt, weiß man für gewöhnlich nichts von den Vorgängen der Gegenwart. Die Fabeln stellen übrigens manche Geschehnisse für möglich hin, die es gar nicht sind, und selbst die wahrheitsgetreuesten Geschichten, wenn sie auch den Wert der Dinge nicht verändern oder vergrößern, um sie lesenswerter zu machen, verschweigen doch zumindest fast immer die gewöhnlicheren, weniger hervorragenden Umstände, dass der Rest nicht so erscheint, wie er ist, und dass die, welche nach den darin gegebenen Beispielen ihre Lebensführung einrichten, leicht auf die Überspanntheiten unserer Romanhelden verfallen und Pläne machen, die ihre Kräfte übersteigen.
Ich hatte große Hochachtung vor der Beredsamkeit und liebte die Dichtkunst, allein ich hielt beide mehr für angeborene Geistesgaben als für Früchte des Fleißes. Diejenigen, welche die stärksten Kräfte des Verstandes besitzen und ihre Gedanken am besten ordnen, um sie klar und verständlich zu machen, können immer am überzeugendsten reden, und wenn sie auch den schlechtesten Dialekt sprächen und niemals etwas von Rhetorik gehört hätten. Und diejenigen, welche die geistreichsten Einfälle haben und diese am zierlichsten und gefühlvollsten auszudrücken verstehen, werden immer die besten Dichter bleiben, auch wenn sie die Regeln der Poetik nicht kennen.
Die Mathematik gefiel mir ganz besonders der augenscheinlichen Gewissheit ihrer Beweise wegen. Indessen erkannte ich ihren wahren Nutzen noch nicht, und da ich meinte, sie diene nur den mechanischen Künsten, war ich erstaunt, dass man auf ihr nicht Erhabeneres aufgebaut hatte, da doch ihre Grundlagen fest und dauerhaft waren. Gleichsam im Gegensatz hierzu verglich ich die moralischen Schriften der alten Heiden mit außerordentlich stolzen und großartigen Palästen, die nur auf Sand und Schlamm erbaut waren: sie erheben die Tugenden sehr hoch und lassen sie über alle Dinge der Welt erhaben erscheinen; aber sie benennen sie nicht erkennbar genug, und oft ist, was sie mit jenem schönen Namen bezeichnen, nichts wie Fühllosigkeit oder Hochmut oder Verzweiflung oder der schändlichste Mord.
Ich verehrte unsere Theologie und wollte, wie jeder andere, der ewigen Seligkeit teilhaftig werden; doch als es für mich eine unumstößliche Tatsache wurde, dass der Weg zu ihr den Ungelehrten genau so offen stehe wie den Gelehrtesten, und dass die offenbarten Wahrheiten, die dahin führen, über unsere Einsicht hinausgehen, so wagte ich nicht, sie einer Prüfung durch meinen schwachen Verstand zu unterziehen, und ich war der Ansicht, es bedürfe einer besonderen Gnade des Himmels und man müsse mehr sein als Mensch, um diese Prüfung mit Erfolg vorzunehmen.
Von der Philosophie will ich nichts sagen, als dass ich sie von den hervorragendsten Geistern aller Zeiten betrieben sah, und dass dennoch kein einziger Satz darin zu finden ist, der unbestritten und mithin nicht zweifelhaft wäre, und ich war nicht anmaßend genug, um mich der Hoffnung hinzugeben, dass ich zu einem besseren Ergebnis käme als die andern; und als ich überlegte, wie vielerlei verschiedene Ansichten über einen einzigen Gegenstand es geben kann, da galt mir alles, was nur wahrscheinlich war, fast als falsch.
Was die übrigen Wissenschaften betrifft, welche ja ihre Prinzipien der Philosophie entlehnen, so war ich der Ansicht, dass man auf solch unsicheren Grundlagen nichts Dauerhaftes hatte aufbauen können; und weder die Ehre noch der Gewinn, den sie in Aussicht stellen, vermochten mich zu ihrem Studium zu reizen. Gott sei Dank zwangen meine Verhältnisse mich nicht, aus der Wissenschaft ein Gewerbe zu machen, um meinen Unterhalt zu verdienen; und obwohl ich den Ruhm nicht geradezu verachte wie ein Zyniker, so mache ich mir doch wenig daraus, denn er kommt mir nicht zu; und schließlich glaubte ich alle die falschen Wissenschaften, selbst die nichtigsten und irrigsten, zur Genüge kennengelernt zu haben, so dass mich weder die Versprechungen eines Alchemisten, noch die Weissagungen eines Astrologen, noch die Betrügereien eines Magiers, noch die Kunststücke und Aufschneidereien irgend eines andern von jenen Leuten, die ein Geschäft daraus machen, mehr zu wissen, als sie wirklich wissen, zu täuschen vermocht hätten.
Deshalb gab ich das Studium der Wissenschaften gänzlich auf, sobald mein Alter mich der Leitung meiner Lehrer enthob; ich entschloss mich, keine andere Wissenschaft mehr zu suchen als diejenige, welche ich in mir selbst oder in dem großen Buche der Welt zu finden vermochte; und so verwendete ich den Rest meiner Jugendzeit auf Reisen; ich sah Höfe und Heere, verkehrte mit Leuten verschiedener Temperamente und verschiedener Lebensstellung, sammelte mancherlei Erfahrungen, erprobte mich in den Widerwärtigkeiten, in die das Schicksal mich versetzte, und dachte über alles nach, was sich mir darbot, damit ich Nutzen daraus ziehen konnte, denn es schien mir, als sei in den Betrachtungen, die ein jeder in seinen eigenen Angelegenheiten vornimmt und bei denen ein falscher Schluss ihn bald durch einen Fehlschlag bestraft, viel mehr Wert zu finden, als in den Spekulationen, die ein Gelehrter in seinem Studierzimmer anstellt, die zu nichts führen, als ihn um so eitler zu machen, je weiter sie vom gesunden Menschenverstand entfernt sind, denn um so mehr Geist und Geschicklichkeit muss er aufwenden, um ihnen den Anschein der Wahrheit zu geben. Ich jedoch trug von jeher das Verlangen in mir, das Wahre und das Falsche unterscheiden zu lernen, um in meinen Handlungen klar zu sehen und in diesem Leben sicher vorwärts zu schreiten.
Solange ich indessen nur die Sitten anderer Menschen betrachtete, fand ich kaum irgendetwas Sicheres, und ich bemerkte hier fast genauso viel Unterschiede wie unter den Meinungen der Philosophen. Der größte Vorteil, den ich daraus zog, war daher die Einsicht, dass manche Dinge, so überspannt und lächerlich sie uns auch erscheinen, dennoch bei anderen großen Völkern allgemeine Annahme und Bildung gefunden haben, und dass ich an nichts zu fest glauben dürfe, was ich nur durch Beispiel und Gewohnheit als wahr angenommen hatte; und so befreite ich mich nach und nach von vielen Irrtümern, die unser natürliches Erkenntnisvermögen verdunkeln und uns weniger fähig machen, die Stimme der Vernunft zu vernehmen. Als ich jedoch mehrere Jahre in dem Buche der Welt studiert und einige Erfahrung zu sammeln versucht hatte, beschloss ich eines Tages, auch in mir selbst zu forschen und alle meine Geisteskräfte auf die Auffindung des Weges zu richten, dem ich folgen müsse; das gelang mir, wie ich glaube, weit besser, als wenn ich niemals mein Vaterland und meine Bücher verlassen hätte.