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ICF als gemeinsame konzeptuelle Grundlage

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Judith Hollenweger

Von einer Behinderung betroffene Kinder und Jugendliche erfahren in der Schule oft eine fehlende Passung zwischen Anforderungen und ihren eigenen Handlungsmöglichkeiten. Behinderung bedeutet immer sowohl behindert sein als auch behindert werden. Traditionelle Behinderungskategorien suggerieren hingegen unveränderliche Eigenschaften und entziehen sich somit einer situativen Analyse. Die «Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit» (ICF) bietet die Grundlage für ein neues, adäquateres Verständnis. Die ICF und die Version für Kinder und Jugendliche (ICF-CY) basieren auf einem bio-psycho-sozialen Verständnis: sie analysieren Behinderungen also nicht nur als Probleme des Körpers, sondern auch als Probleme der Aktivitäten einer Person und des Einbezogenseins in Lebenssituationen. Die ICF sieht diese drei Aspekte der Funktionsfähigkeit in Abhängigkeit von Umweltfaktoren und von personbezogenen Faktoren. Das Modell und die Klassifikation der ICF sollen im Folgenden vorgestellt und anhand von Beispielen ausgeführt werden. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei einem besseren Verständnis des Zusammenwirkens dieser Komponenten in spezifischen Situationen gegeben. Auf dieser Grundlage gelingt es besser, die Lebenssituation der betroffenen Kinder oder Jugendlichen zu verstehen und die schulischen Anforderungssituationen anzupassen. Dies ist Voraussetzung dafür, dass Kinder mit Behinderungen am Lernen und Zusammenleben in der Schule partizipieren können.

«Behinderung» neu denken

Unterricht ist dann gut, wenn alle daran beteiligten Kinder optimal profitieren können für ihre Entwicklung und Bildung. Eine Schule für Alle, ist eine Schule, in der alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam leben und lernen. Dabei sind der Lehrplan, die Lehrmittel, Aufgaben und Unterrichtsmaterialen wichtige Orientierungspunkte. Bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen können hier allerdings Schwierigkeiten auftreten, weil sie erwartete Voraussetzungen nicht mitbringen oder unerwartete Bedürfnisse beim Lernen und Interagieren haben. Wie können Lehrerinnen und Lehrer Unterrichtssituationen planen und gestalten, Hilfen bereitstellen und Ziele festlegen und überprüfen, sodass alle Schülerinnen und Schüler angesprochen und herausgefordert sind und von den geschaffenen Lerngelegenheiten profitieren können? Dies erfordert hohe Professionalität, deren Grundlagen im Studium erworben werden und die sich im Verlaufe der beruflichen Tätigkeit weiterentwickelt. Erforderlich ist auch ein tragendes Netzwerk verschiedener Fachleute, auf das sich Regellehrpersonen abstützen kann.

Traditionelle Behinderungsbegriffe sind wenig hilfreich

Was können Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Schulzeit? Was nehmen sie mit an Wissen, Kenntnissen und Erfahrungen, wie viel Selbstvertrauen und Freude am Lernen oder Interesse an Neuem? Damit Lehrpersonen allen Schülerinnen und Schülern ein adäquates Lernangebot machen können, schätzen sie laufend die Voraussetzungen, die gegenwärtige Situation sowie das Potenzial der einzelnen Kinder und Jugendlichen ein. Doch was ist, wenn ein Kind eine Behinderung hat? Behinderungen schaffen Unsicherheit für alle direkt oder indirekt Betroffenen, weil damit andere Lernvoraussetzungen, besondere Anforderungen an Lernsettings, ungewohnte Interaktionsformen sowie Ungewissheit des Bildungserfolgs verbunden sind. Diese Unsicherheit kann nur reduziert werden, wenn Lehrpersonen ein besseres Verständnis der Situation des Kindes gewinnen als Grundlage für ihr eigenes Handeln. Traditionelle Behinderungsbegriffe wie geistige Behinderung, Lernbehinderung, Körperbehinderung oder ähnliche Konzepte sind wenig hilfreich, denn sie fokussieren nur auf das, was eine Lehrperson meist nicht ändern kann. Doch auch im schulischen Kontext verwenden immer noch viele Fachpersonen ausschließlich Begriffe wie Down-Syndrom, geistige Behinderung, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Verhaltensstörung, Lernbehinderung oder Autismus, wenn es darum geht, Schwierigkeiten zu erklären. Mit der Bestimmung einer Störung glaubt man zu wissen, was das Kind hat, was dem Kind fehlt und wie man ihm helfen kann. Oft bewirken solche Feststellungen genau das Gegenteil: Lehrpersonen fühlen sich hilflos, weil sie aus solchen Diagnosen keine Informationen ziehen können, die ihnen neue Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Komplexe Schwierigkeiten werden auf eine oft nicht einmal klar definierbare Eigenschaft des Kindes reduziert; problematische Situationen und Probleme zwischen Menschen werden zu einem Problem des Kindes gemacht.

Wichtige Informationen für Planung, Durchführung und Auswertung von Unterricht

Alle wirklich wichtigen Informationen betreffend Planung, Durchführung und Auswertung von Unterricht sind in diesen Begriffen nicht mehr sichtbar: Welche Aufgaben kann das Kind bewältigen respektive wie muss diese angepasst werden, damit es sie bewältigen kann? Mittels welcher Lehr-Lern-Settings kann es sich am besten am Unterricht beteiligen? Wie lassen sich Ziele setzen und deren Erreichung beurteilen respektive wie können Rückmeldungen zu Lernen, Leistungen und Entwicklung gegeben werden? Was kann beispielsweise Sarah besonders gut? Wie kann Tobias motiviert werden? Wo brauchen die von einer Behinderung betroffenen Kinder Unterstützung und wo müssen sie herausgefordert werden? Wann lernen sie besser alleine als mit der Hilfe von Klassenkameraden? Wie lässt sich der Klasse erklären, weshalb Ivana beim Schreiben einer Prüfung mehr Zeit erhält? Hinter Diagnosen verschwindet fast alles, was Lehrpersonen über Kinder mit Behinderungen wissen müssen.

Damit Lehrpersonen sich gegenüber Kindern mit Behinderungen als wirksam erleben, müssen sie einen neuen Zugang zum Verstehen der Situation betroffener Kinder entwickeln. Krankheiten und Störungen (Diabetes, Autismus, Down Syndrom) zu heilen oder zu behandeln, gehört nicht zum Berufsauftrag von Lehrpersonen. In manchen Fällen ist es zwar wichtig zu wissen, dass eine Krankheit vorliegt, weil bestimmte Verhaltensweisen oder Bedürfnisse mit dieser zusammenhängen können. Wichtig ist insbesondere ein gutes Verständnis dazu, wie sich eine Schädigung oder Krankheit auf die Beteiligung am Unterricht und am Schulleben auswirkt. Für die Handlungsfähigkeit von Lehrpersonen ist es indessen vor allem wichtig zu verstehen, was an Behinderungen tatsächlich nicht beeinflusst und was durch Lehr-Lern-Prozesse verändert werden kann.

Wie können Lehrpersonen Behinderungen so verstehen, dass sich Handlungsmöglichkeiten eröffnen statt verschließen? Wie Behinderung in diesem Sinne neu gedacht werden kann und was das für Lehrpersonen und ihre Arbeit bedeutet, ist Gegenstand dieses Beitrags. Behinderungen sind Einschränkungen oder Besonderheiten, die beim Ausführen von Handlungen, beim Bewältigen von Situationen oder beim Problemlösen und Lernen wirksam werden. Behinderungen sind keine fixen Eigenschaften von Personen, sondern das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels zwischen Charakteristiken einer Person und ihrer Umwelt. Behinderungen sind situativ zu verstehen; denn sie werden immer in ganz bestimmten Situationen sichtbar, wenn etwa bestimmte Anforderungen an das betroffene Kind gestellt werden. Das Planen und Gestalten von Situationen sind Kernaufgaben von Lehrpersonen, und sehr oft sind sie auch direkt an Lernsituationen mitbeteiligt. Genau hier müssen die Informationen zu allfälligen Behinderungen einfließen können.

ICF – International Classification of Functioning, Disability and Health

Behinderung

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat 2001 zur besseren Erfassung von Behinderungen eine neue Klassifikation verabschiedet und allen ihren Mitgliedsländern zur Anwendung empfohlen. Die «Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit» (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF) und deren Version für Kinder und Jugendliche (Children and Youth Version, ICF-CY, WHO, 2011) bauen auf einem neuen Verständnis von Behinderung auf. Die ICF bringt Ordnung in die bisherigen Behinderungsbegriffe und ermöglicht es, für alle Fachpersonen und Betroffenen eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Sie trennt Krankheiten und andere Gesundheitsprobleme von den Komponenten der Funktionsfähigkeit. Gesundheitsprobleme werden mit der «Internationalen Klassifikation der Krankheiten» (International Classification of Diseases, ICD) separat erfasst, wobei die ICD vor allem in medizinischen Arbeitskontexten verwendet wird. Mit der ICF können Probleme auf der Ebene des Körpers, der Handlungsfähigkeit der Person und der Beteiligung an Situationen unterschieden werden. Immer mitgedacht werden die Kontextfaktoren, sowohl seitens der Umwelt (Umweltfaktoren) als auch seitens der beteiligten Personen (personbezogene Faktoren). Damit liegen die Grundlagen vor für ein besseres Verständnis der Situation eines Kindes mit Behinderungen. Im Folgenden sollen die wichtigsten Eigenschaften der ICF, ihre Bedeutung für ein neues Verständnis von Behinderungen in der Schule und für die Handlungsmöglichkeiten von Lehrpersonen dargestellt werden.

Philosophie und Modell der ICF

ICF baut auf einem bio-psycho-sozialen Verständnis von Behinderung auf

Die ICF und ICF-CY basiert auf einem bio-psycho-sozialen Verständnis von Behinderung. Damit wird deutlich gemacht, dass Behinderungen nicht einfach auf eine Störung oder ein körperliches Problem reduziert werden können. Behinderungen müssen unter der Perspektive des Körpers (z. B. Funktionen des Hörens), der Aktivitäten des Individuums (z. B. Fähigkeit, gesprochene Sprache zu verstehen) und der Beteiligung an sozialen Situationen (z. B. im Klassenzimmer dem Unterrichtsgeschehen folgen) betrachtet werden. «Behinderung» wird also nicht mit einer vorliegenden Schädigung der Körperfunktionen (Sehfunktionen) oder der Körperstrukturen (Retina) gleichgesetzt, auch die Fähigkeiten der Person (Zuschauen, Lesen) und ihre Beteiligung an verschiedenen Lebenssituationen (Schulweg bewältigen, sich am Unterricht beteiligen) werden berücksichtigt. Das ist besonders wichtig, wenn es darum geht, Schwierigkeiten bei der Beteiligung in der Schule zu verstehen; denn nicht alle Schwierigkeiten ergeben sich zwingend aus einer bestimmten Schädigung.


ABBILDUNG 1_Modell der ICF und der ICF-CY

Das Modell der ICF (Abbildung 1_Modell der ICF und der ICF-CY) berücksichtigt dieses bio-psycho-soziale Verständnis, indem es Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipation als drei getrennte, aber zu einander in Beziehung stehende Konstrukte definiert. → Siehe Kapitel Felkendorff und Luder. Sie alle können von dem vorliegenden Gesundheitsproblem, aber auch von den Kontextfaktoren (Umweltfaktoren, personbezogene Faktoren) beeinflusst werden und umgekehrt. Mit Gesundheitsproblem sind Krankheiten oder Störungen gemeint, wie sie in der internationalen Klassifikation der Krankheiten erfasst werden. Down-Syndrom, Autismus oder Zerebralparese werden als solche Gesundheitsprobleme verstanden. Umweltfaktoren sind äußere Einflüsse, während personbezogene Faktoren als der betroffenen Person immanent oder zugehörig verstanden werden, wie etwa das Alter oder das Geschlecht (vgl. Kapitel 3 und 6). Der Begriff Behinderung selber taucht im Modell nicht auf, weil Behinderung als das Ergebnis dieser komplexen Interaktion verstanden wird.

Kontinuum zwischen Funktionsfähigkeit und Behinderung

In der ICF wird Funktionsfähigkeit und Behinderung als Kontinuum verstanden, auf dem alle Menschen sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben befinden. Alle Menschen erleben Gesundheitsprobleme, und wer genug lange lebt, wird früher oder später mit Einschränkungen der Funktionsfähigkeit konfrontiert. Deshalb ist die Sprache der ICF universell, sie beschreibt Dimensionen der Funktionsfähigkeit, die für alle Menschen relevant sind. Wenn sich alle auf einem Kontinuum zwischen Funktionsfähigkeit und Behinderung verorten können, gibt es auch keine eindeutige Trennung zwischen behindert und nicht behindert. Ist ein Kind extrem introvertiert oder ist es autistisch? Ist es expansiv und dominant oder ist es aggressiv und verhaltensgestört? Ist es verträumt und mehr an Fußball statt Mathematik interessiert oder ist es lernbehindert? Ist es einfach schlecht in der Rechtschreibung oder hat es eine Lese-Rechtschreibstörung? Entscheidungen in die eine oder andere Richtung werden nach bestimmten Kriterien und mit bestimmten Absichten getroffen, diese können auch von Fachperson zu Fachperson unterschiedlich sein.

ICF als universelle Sprache zur Unterstützung der interdisziplinären Zusammenarbeit bei der Förderplanung

Die universelle Sprache der ICF erleichtert die interdisziplinäre Zusammenarbeit, weil sie nicht ausschließlich auf medizinische, psychologische oder soziale Probleme fokussiert, sondern diese in einer gemeinsamen Systematik erfasst. Augenärztin, Regellehrperson und Schulische Heilpädagogin haben je eine spezifische Sicht auf die Situation des Kindes und konzentrieren sich auf diejenigen Aspekte der Behinderung, die primär mit ihrem Wissen und ihren Aufgaben in Zusammenhang stehen. Wenn sie sich auf die ICF und die ICF-CY als gemeinsame Sprache verständigen, können sie ihre Beobachtungen und Überlegungen gemeinsam verorten und integrieren. Nicht nur für eine umfassendere und differenziertere Beschreibung von Behinderungen ist das bio-psycho-soziale Modell der ICF hilfreich, sondern auch für das Planen von Maßnahmen. Die Handlungsmöglichkeiten der verschiedenen Fachpersonen sowie der Eltern und des Kindes selber können so bei der Umsetzung von gemeinsam vereinbarten Zielen koordiniert werden.

Partizipation

ICF: Umweltfaktoren beeinflussen die Partizipation und Aktivitätsmöglichkeiten von Menschen

Für das Handeln von Lehrpersonen besonders wichtig ist, dass die ICF nicht die Eigenschaften von Personen ins Zentrum stellt, sondern die Lebenssituationen, in denen Menschen sich befinden. Dadurch wird eine Perspektive gewählt, die Lehrpersonen Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Niemand kann die Eigenschaften einer anderen Person ändern, aber auf Situationen haben alle Beteiligten einen Einfluss. Durch die Veränderung unseres Handelns können wir Situationen verändern und die Umwelt so gestalten, dass Lernen unterstützt und gefördert wird. Das Konstrukt der Partizipation ist deshalb für Lehrpersonen besonders zentral. Je besser Lehrpersonen verstehen, welche Faktoren die Partizipation in der jeweiligen Situation wie beeinflussen, desto eher werden sie den Unterricht optimal gestalten können. Statt sich auf nicht veränderbare Schädigungen, bestimmte Eigenschaften oder Dispositionen zu konzentrieren, wird so der Blick auf das gelenkt, was verändert werden kann. Im Folgenden sollen die Grundlagen dargelegt werden, die Lehrpersonen helfen, ihre Handlungsmöglichkeiten in konkreten Situationen auf dem Hintergrund von vorhandenen Behinderungen auszuloten und optimal zu nutzen.

Funktionsfähigkeit und Behinderung

Wie bereits erwähnt, erleben alle Menschen während ihres Lebens vorübergehende oder anhaltende Beeinträchtigungen ihrer Fähigkeit, an einem guten Leben teilzuhaben. Manchmal stehen Beziehungsprobleme im Vordergrund, manchmal fehlen die notwendigen Ressourcen, manchmal ist man krank, und manchmal ist man einfach müde und niedergeschlagen. Probleme gehören zum Leben, und wir alle müssen mit ihnen leben; Schülerinnen und Schülern geht es nicht anders. Oft stehen schwierige Lebenssituationen nicht im Zusammenhang mit Gesundheitsproblemen, sondern mit Krisen in der Familie, mit kritischen Lebensereignissen oder Problemen im schulischen Alltag. Verfügt ein Kind nicht über die erwarteten Kompetenzen, sollte zuerst gefragt werden, ob es genügend Gelegenheiten gehabt hatte, diese zu erwerben. Erst wenn mangelnde Gelegenheiten und andere Ursachen ausgeschlossen werden können, kann eine Behinderung in Betracht gezogen werden. Einige Kinder und Jugendliche sind aufgrund ihrer Lebenssituation oder kritischer Lebensereignisse, aufgrund ihrer Prädisposition oder eines Gesundheitsproblems besonders vulnerabel. Lange andauernde Einschränkungen der Funktionsfähigkeit können zu Behinderungen führen, dabei wirken alle Faktoren, die im ICF-Modell dargestellt sind, zusammen (Abbildung 1_Modell der ICF und der ICF-CY). Um diese Dynamik zu verstehen, ist es wichtig, die verschiedenen Dimensionen von Funktionsfähigkeit und Behinderung zu kennen. Auf sie soll in diesem Abschnitt näher eingegangen werden.

Komponenten von Funktionsfähigkeit und Behinderung

Die Komponenten der Funktionsfähigkeit und Behinderung (Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipation) stehen in einem komplexen Wechselspiel untereinander. Der Selbstorganisation und -regulation des Individuums kommt dabei eine hohe Bedeutung zu; die Beziehungen zwischen den Komponenten sind vielfältig. Mit der ICF werden komplexe Verursachungskonstellationen nicht einseitig auf Krankheiten reduziert, sondern in ihrer bio-psycho-sozialen Mehrdimensionalität erkundet. Die Komponente des Körpers besteht aus zwei Klassifikationen: eine erfasst die Funktionen der Körpersysteme und eine deren Strukturen: «Körperfunktionen sind die physiologischen Funktionen von Körpersystemen (einschließlich psychologische Funktionen)»; «Körperstrukturen sind anatomische Teile des Körpers, wie Organe, Gliedmaßen und ihre Bestandteile» (WHO 2011, 34). Mit dem Begriff Schädigung wird eine Beeinträchtigung einer Körperfunktion oder -struktur bezeichnet. Die Komponente der Aktivitäten und Partizipation umfasst alle Lebensbereiche, welche die verschiedenen Aspekte der Funktionsfähigkeit aus individueller respektive gesellschaftlicher Perspektive beschreiben: «Eine Aktivität ist die Durchführung einer Aufgabe oder einer Handlung (Aktion) durch einen Menschen». «Partizipation [Teilhabe] ist das Einbezogensein in eine Lebenssituation». «Beeinträchtigungen der Aktivität sind Schwierigkeiten, die ein Mensch haben kann, die Aktivität durchzuführen». «Eine Beeinträchtigung der Partizipation [Teilhabe] ist ein Problem, das ein Mensch im Hinblick auf sein Einbezogensein in Lebenssituationen erleben kann» (ebd.).

1 Mentale Funktionen

2 Sinnesfunktionen und Schmerz

3 Stimm- und Sprechfunktionen

4 Funktionen des kardiovaskulären, hämatologischen Immun- und Atmungssystems

5 Funktionen des Verdauungs-, des Stoffwechsel- und des endokrinen Systems

6 Funktionen des Urogenital- und der reproduktiven Systems

7 Neuromuskuloskeletale und bewegungsbezogene Funktionen

8 Funktionen der Haut und der Hautanhangsgebilde

ABBILDUNG 2_Kapitelüberschriften zur Klassifikation der Körperfunktionen

ICF: Körperfunktionen

ICF: Körperstrukturen

ICF: Aktivitäten und Partizipation

Die ICF unterteilt innere Bedingungen und Einflussfaktoren entlang von Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und personbezogene Faktoren und äußere Bedingungen dagegen entlang von Umweltfaktoren. Dabei nicht erfasst werden die subjektiven Empfindungen, Wünsche und Interpretationen der betroffenen Person, welche das Erleben dieses Einbezogenseins beeinflussen. Partizipation ist abhängig von inneren und äußeren Bedingungen und ihrem Wechselspiel; auf diese Zusammenhänge wird unten näher eingegangen. Die Körperfunktionen werden wie folgt unterteilt (vgl. Abbildung 2); (1) Mentale Funktionen, (2) Sinnesfunktionen und Schmerz, (3) Stimm- und Sprechfunktionen, (4) Funktionen des kardiovaskulären, hämatologischen Immun- und Atmungssystems, (5) Funktionen des Verdauungs-, des Stoffwechsel- und des endokrinen Systems, (6) Funktionen des Urogenital- und reproduktiven Systems, (7) Neuromuskuloskeletale und bewegungsbezogene Funktionen sowie (8) Funktionen der Haut und der Hautanhangsgebilde. Die Körperstrukturen orientieren sich an den gleichen Körpersystemen. Die ICF unterscheidet zwischen Aktivitäten und Partizipation, um den Unterschied zwischen den individuellen Leistungsfähigkeiten oder Kompetenzen und der in der aktuellen Umwelt gezeigten Leistung oder der Performanz zu unterscheiden. Sie werden jedoch entlang der gleichen neun Lebensbereiche erfasst: (1) Lernen und Wissensanwendung, (2) Allgemeine Aufgaben und Anforderungen, (3) Kommunikation, (4) Mobilität, (5) Selbstversorgung, (6) Häusliches Leben, (7) Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen, (8) Bedeutende Lebensbereiche, sowie (9) Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben (Abbildung 3). «Erziehung/Bildung» ist einer der drei «bedeutenden Lebensbereiche» (neben «Arbeit und Beschäftigung» sowie «Wirtschaftliches Leben»), die im achten Kapitel zusammengefasst dargestellt werden.

1 Lernen und Wissensanwendung

2 Allgemeine Aufgaben und Anforderungen

3 Kommunikation

4 Mobilität

5 Selbstversorgung

6 Häusliches Leben

7 Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen

8 Bedeutende Lebensbereiche

9 Gemeinschaft, soziales und staatsbürgerliches Leben

ABBILDUNG 3_Kapitelüberschriften zur Klassifikation der Aktivitäten und Partizipation

Partizipationsbeeinträchtigungen sind im schulischen Kontext zentral, denn dort setzt der Auftrag der Schule an. Die Schule stellt nicht eingeschränkte Funktionsfähigkeiten wieder her, sondern sie erweitert die Partizipationsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler und entwickelt sie weiter. Lehrerinnen und Lehrer sind Fachpersonen für Lernen und Lehren, also für die Veränderung von Verhaltensweisen und die Erweiterung der Fähigkeiten zur kompetenten Bewältigung unterschiedlichster Situationen. Gesundheitsprobleme können die Partizipationsmöglichkeiten beeinträchtigen. Deshalb ist es wichtig, dass Lehrpersonen auch die mit Krankheiten verbundenen Einschränkungen der Körperfunktionen kennen. Hier braucht es jedoch weniger ein systematisches Wissen zu allen möglichen Problemen, als spezifische Kenntnisse bezüglich konkret betroffener Schülerinnen und Schüler. Wichtig ist es für Lehrpersonen, den Einfluss von Problemen auf der Ebene der Körperfunktionen in den verschiedenen Situationen, an denen das betroffene Kind sich beteiligt, nicht zu über- oder unterschätzen. Denn auch Kinder mit einer Sinnes- oder körperlichen Beeinträchtigung können hochbegabt sein, und wer schlecht und langsam spricht, muss deswegen nicht in seiner kognitiven Funktionsfähigkeit eingeschränkt sein. Andererseits können bereits leichte Hörschädigungen im Klassenverband dazu führen, dass betroffene Kinder ohne entsprechende Maßnahmen dem Unterricht nicht folgen können.

Wie das Wechselspiel zwischen Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipation im Einzelfall genau zu verstehen ist, kann oft nicht eindeutig festgestellt werden. Auffälliges Verhalten kann durch biologische Faktoren ausgelöst werden, es kann aber auch das Ergebnis einer über längere Zeit erfahrenen Einschränkung der Partizipation sein. Verschiedene Fachleute, die Eltern und das Kind selber können das auch unterschiedlich einschätzen. Gerade deshalb ist es wichtig, dass alle Beteiligten sich hierzu austauschen und verschiedene Hypothesen in Betracht ziehen; dabei kann das ICF-Modell als gemeinsame Grundlage dienen. Es muss allerdings sichergestellt werden, dass das für die Interpretation und das Verstehen notwendige Wissen tatsächlich verfügbar ist. Was etwa eine Gehörlosigkeit für die Funktionsfähigkeit – und insbesondere für die Beteiligung am Unterricht bedeutet – kann eine Regellehrperson in den meisten Fällen nicht abschließend einschätzen.

Kontext mitdenken: Umweltfaktoren und personbezogene Faktoren

ICF: Personbezogene Faktoren

Neben den Komponenten der Funktionsfähigkeit und Behinderung umfasst die ICF auch zwei Komponenten zur Beschreibung des Kontextes, in welchem Funktionsfähigkeit und Behinderung erfasst werden: die Komponente «Umweltfaktoren» und die Komponente «personbezogene Faktoren», anders gesagt die äußeren und inneren Einflüsse auf die Funktionsfähigkeit und Behinderung. Beide Komponenten interagieren mit Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipation. Wenn es um Behinderung geht, denken viele Menschen an Eigenschaften von Personen und weniger an die Umstände, in denen eine Behinderung wirksam wird. Es sind aber genau diese Umstände, welche durch die Lehrperson verändert werden können. Ein gutes Verständnis dieser Dynamik ist deshalb von sehr großer Bedeutung. Im Folgenden soll näher auf die Kontextfaktoren eingegangen werden. Insbesondere soll aufgezeigt werden, wie sie in konkreten Situationen zusammenspielen, und es soll deutlich gemacht werden, wie diese Situationen besser verstanden werden können. Denn im Verstehen von Situationen liegt der Schlüssel für ihre Veränderung und für die optimierte Gestaltung zukünftiger Situationen.

ICF: Umweltfaktoren

Alles,was eine Person umgibt, sie beeinflusst und von ihr beeinflusst wird, ist Teil ihrer Umwelt. In der ICF werden Umweltfaktoren wie folgt definiert: «Umweltfaktoren bilden die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt, in der Menschen leben und ihr Leben gestalten» (WHO 2011, 44). Darunter werden alle Faktoren erfasst, die «außerhalb» des Individuums liegen, und für Funktionsfähigkeit und Behinderung als wichtig erachtet werden. Dies ist einerseits die unmittelbare, persönliche Umwelt, andererseits sind es aber auch die sozialen Strukturen, Dienste und Gesetze, die einen Einfluss auf Individuen haben. Diese Faktoren können alle Komponenten der Funktionsfähigkeit und Behinderung positiv oder negativ beeinflussen. Die Umweltfaktoren sind in fünf Kapitel gegliedert (Abbildung 4): 1. Produkte und Technologien, 2. Natürliche und vom Menschen veränderte Umwelt, 3. Unterstützung und Beziehungen, 4. Einstellungen, sowie 5. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze (WHO 2011, 228 ff.). Die Umweltfaktoren können als Förderfaktoren oder als Barrieren wirken. Meistens kann ihre positive oder negative Wirkung nicht absolut, sondern nur situativ bestimmt werden. So kann eine überbehütende Mutter in den Lebensbereichen «Selbstversorgung» und «Häusliches Leben» ein Förderfaktor sein, weil sie das Kind sehr gut betreut, ihm beim Ankleiden und Essen hilft usw. Auf der anderen Seite kann die intensive Unterstützung durch die Mutter zur Barriere werden, wenn es darum geht, dass das Kind lernt, mit «Allgemeinen Aufgaben und Anforderungen» selbstständig umzugehen.

1 Produkte und Technologien

2 Natürliche und vom Menschen veränderte Umwelt

3 Unterstützung und Beziehungen

4 Einstellungen

5 Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze

ABBILDUNG 4_Kapitelüberschriften zur Klassifikation der Umweltfaktoren

Beispiele zu den Umweltfaktoren in der ICF

Adäquate Lehrmittel und Kommunikationstechnologien, aber auch Rollstühle oder Medikamente sind Teil des ersten Kapitels der Umweltfaktoren in der ICF; Klima, Licht, Laute und Geräusche, Luftqualität sowie Flora und Fauna gehören zum zweiten Kapitel. Sowohl beim dritten wie beim vierten Kapitel geht es um andere Menschen. Das dritte Kapitel konzentriert sich darauf, wie Menschen andere unterstützen und in welchem Bezug sie dabei zueinander stehen. Hier steht das soziale Netz im Zentrum; fokussiert wird auf die Qualität und die Quantität der Beziehungen. Im vierten Kapitel geht es hingegen um Einstellungen und Haltungen von einzelnen Bezugspersonen (z. B. Regellehrperson), von Gruppen (z. B. Klassenkameraden) oder der Gesellschaft. Einstellungen können auch ihre Wirkung entfalten, ohne dass eine direkte Beziehung vorhanden ist. Sie zeigen sich auch indirekt in fehlendem Verständnis für die Situation anderer Menschen. Kinder mit Behinderungen nicht unterrichten wollen, hat also gemäß ICF zwei unterscheidbare Komponenten: erstens die fehlende Unterstützung oder die Ablehnung einer Beziehung und zweitens die Einstellungen, Werte oder Weltanschauungen. Das fünfte Kapitel nimmt die verschiedenen Systeme mit ihren Dienstleistungen und Handlungsgrundsätzen in den Fokus, etwa das Bildungs- oder Gesundheitssystem sowie das Transportwesen oder die Rechtspflege.

Umweltfaktoren müssen in Bezug auf bestimmte Situationen erfasst und verstanden werden, denn es wäre unmöglich, immer alle irgendwie vorhandenen Umweltfaktoren zu berücksichtigen. Wichtig sind diejenigen, welche in einer bestimmten Situation für die betreffende Person von Bedeutung für ihre Funktionsfähigkeit sind. Der Pollengehalt in der Luft ist nur für Kinder mit einer Allergie ein relevanter Umweltfaktor; die Treppen im Schulhaus sind nur für Kinder mit körperlichen Einschränkungen problematisch, und fehlende Therapieangebote sind nur eine Barriere, wenn sie benötigt werden. Andere Barrieren sind jedoch weniger leicht zu benennen, weil sie nicht direkt beobachtet werden können, sondern sich aus Einstellungen und Handlungen anderer Personen ergeben. Das Schweizerische Behindertengleichstellungsgesetz schreibt vor, dass Menschen mit einer Behinderung nicht benachteiligt werden dürfen (Artikel 1) und dass Kinder mit Behinderungen eine Grundschulung erhalten sollen, die ihren besonderen Bedürfnissen angepasst ist (Artikel 20). Doch wie genau sollen Lehrpersonen ihren Unterricht gestalten, damit dies sichergestellt wird? Hier gibt es keine einfachen Anpassungen oder standardisierte Lösungen; im Zentrum steht die Frage, wie weit die Lehrperson ihre Handlungsmöglichkeiten wahrnimmt und diese auf die Situation der Schülerinnen und Schüler abstimmen kann.

Lehrpersonen selbst sind Umweltfaktor

Es ist eine ungewohnte Perspektive; aber auch die Lehrperson selbst ist ein Umweltfaktor, der als Förderfaktor oder als Barriere wirken kann. Geht eine Lehrerin davon aus, dass ein Kind mit DownSyndrom nie lesen und schreiben lernen wird, wird dies sich in der Unterrichtsorganisation und in der geleisteten Unterstützung zeigen. Weil Kinder sich entwickeln und in der Schule neue Kompetenzen aufgebaut werden, hat die Lehrperson nicht nur einen Einfluss auf die gegenwärtige, sondern auch auf die zukünftige Funktionsfähigkeit. Und hier genau setzt die Professionalität der Lehrperson an. Ihre Aufgabe ist es, gegenwärtige (Unterrichts-)Situationen so zu gestalten, dass dadurch Partizipation ermöglicht wird. Was wir von anderen Menschen halten und was wir ihnen zugestehen, ist einerseits Privatsache, auch für Lehrerinnen und Lehrer. Andererseits sind für die Berufsausübung relevante unreflektierte Vorurteile nicht mit professionellem Handeln vereinbar. Entsprechend müssen Lehrpersonen die berufsrelevanten Kompetenzen entwickeln, damit sie ihre Handlungsmöglichkeiten wahrnehmen können. → Siehe auch Kapitel Luder, Kunz und Müller Bösch. Auf Fragen wie «Wo überfordere ich ein Kind, wo unterschätze ich es?», «Wo schließe ich Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten aus, obwohl die Zukunft immer ungewiss ist?», müssen mit der Unterstützung von weiteren Fachpersonen Antworten gefunden werden. → Siehe auch Kapitel Luder und Kunz.

Personbezogene Faktoren

«Personbezogene Faktoren sind der spezielle Hintergrund des Lebens und der Lebensführung eines Menschen und umfassen Gegebenheiten des Menschen, die nicht Teil ihres Gesundheitsproblems oder -zustands sind» (WHO, 2011, 45). Gemeint sind hier Faktoren wie Geschlecht, Alter, Lebensstil oder sozialer Hintergrund sowie «allgemeine Verhaltensmuster und Charakter» (ebd.). Die personbezogenen Faktoren sind zwar Teil des ICF-Modells, sind aber nicht in der ICF klassifiziert. Dies hat damit zu tun, dass je nach Gesundheitsproblem die Abgrenzung zwischen Behinderungen und personbezogenen Faktoren unterschiedlich eingeschätzt wird. Zum Beispiel werden Probleme mit sozialen Interaktionen als Teil der eingeschränkten Aktivitäten bei einem Asperger-Syndrom verstanden. Die damit verbundene soziale Zurückgezogenheit wird somit als Teil der Funktionseinschränkung verstanden. Wird als primäres Gesundheitsproblem jedoch die durch Retinitis Pigmentosa verursachte Schädigung der Sehfunktionen betrachtet, dann wird dazu tendiert, die soziale Zurückgezogenheit als eine Charaktereigenschaft (Introversion) zu beurteilen. Was als Lebenshintergrund und was als Teil der Funktionsfähigkeit und Behinderung erachtet wird, ist deshalb nicht unabhängig von der Situation des betroffenen Menschen zu unterscheiden.

Ein weiterer Grund, weshalb die WHO bisher keine Klassifikation zu den personbezogenen Faktoren entwickelt hat, liegt in der unterschiedlichen Einschätzung dieser Faktoren in verschiedenen Kulturkreisen. Aufmüpfiges Verhalten von Mädchen wird in egalitären Kulturen toleriert, in patriarchalischen Kulturen jedoch pathologisiert und unterdrückt. Was in stark individualisierten Gesellschaften als Selbstbehauptung und Durchsetzungsfähigkeit gefördert wird, gilt in kollektiven Gesellschaften als egoistisch und antisozial. Was als personbezogene Faktoren identifiziert wird und wie diese eingeschätzt werden, hängt also stark von der sozialen Umwelt, den vorherrschenden Einstellungen und Erwartungen ab. Auch im Alltag lassen sich bei anderen Menschen festgestellte und als besonders wichtig identifizierte Eigenschaften letztlich nicht von der beurteilenden Person trennen. Ob eine Lehrperson sich durch das Clownverhalten eines Kindes gestört fühlt, oder ob sie dieses lustig und kreativ findet, hat vor allem mit der Lehrperson zu tun. Auch Erwartungen der Lehrpersonen werden von personbezogenen Faktoren der Schülerinnen und Schüler beeinflusst. Vor allem die Bedeutung des Geschlechts und der sozialen Herkunft wird in diesem Zusammenhang immer wieder erwähnt. Weil es immer andere Menschen braucht, um personbezogene Faktoren festzustellen, lassen sich letztlich Umweltfaktoren und personbezogene Faktoren nicht wirklich voneinander trennen.

Lehrpersonen können Situationen verändern

Diesen Einfluss und Zusammenhänge zu kennen und zu verstehen ist wichtig; aber noch wichtiger ist es, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen und entsprechend zu handeln. Behinderungen existieren nicht unabhängig von Situationen, in denen sie sich zeigen. In Situationen kommen bestimmte Bedingungen und bestimmte Anforderungen zusammen und diese können verändert werden. Und genau hier setzen die Handlungsmöglichkeiten von Lehrpersonen an: Es geht für sie primär darum, Situationen so zu verändern, dass die gestellten Anforderungen besser bewältigt werden können. Zum Beispiel erhält ein blindes Kind einen Text digital und kann ihn so mit seiner Software für Sprachausgabe hören statt lesen. Die Anforderung, den Inhalt eines bestimmten Textes zu verstehen, wurde nicht verändert, nur die Situation, in welcher diese Anforderung gestellt wird. Als zweite Möglichkeit können auch die Anforderungen verändert werden, etwa durch Unterstützung beim Bewältigen einer Aufgabe oder mittels einfacherer Aufgaben. Zu beurteilen ob die Situation, die Anforderungen oder beides zu ändern sei, ist alles andere als einfach. Hier setzt die Beratung durch entsprechende Fachleute an. Notwendige Anpassungen möglichst entwicklungs- und lernfördernd einzusetzen, ist die Aufgabe der Lehrperson sowie weiterer zentraler Bezugspersonen. Wie die ICF helfen kann, Situationen besser zu verstehen als Grundlage für professionelles Handeln, soll im nächsten Kapitel dargelegt werden.

Situationen verstehen

Meist unterschätzen wir den Einfluss von Situationen auf das Verhalten des Gegenübers (Argyle et al., 1981); dieses wird viel eher als Ausdruck der Persönlichkeit oder ihrer Eigenschaften und weniger als situativ bedingt verstanden. Es fehlt uns die kontinuierliche Selbsterfahrung des anderen in den unterschiedlichsten Situationen und deshalb das Erleben der situativen Abhängigkeit von Verhalten oder Fähigkeiten. Das zeigt sich auch in unserer Sprache: Sarah ist schwerhörig, Tobias hat ein ADHS und Ivana kann kein Deutsch. Weil uns die direkte Erfahrung des Gegenübers quer durch ganz verschiedene Lebenssituationen fehlt, müssen sich Lehrpersonen bewusst und aktiv um das entsprechende Wissen bemühen. Dafür müssen die jeweils relevanten Elemente aus einzelnen Situationen extrahiert und miteinander verglichen werden. So können die spezifischen Bedingungen, unter welchen Sarah genug hört, Tobias seine Impulsivität kontrollieren und Ivana eine Geschichte verstehen kann, besser erfasst und wo immer möglich für die Planung und Durchführung des Unterrichts genutzt werden.

Partizipation

Beispiel: eine Geschichte erzählen

Situationen lassen sich verändern, nicht jedoch das Verhalten des Anderen; ein gutes Verständnis situativer Eigenschaften und ihrer Bedeutung für das Verhalten des Gegenübers ist deshalb sehr wichtig für Lehrpersonen. Damit Lehrpersonen im schulischen Alltag ihre Aufgaben und ihre Verantwortung übernehmen können, muss es ihnen gelingen, Situationen zu schaffen, in denen Schülerinnen und Schüler sich beteiligen können und dabei etwas Relevantes lernen (Partizipation an Bildung). Zwar haben Lehrerinnen und Lehrer nur beschränkten Einfluss auf Situationen, denn das Gegenüber gestaltet diese mit. Dennoch ist die Planung und Gestaltung von (Unterrichts-)Situationen Kernaufgabe von Lehrpersonen. Es ist deshalb von großer Bedeutung, die Wirkung von solchen Arrangements auf Schülerinnen und Schüler zu verstehen. Wie bereits oben erwähnt, bietet die ICF die konzeptuellen Grundlagen, um die Funktionsfähigkeit von Menschen in Situationen zu analysieren. Wie die ICF dafür genau verwendet werden kann, soll nun an einem Beispiel (Geschichte erzählen) genauer ausgeführt werden.

Zentrale Aktivitäten aus verschiedenen Lebensbereichen in Situation «Geschichte erzählen»

Lernen und Wissensanwendung

— Kinder: Zuhören, Informationen erwerben, Sprache erwerben, Zusätzliche Sprache erwerben, Aufmerksamkeit fokussieren, Denken

— Lehrperson: Aufmerksamkeit lenken, Lesen

Allgemeine Aufgaben und Anforderungen

— Kinder und Lehrperson: Sein Verhalten steuern

Kommunikation

— Kinder: Kommunizieren als Empfänger gesprochener Mitteilungen

— Lehrperson: Sprechen

Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen

— Kinder: Formelle Beziehungen / Mit Autoritätspersonen umgehen

— Lehrperson: Formelle Beziehungen / Mit Untergebenen umgehen

ABBILDUNG 5_Analyse der Aktivitäten zu «Der Klasse eine spannende Geschichte erzählen»

Wenn die Lehrperson eine Geschichte erzählt oder vorliest, entsteht eine Situation, in der ihre Stimme, die vorgetragene Geschichte einerseits und die Aufmerksamkeit, das Zuhören und Mitdenken der Kinder andererseits zusammenwirken. In der Abbildung 5_Analyse der Aktivitäten zu «Der Klasse eine spannende Geschichte erzählen» sind die zentralen Aktivitäten der Beteiligten aufgelistet, welche den Lebensbereichen «Lernen und Wissensanwendung», «Allgemeine Aufgaben und Anforderungen», «Kommunikation» und «Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen» zugeordnet werden können. Die gestaltete Situation kann natürlich von unterschiedlicher Qualität oder Intensität sein. Je nach Inhalt der Geschichte und wie begabt und motiviert die Lehrperson beim Erzählen von Geschichten ist, werden die Kinder mehr oder weniger aufmerksam und interessiert zuhören. Umweltfaktoren können dabei einen hemmenden Einfluss haben; etwa wenn es draußen stürmt, der Strom ausfällt, das Lesebuch nicht auffindbar ist, usw. (äußere Faktoren). Es gibt auch situative Faktoren, welche die Partizipationsmöglichkeiten der direkt Beteiligten einschränken, etwa wenn die Lehrperson heiser ist, die Schülerinnen und Schüler aufgeregt sind oder wenn Lehrperson oder Schüler unmotiviert, müde oder in Gedanken ganz woanders sind. Diese inneren Faktoren werden jetzt noch ausgeblendet und erst im nächsten Kapitel näher betrachtet.

Definition einer Situation

In einer Situation wirken immer ganz bestimmte Faktoren zusammen, weil diese eine Bedeutung für die Durchführung einer Handlung oder die Ausübung einer Aktivität haben. Von den unzähligen Umweltfaktoren, die zu jedem Zeitpunkt irgendwie präsent sind, sind immer nur diejenigen bedeutsam, die in einer Situation eine Wirkung entfalten. Und damit externe Faktoren eine Wirkung auf Menschen entfalten können, müssen sie wahrgenommen und verarbeitet werden können. Man kann Situationen deshalb auch als das Zusammenspiel ausgewählter und organisierter Umweltfaktoren verstehen, die jeweils einen Einfluss auf eine Handlung oder Aktivität haben (Abbildung 5_Analyse der Aktivitäten zu «Der Klasse eine spannende Geschichte erzählen»). Bei Sarah, Tobias und Ivana wirken sehr unterschiedliche Aspekte der Situation «Einer Geschichte zuhören» hemmend. Für Sarah ist die Aktivität «Zuhören» schwierig, weil ihre «Funktionen des Hörens» (Körperfunktionen) eingeschränkt sind; deshalb kann sie in der Klassensituation mit vielen Nebengeräuschen, der schlechten Akustik des Schulzimmers und der niedrigen Lautstärke der Stimme der Lehrperson (Umweltfaktoren) nicht partizipieren. Für Tobias bereitet die Aktivität «Zuhören» keine grundsätzlichen Probleme, dennoch hat er Schwierigkeiten bei der Partizipation beim «Zuhören», weil er seine Aufmerksamkeit nur über kurze Zeit fokussieren kann (Aktivität) und sein Arbeitsgedächtnis (Körperfunktion) noch wenig trainiert ist. Ivana hingegen hat weder Schwierigkeiten mit der Lautstärke der Lehrerstimme noch mit der Länge der Geschichte, sie hat einfach die Schulsprache noch nicht erworben («Zusätzliche Sprache erwerben») und versteht deshalb die Geschichte nicht («Kommunizieren als Empfänger gesprochener Mitteilungen»). Sie ist also in ihrer Partizipation ebenfalls eingeschränkt, aber nicht wegen einer Funktionseinschränkung, sondern weil sie eine andere Erstsprache hat.

Wechselspiel zwischen Umweltfaktoren und der Funktionsfähigkeit

Wenn die Lehrperson die Funktionseinschränkungen oder Partizipationsprobleme einzelner Schülerinnen und Schüler kennt, kann sie antizipierend die Situation für diese Kinder verändern, sodass diese die zur Partizipation notwendigen Handlungen oder Aktivitäten ausüben können: Für Sarah, die nicht gut hört, kann eine FM-Anlage verwendet werden, welche die Stimme der Lehrperson direkt auf das Hörgerät der Schülerin überträgt. Die Situation wird dabei für die Lehrperson nur unwesentlich geändert; sie trägt einfach ein Mikrofon; für Sarah bedeutet diese Veränderung jedoch den Unterschied zwischen beteiligt sein oder nicht beteiligt sein. Tobias, der im Unterricht oft unaufmerksam ist, ist noch sehr jung und deshalb impulsiver als die älteren Mitschüler und Mitschülerinnen. Bilder können ihm helfen, die lange Aufmerksamkeitsspanne, die es braucht, um die ganze Geschichte nur über das Gehör zu erfassen, in kürzere Sequenzen zu unterteilen und so die Aufmerksamkeit immer wieder auf die Geschichte zu lenken. Ivana, die die Schulsprache noch nicht genügend versteht, um die vorzulesende Geschichte zu verstehen, kann von den gleichen Bildern profitieren, weil diese Hinweise zu den Inhalten geben. Die Lehrperson könnte Ivana auch vorgängig die wichtigsten Begriffe aus der Geschichte zur Verfügung stellen, sodass sie diese zusammen mit ihrer Lernpartnerin vorbesprechen oder alleine nachschlagen kann. Verschiedene Umweltfaktoren (FM-Anlage, Bildmaterial, Wörterbuch, Unterstützung durch Mitschülerin) können also verwendet werden, um die Partizipation von Sarah, Tobias und Ivana zu verbessern (Abbildung 6).

Schritte zur Anpassung von Situationen

Bis vor wenigen Jahren war es nach vorherrschender Meinung am besten, Kinder in Sonderschulen oder Sonderklassen zu schulen, wenn sie andere Lernbedingungen benötigen. Heute weiß man, dass sie dort nicht bessere Lernfortschritte machen, unter dem sozialen Ausschluss leiden und später schlechtere Berufschancen haben (Bless, 2007, Eckhart et al., 2011). Denn alle Kinder partizipieren grundsätzlich an den gleichen Lebensbereichen (Abbildung 3) und benötigen die gleichen Gelegenheiten, um Aufgaben bewältigen oder Aktivitäten ausüben zu lernen: Wer nie an Situationen beteiligt ist, in denen es um die Aktivität «Lesen lernen» geht, der wird auch nie lesen lernen. Kinder lernen nicht besser, wenn man das Bildungsangebot und ihre Erfahrungsmöglichkeiten einschränkt, im Gegenteil. Wenn Lehrpersonen ein gutes Verständnis von vorhandenen Funktionseinschränkungen haben, können sie abschätzen, in welchen Situationen Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit Partizipationseinschränkungen erfahren. Diese können permanent durch eine stabile Schädigung verursacht sein (z. B. Schwerhörigkeit bei Sarah), als vorübergehende Phänomene in der Entwicklung der Fähigkeiten auftreten (Impulsivität bei Tobias) oder primär mit ihrer besonderen Lebenssituation zusammenhängen (Migrationshintergrund bei Ivana). Lehrpersonen müssen also fähig sein, (1) die Anforderungen zu antizipieren, welche bestimmte Situationen an die Funktionsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler stellen. Sie müssen zudem (2) die Fähigkeiten des Kindes in Bezug auf die gestellte Aufgabe oder Herausforderung einschätzen können. Vor diesem Hintergrund können sie sich (3) überlegen, wie sie eine Situation verändern können, damit sie vom Kind bewältigt werden kann (Abbildung 7). Welche Strategien dabei erfolgreich sind, kann nicht in jedem Fall vorhergesagt werden; hier kann es notwendig sein, die Beratung durch eine Fachperson in Anspruch zu nehmen. Es ist wichtig, verschiedene Strategien und Anpassungen auszuprobieren; denn direkt bei der Behebung des Defizites anzusetzen (Abbildung 7, Punkt 3.f.), ist meist nicht die beste Methode. Die Orientierung an der ICF kann helfen, verschiedene Zugänge zu identifizieren und entsprechende Handlungsmöglichkeiten zur prüfen.

Für jeweilige Aspekte der Funktionsfähigkeit relevante Umweltfaktoren:

Für die Partizipation/Beteiligung von Sarah

— «Produkte und Technologien zur Kommunikation» (FM-Anlage) verbessert «Funktionen des Hörens» und ermöglicht somit «Zuhören»

Für die Partizipation/Beteiligung von Tobias

— «Produkte und Technologien für Bildung/Ausbildung» (Geschichte in Bildern) verbessert «Aufmerksamkeit fokussieren», «Sein Verhalten steuern» und «Informationen erwerben»

Für die Partizipation/Beteiligung von Ivana

— «Produkte und Technologien für Bildung/Ausbildung» (Geschichte in Bildern) verbessert «Informationen erwerben» und «Kommunizieren als Empfänger gesprochener Mitteilungen»

— «Produkte und Technologien für Bildung/Ausbildung» (Wörterbuch) verbessert«Informationen erwerben» und «Sprache erwerben»

— Unterstützung durch «Peers» verbessert «Informationen erwerben»

ABBILDUNG 6_Unterschiedliches Zusammenspiel von Umweltfaktoren und Funktionsfähigkeit

Schritte zur Anpassung von Anforderungssituationen:

1. Anforderungen von Situationen antizipieren und analysieren können

1 Zentrale Aktivitäten im geplanten Kontext

2 Weitere Aktivitäten, welche die zentralen Aktivitäten unterstützen

3 Umweltfaktoren, welche zur Ausführung der Aktivitäten gebraucht werden

2. Funktionsfähigkeit des Kindes in Bezug auf die geplante Situation einschätzen können

1 Möglicher Einfluss vorhandener Einschränkungen der Körperfunktionen?

2 Möglicher Einfluss vorhandener Einschränkungen der Aktivitäten?

3. Überlegungen machen und Strategien entwickeln zur Anpassung der Situationen

1 Barrierefaktoren in der Umwelt reduzieren oder eliminieren

2 Erleichternde Umweltfaktoren gezielt einsetzen und optimieren

3 Aktivitäten anpassen, welche die zentrale Aktivität negativ beeinflussen

4 Zentrale Aktivität anpassen

5 alternative Aktivität planen und so eine andere Situation schaffen

6 Behandlung der Funktionseinschränkung und so die Voraussetzungen für Ausführung von Aktivitäten schaffen

ABBILDUNG 7_Schritte zur Anpassung von Anforderungssituationen

Diese Möglichkeiten sind in der Abbildung 7 (unter 3.) zusammengestellt. Am einfachsten ist es, bei den Umweltfaktoren anzusetzen, die bei der Ausübung von Aktivitäten erschwerend wirken (Barrierefaktoren, 3.a. in Abbildung 7) oder diese erleichtern oder sogar erst ermöglichen (erleichternde Faktoren, 3.b. in Abbildung 7). Ein solch erleichternder Umweltfaktor ist die FM-Anlage oder das Hörgerät für Sarah. So wird das zuvor erheblich ausgeprägte Problem beim Zuhören (zentrale Aktivität) weitgehend vermieden. Weil Hören (Körperfunktion) kein Problem mehr darstellt, kann Sarah der Geschichte zuhören und sich an der von der Lehrperson gestalteten Unterrichtssituation beteiligen. Zweitens kann bei den Aktivitäten angesetzt werden, welche die Qualität der Beteiligung an einer Situation verbessern, ohne dass direkt die fehlende oder beeinträchtigte Funktionsfähigkeit angegangen wird. Hier kann das Beispiel von Tobias angeführt werden; seine Impulsivität wird nicht direkt behandelt (etwa mit Ritalin), sondern es wird eine Situation geschaffen, die das Ausüben verschiedener Aktivitäten unterstützt, indem eine Sequenzierungshilfe (Geschichte in Bildern) für die lange Zuhörphase gegeben wird und so unterstützende Aktivitäten (Abbildung 6) ausgeführt werden können (3.c. in Abbildung 7). Drittens kann bei der zentralen Aktivität angesetzt werden, also bei den Aktivitäten, die für die Beteiligung am Unterricht unbedingt bewältigt werden müssen oder Aktivitäten, die direkt in einer Unterrichtssituation geübt oder erlernt werden sollen (3.d. in Abbildung 7). Dieser Zugang wird bei Ivana gewählt, denn sie muss die Sprache verstehen lernen, damit sie sich am Unterricht beteiligen kann. Durch eine entsprechende Vorbereitung und mittels der Bilder als Gedächtnishilfe wird für sie eine Situation geschaffen, welche ihre Beteiligungsmöglichkeiten erweitert und damit auch ihre Motivation stärkt, weiterhin Deutsch zu lernen.

Es gibt aber auch Situationen, an denen ein Kind mit einer bestimmten Funktionseinschränkung sich wirklich nicht beteiligen kann. Ein gehörloses Kind kann mit einer vorgelesenen Geschichte nichts anfangen, wenn es keinen Gebärdendolmetscher zur Seite hat. Wenn keine Gebärdendolmetscher zur Verfügung stehen, muss die Lehrperson alternative Unterrichtssituationen entwickeln, welche Aktivitäten fordern und fördern, die das Kind tatsächlich auch erlernen kann (3.e. in Abbildung 7). Nur in ganz wenigen Situationen wird das Kind sich an der zentralen Unterrichtsaktivität auch mit bestmöglichen Unterstützungen und Modifikationen nicht beteiligen können. Dies ist etwa der Fall bei einem Kind mit schwerwiegenden Einschränkungen der Mobilität (z. B. Tetraplegie) mit Blick auf die Bildungsziele in Bewegung und Sport. Dann kann der Lebensbereich «Mobilität» der ICF hilfreiche Hinweise für alternative Bildungsziele geben, die in diesem Bereich auch ohne die Aktivität «Gehen» erreicht werden können. Auf dieser Grundlage kann geplant werden, wie im Kontext des Sportunterrichts, aber auch in anderen Lernsituationen, diese Ziele verfolgt werden können. 3. f. in der Abbildung 7 kann in allen oben geschilderten Situationen in Betracht gezogen werden. Doch die direkte Behandlung von Funktionseinschränkungen gehört meist in den Aufgabenbereich von spezifisch dafür ausgebildeten Fachpersonen. Wichtig ist auch bei therapeutischen Maßnahmen, dass diese sich direkt auf die in der Schule erforderlichen Aktivitäten ausrichten und somit als Teil der zu planenden Anpassungen und Veränderungen verstanden werden und nicht als Ersatz für die Partizipation an den Aufgaben und Anforderungen der Schule. Es ist höchst anspruchsvoll, eine solche Situations-Funktions-Analyse vorzunehmen; hier können ebenfalls Fachpersonen die Regellehrperson unterstützen. Nicht immer ist klar, wieweit sich Funktionseinschränkungen durch situative Adaptationen verändern lassen. Um das besser einschätzen zu können, kann es hilfreich sein, das Kind nicht in der aktuellen sozialen Situation, sondern im Kontext seiner persönlichen Lebenssituation zu verstehen zu versuchen. Mit einigen Hinweisen dazu soll der vorliegende Beitrag abgeschlossen werden.

Das Kind in seiner Lebenssituation verstehen

Wechselspiel zwischen den personenbezogenen Faktoren und der Funktionsfähigkeit

In Situationen kommen die inneren und äußeren Lebensumstände von verschiedenen Menschen zusammen. Jede Person bringt ihre eigene Lebensgeschichte (biografischer Kontext) mit in Lebenssituationen, an denen sie beteiligt ist. Jede Lebenssituation ist in einen größeren sozialen Kontext eingebunden. Um das Verhalten von Menschen in bestimmten Situationen zu verstehen, muss das Wechselspiel zwischen biografischem und sozialem Kontext in den Blick genommen werden. Das Verhalten resultiert immer aus dem Zusammenspiel zwischen äußerer (Umgebung) und einer inneren Situation (Person) (vgl. die Feldtheorie von Lewin; Lewin, 2012). In der ICF wird ein so verstandenes Verhalten mit dem Konzept der «Partizipation» erfasst. Mit Partizipation (Beteiligung) bezeichnet die ICF das Einbezogensein in eine Situation (siehe oben), das im Kontext der spezifischen personalen und sozialen Situiertheit realisiert werden kann. Im letzten Kapitel stand die Situierung der Funktionsfähigkeit in einer bestimmten Unterrichts- oder Anforderungssituation im Zentrum, nun sollen einige Überlegungen zur Situierung von Funktionsfähigkeit im aktuellen Lebenszusammenhang des Kindes angefügt werden. Im letzten Kapitel stand das Wechselspiel zwischen Umweltfaktoren und Funktionsfähigkeit im Zentrum, in diesem Kapitel hingegen geht es um das Wechselspiel zwischen den personbezogenen Faktoren und der Funktionsfähigkeit.

Selbstverständlich werden in der Schule immer wieder auch Beteiligungseinschränkungen bei Schülerinnen und Schülern sichtbar und wirksam, die primär mit der außerschulischen Lebenssituation zu tun haben. Dazu gehören vorübergehende Situationen, wie etwa Müdigkeit einer Schülerin oder eines Schülers, Trauer wegen des Verlusts eines Familienmitglieds oder Irritationen und Ablenkbarkeit wegen Streitigkeiten unter den Lernenden. Es gibt aber auch im familiären Umfeld Situationen, die durch das Zusammenwirken verschiedener Umweltfaktoren über lange Zeit wirken und so die Funktionsfähigkeit und die Behinderung des Kindes nachhaltig beeinflussen können. Um die Lebenssituation des Kindes zu verstehen, muss also die Funktionsfähigkeit des Individuums auch im Kontext seiner bisherigen Erfahrungen verstanden werden, es muss eine biografische Kontextualisierung vorgenommen werden. Dafür müssen die offensichtlichen personbezogenen Faktoren wie Alter und Geschlecht berücksichtigt werden, aber auch jene, die permanente Spuren in der Persönlichkeit und Identität des Kindes hinterlassen, wie etwa Temperament, Dispositionen, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, Resilienz oder Habitus vor dem Hintergrund der ethnischen und sozialen Herkunft.

Bei der Einschätzung der Funktionsfähigkeit und Behinderung ist es wichtig, sich auch zu deren personalen Situierung Überlegungen zu machen. Der personbezogene Faktor «Alter» ist für die Einschätzung von Funktionsfähigkeit von großer Bedeutung. Wie erwähnt, ist Impulsivität respektive fehlende Impulskontrolle normal für junge Kinder und kann bei vielen Kindern bis ins Kindergarten- und frühe Primarschulalter beobachtet werden, ohne dass dies als abweichendes Verhalten zu beurteilen ist. Gute Kenntnisse zur Entwicklung der verschiedenen Körperfunktionen und Aktivitäten sind deshalb von großer Bedeutung. Auch das Geschlecht kann die Funktionsfähigkeit beeinflussen, einerseits durch direkte biologische Mechanismen, andererseits vermittelt über soziale Erwartungen und Normen. Die soziale Herkunft ist deshalb von Bedeutung, weil bestimmte Verhaltensdispositionen in den familiären Interaktionsmustern stabilisiert werden. Wächst das Kind zum Beispiel in einer wenig verlässlichen Umwelt auf, in der was heute gesagt wird, morgen möglicherweise keine Geltung mehr hat, hat das Kind wenig Anlass, seine Impulse und Bedürfnisse aufzuschieben, da sich morgen vielleicht schon keine Gelegenheit zu deren Befriedigung mehr bietet. Auch kann es sein, dass Kinder wegen einer Behinderung viele wichtige Lebenserfahrungen nicht machen konnten, etwa weil ihre Eltern sie vor allen schwierigen Situationen schützen wollten. Dies kann sich in mangelnder Konfliktfähigkeit oder sozialer Ängstlichkeit zeigen.

Die soziale Herkunft ist für Kinder gleichzeitig auch ihre Umwelt

Im Kindesalter sind die personbezogene Faktoren als verschiedene Aspekte des Lebenshintergrundes zu verstehen und nicht als fixe Eigenschaften des Kindes. Veränderte Lebenssituationen haben einen Einfluss auf die dort erfassten Faktoren, sie können durch neue Erfahrungen verändert werden. Die soziale Herkunft ist für Kinder gleichzeitig auch ihre Umwelt. Das Kind bringt seine Lebenssituation mit in die Schule, so wie der Lebenshintergrund der Lehrpersonen ihre Arbeit beeinflusst. Liegen die verschiedenen Lebenslagen sehr weit auseinander, kann es schwierig sein, überhaupt gemeinsam an Situationen zu partizipieren. Durch intensive Elternarbeit ist es möglich, sich über die Lebenssituation des Kindes auszutauschen und gemeinsame Ziele und Maßnahmen zu vereinbaren, die gemäß den Möglichkeiten der verschiedenen Lebensräume (Schule, Elternhaus, Freizeit) umgesetzt werden können. Hier kann ein gutes situatives Verständnis der Lehrperson nicht nur bei der Gestaltung von Unterrichtssituationen helfen, sondern auch im Gespräch mit den Eltern. Die weiter oben geschilderten verschiedenen Analyse- und Handlungsmöglichkeiten (vgl. Abbildung 7) können auch hier eingebracht werden.

Die ICF bietet keine detaillierten Analysedimensionen für das Verstehen individueller Lebenslagen. Soweit diese aber bekannt sind oder erkannt wurden, kann die ICF hilfreich sein beim Verstehen des Zusammenspiels zwischen diesen und der Funktionsfähigkeit des Kindes. Dadurch kann ein besseres Verständnis gewonnen werden, wie sich die Funktionsfähigkeit und Behinderung bisher entwickelt hat, welche Aspekte einer Behinderung vermutlich wenig verändert werden können und mit welchen Anpassungen der Umwelt oder Anforderungssituationen das Kind am besten unterstützt werden kann. Gerade beim Einschätzen von längerfristigen Entwicklungen oder bei der Formulierung von alternativen Bildungszielen ist diese biografische Kontextualisierung sehr wichtig. So können Ziele formuliert werden, die auch erreicht werden können, und alle Beteiligten können sich auf das konzentrieren, was verändert werden kann, ohne die Aspekte auszublenden, die sich kaum beeinflussen lassen oder deren Beeinflussung nicht zum Auftrag der Schule gehört. So gelingt es Lehrpersonen besser, mit einer gewissen Gelassenheit die Dinge hinzunehmen, die sie nicht ändern können. Gleichzeitig aber können sie den Mut finden, das zu ändern, was sie ändern können. Und hoffentlich entwickeln sie so mit der Zeit auch eine größere Sicherheit, das eine vom anderen unterscheiden zu können.

Literatur

Argyle, M., Furnham, A., Graham, J.A. (1981). Social Situations. Cambridge: Cambridge University Press.

Bless, G. (2007). Zur Wirksamkeit der Integration. Forschungsüberblick, praktische Umsetzung einer integrativen Schulform, Untersuchungen zum Lernfortschritt. Bern: Haupt.

Eckhart, M., Haeberlin, U., Sahli Lozano, C., Blanc, P. (2011). Langzeitwirkungen der schulischen Integration. Eine empirische Studie zur Bedeutung von Integrationserfahrungen in der Schulzeit für die soziale und berufliche Situation im jungen Erwachsenenalter. Bern: Haupt.

Lewin, K. (2012). Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Ausgewählte theoretische Schriften. Bern: Hans Huber.

WHO (2011). Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (ICF-CY). Bern: Hans Huber.

Inklusive Pädagogik und Didaktik

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