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KAPITEL 2

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»Wenn du nicht bald einen Schluck trinkst, nehme ich das persönlich.«

Ich seufzte, griff nach der Erdbeer-Colada, die ich stumm anstarrte, seit ich mich vor einer dreiviertel Stunde in Cems kleine Bar Chez Cem hinter dem Musikverein geschleppt hatte, und tat, wie mir befohlen. Dann sah ich Cem an, der über mir lehnte wie eine metrosexuelle Version des Gangsters Niko Belic aus Grand Theft Auto. »Zufrieden?«, fragte ich.

Cem, talentierter Barkeeper, guter Freund und mein Nachbar, schüttelte den Kopf. »Du siehst immer noch erbärmlich aus.«

»Vielen Dank, Cem.« Ich schob den Drink von mir, und blickte in den großen Spiegel über der Theke, der besser in eine südfranzösische Konditorei gepasst hätte als hier in die Wiener Innenstadt. Cem hatte recht, ich sah derart elend aus, dass ich mich als Covermodel für ein Zombiespiel bewerben konnte. Meine Locken waren bei meiner Flucht durch den Schneeregen aufgeweicht und hingen welk um mein Gesicht. Die verronnene Wimperntusche hatte ich nur provisorisch weggewischt, und mein Gesicht war noch blasser als sonst, von den roten Stellen einmal abgesehen, die leider nicht dekorativ auf meinen Wangen saßen, sondern ziemlich uncharmant um Augen und Nase. Zumindest bekam fast niemand mit, wie erbarmungswürdig ich aussah. An diesem Spätnachmittag Ende März war Cems Bar ziemlich leer. Die Tagesgäste zogen ihr Daheim dem Schneeregen vor, und die Menschen aus den umliegenden Büros würden wohl erst in ein oder zwei Stunden einzutrudeln beginnen.

Zumindest hatte Olga sich nicht davon abhalten lassen, sich durch den Matsch zu mir zu kämpfen. Ich sah, wie der Kälteschutzvorhang sich teilte, und ihr blonder Pagenkopf zwischen den Samthälften auftauchte. Sie winkte, als sie mich entdeckte, und kam auf die Theke zu. Zur Begrüßung schlang sie ihre zarten Arme um mich und drückte ihren Zwergenprinzessinnenkörper an meinen. »Ich bin so schnell wie möglich gekommen«, sagte sie. »Romy, das tut mir so leid.«

Ich wusste, wie sehr sie meine Leidenschaft für Christian immer genervt hatte und fand ihre Lüge rührend. Olga kletterte auf einen der weiß lackierten, im Shabby Chic gehaltenen Hocker und schob mir meinen Cocktail zu. »Trink, Romy«, sagte auch sie. »Du bist unter Schock und brauchst Mana.«

Cem runzelte seine künstlich gebräunte Stirn. Seit dem Tag, an dem er und sein Klaus in die Wohnung neben meiner gezogen waren, hatten Olga und ich versucht, ihm die Augen für die magische Welt der Computerspiele zu öffnen. Bisher waren wir kläglich gescheitert.

»Mana ist Magier-Energie«, sagte Olga. »Wenn du dir endlich einmal ein paar Computerspiele zulegen würdest, wüsstest du das.«

Cem mixte einen Caipirinha für Olga. »Wenn ich mir euch Mädels so ansehe, finde ich, dass es genug Geeks auf dieser Welt gibt«, sagte er.

Ich ignorierte Cems und Olgas übliche kleine Neckereien. »Ich hätte alle meine Konsolen darauf verwettet, dass ihm nur Frauen mit Modeldimensionen gefallen«, sagte ich. »Und dann schwängert er ausgerechnet die Showgirl-Version von Miss Piggy. Ist euch klar, was das bedeutet?«

Olga griff über den Tresen nach einer Schale mit Erdnüssen. Cem klopfte ihr auf die Finger.

»Das heißt, dass ich es selbst verpatzt habe«, sagte ich und drückte meine Handflächen gegen mein Gesicht. »Wie um Himmels willen ist es mir gelungen, zu übersehen, dass ihm dicke Frauen gefallen?«

Cem warf eine Rumflasche in die Luft und fing sie nach zwei Loopings wieder auf. »Wenn er mit dir geflirtet hätte, hättest du das ja wohl bemerkt, oder?«, sagte er.

»Offensichtlich nicht. In Sachen Liebe hab ich kein Talent.« Ich schüttelte den Kopf, um den Nebel loszuwerden, der sich seit der Begegnung mit der dicken Sonja um mein Hirn gelegt hatte.

»Süße, ich weiß, dass es wehtut, aber diese Episode ist kein Lebensdrama«, sagte Cem.

»Und ob sie das ist. Ich bin 33 und hatte erst zwei Liebhaber. Cem, ich hatte meinen ersten Sex mit 27, in einem Alter, in dem meine Mutter schon ihre Familienplanung abgeschlossen hatte. In den vergangenen vier Jahren habe ich einen Kerl aus der Entfernung angeschmachtet, den ich die ganze Zeit hätte haben können, was ich aber nicht gemerkt habe, weil ich dafür schlicht und ergreifend zu blöd war, oder zu feige, und jetzt ist er weg.«

Cem mixte für einen sehr blonden Mann am anderen Ende der Theke etwas mit sehr viel Scotch. Olga beugte sich zu mir und strich mir in einer für sie untypisch sanften Geste eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du bist eben eine Träumerin«, sagte sie.

Ich wich ihrem Blick aus. Träumerin, dachte ich, wie oft ich das schon gehört hatte, von Lehrern, Eltern, Freunden, sogar von meiner jüngeren Schwester. Sie hatten alle recht. Meine ganze Jugend hindurch hatte ich mich in Fantasiewelten voller Elfen und Trolle geflüchtet. Hatte Heftchenromane verschlungen, in denen edelmütige Piraten, grüblerische Ritter und Musketiere mit Gewissenskonflikten um die Liebe ihres Lebens kämpften. Bei seitenlangen Liebesszenen hatte ich heimlich meine Sinnlichkeit entdeckt und mich auf diese Art anscheinend für alle Zeiten für die Männer aus der Wirklichkeit verdorben.

»Was hat mir meine dumme Träumerei eingebracht außer verlorene Jahre, in denen ich alleine im Bett gelegen und von der großen Liebe fantasiert habe?«, fragte ich.

Cem wischte den Tresen ab. »Wir haben alle solche Phasen«, sagte er.

Das sagte ein glücklich verheirateter Mann, der den Partner seiner Träume auf einem Baumarktparkplatz gefunden hat.

»Bei mir ist das keine Phase«, sagte ich. »Vor vier Jahren war ich so unterkuschelt, dass ich mir die Katzen zugelegt habe. Ich war schon mit 29 eine Crazy Cat Lady.«

Olga hielt mir meine Erdbeer-Colada hin. »Dann lass uns darauf anstoßen, dass du endlich aufwachst«, sagte sie.

»Wobei ich nicht verstehe, warum es bei dir mit Männern nie klappt«, sagte Cem. »Du hast dein Leben doch sonst so gut im Griff. Sieh dich an. Traumjob, Traumfreunde und eine nette Wohnung hast du auch.«

»Ich bin fett, falls es dir noch nicht aufgefallen ist.«

»Du bist auch gesund und fit, insofern ist dein Gewicht höchstens ein kosmetisches Problem. Nicht einmal das, weil es ja offensichtlich Männer gibt, die auf fette Frauen stehen«, sagte Cem.

»Anscheinend gibt es nur einen, und für den war ich zu dumm.«

»Nicht nur. Siehst du den Blonden am Tresen, den mit dem Polohemd? Der sieht dich schon die ganze Zeit an.«

Ich schüttelte den Kopf. »Meinst du den Fitnesstrainertyp da? Der sieht mich doch nur an, weil er sich fragt, wie eine Frau so fett sein kann, und ob er mich als Klientin gewinnen kann.«

Olga stöhnte. »Komm Romy, reiß dich zusammen und hör auf, dich zu bemitleiden. Christian war nichts für dich, und du hast zumindest ein paar XP gesammelt.« Sie wandte sich an Cem. »Experience Points, also Erfahrungspunkte«, erklärte sie ihm. »Die bekommst du beim Spielen, zum Beispiel wenn du einen Gegner besiegst oder besondere Aufgaben erfüllst. Hast du genügend Punkte gesammelt, kommst du auf den nächsthöheren Level und lernst neue Zaubersprüche und Kampftechniken.«

»Ich kann froh sein, dass die Liebe kein Computerspiel ist«, sagte ich. »Venus wäre gerade mal auf Level zwei. Sie spielt wie ein Noob.«

»Wer bitte ist Venus, und was ist ein Noob?«, fragte Cem.

»Venus ist mein Online-Name, seit ich dreizehn bin«, sagte ich. »Wegen meines Nachnamens. Morgenstern. Die Venus ist der Morgenstern, und ein Noob ist ein Newbie, also ein blutiger Anfänger.«

»Es wird Zeit, auf ein höheres Level zu kommen. So schwer kann es nicht sein. Erst letztens habe ich wieder von einer Studie gelesen, dass wenn Männer im Internet nach Sex suchen, sie den Figurentyp ›fett‹ dreimal so oft eingeben wie den Figurentyp ›dünn‹«, sagte Olga.

Ich schnaubte. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Laut dem Artikel gibt es sogar Plus-Size-Pornostars«, sagte Olga, tippte etwas in ihr Smartphone und hielt es mir unter die Nase. Ich sah das Bild einer rothaarigen, dicken Frau, die auf dem Rücken lag. Nackt. Sie hatte die Beine gespreizt und ihre Hand berührte ihre Pussy.

»Schau mal, diese April Flores sieht doch genauso aus wie du«, sagte Olga. »Ähnliche Figur, helle Haut, und rot gefärbte Haare hat sie auch. Da steht, dass ihre Pussy sogar als Sexspielzeug aus Latex am Markt ist.«

Ich sah mich um. Seinem Grinsen nach zu schließen, hatte der Blonde mit dem Scotch-Drink unser Gespräch offenbar mitgehört.

»Können wir über so etwas vielleicht in Zimmerlautstärke reden?«, fragte ich Olga.

Der sportliche Blonde prostete uns zu.

Olga scannte ihn von den Spitzen seiner kunstvoll verwuschelten Haare bis zu den grauen Tennisschuhen. »Was hältst du von ihm?«, fragte sie. »Der sieht doch ein bisschen aus wie Jaime Lannister aus ›Game of Thrones‹.«

»Auf mich wirkt er wie ein etwas heruntergekommener Fitnesstrainer.«

Olga verdrehte wieder die Augen. »Mein Gott Romy, du sollst ihn ja nicht heiraten. Bloß ein paar XP sammeln.«

»Ich erlebe gerade das Drama meines Lebens«, sagte ich. »Das sind für eine Weile genug XP.«

»Christian war nur ein Trugbild«, sagte Olga. »Es lohnt sich nicht, einer Illusion nachzutrauern. Wie viel Zeit willst du noch verlieren?«

»Weißt du, wie viel Lust ich gerade habe, einen Mann kennenzulernen?«, fragte ich. »Ungefähr so viel, wie ein eingeschworener Apple-Fan Lust hat, auf Windows umzusteigen.«

»Weil du ja so viel zu verlieren hast.«

Ich schenkte Olga einen trotzigen Blick, zog mich aber trotzdem in den kleinen Waschraum der Damentoilette zurück und brachte mein Gesicht in Ordnung, so gut es irgendwie ging.

Als ich zurückkam, hielt mir Cem eine weitere Erdbeer-Colada hin und deutete mit dem Daumen auf den Blonden. »Mit freundlichen Grüßen von deinem neuen Verehrer.«

»Ich liebe es, wenn ich recht habe«, sagte Olga. »So, und jetzt flirtest du mal ein bisschen mit ihm.«

»So wie ich aussehe? Es ist euch schon aufgefallen, dass ich mein Gesicht nur sehr provisorisch restauriert habe, ja?«, fragte ich.

»Glück für dich, die meisten Männer achten nicht auf solche Kleinigkeiten«, sagte Cem. »Uns geht es um das große Ganze.«

Ein paar Augenblicke später hatten Olga und Cem sich diskret in Luft aufgelöst und der Blonde hatte sich auf dem Hocker neben mir niedergelassen. Er lächelte mir zu und fischte eine Visitenkarte aus der Brusttasche seines Poloshirts, auf dessen linker Brust es zwei Krokodile miteinander trieben. Toll, der Humor meines potenziellen Verehrers war ungefähr so tiefgründig wie eine Acht-Bit-Grafik.

»Manfred Neuber, Filialleiter-Stellvertreter vom Hypersport-Markt im Shopping Center Nord«, stellte er sich vor.

»Romy Morgenstern.« Ich wollte ihm erzählen, dass ich 3D-Artist war, an Social Games, Smartphonespielen, Serious Games, und sogar einem free to play MMO arbeitete. Im Moment hatte ich jedoch wenig Lust auf die unvermeidliche Diskussion über Frauen und die Computerspielbranche. »Ich kenne den Barkeeper«, sagte ich. »Außerdem muss ich bald nach Hause. Arbeiten. Und packen.«

»Wir haben uns gerade erst kennengelernt und schon willst du los?«

»Morgen um sieben muss ich im Flieger nach London sitzen.«

In weniger als 24 Stunden würde ich der Kreativdirektorin meines Lieblingsspiels gegenübersitzen. Ich musste den guten Eindruck, den ich bei den Vorrundengesprächen über Skype aufgebaut hatte, bestätigen, auch wenn ich mich gerade fühlte, als hätte mich eine Horde Orks als Fußmatte benutzt.

»Ist England im Jänner nicht etwas kalt für Urlaub?«, sagte Manfred.

»Ich muss beruflich hin.«

»Aha«, sagte er.

Er fragte nicht nach, dafür rutschte er näher, bis sein Schenkel mein Knie berührte. Mit meiner vom Weinen noch verstopften Nase roch ich sein Rasierwasser, das frisch, aber für meinen Geschmack etwas zu seifig roch. Ich zog mein Knie weg und nippte an meinem Cocktail, während er mir seine Karriere als Sportartikelverkäufer und seine Erlebnisse in der Kraftkammer schilderte.

Ich gab mir große Mühe, zuzuhören, wenn auch nur, um die Gedanken an Christian und Sonja aus meinem Hirn zu verscheuchen. Als mir Manfred gerade erzählte, wie viel Umsatz die Sportartikelmärkte ans Internet verloren, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten.

»So schlimm ist das auch wieder nicht«, sagte Manfred und hob erschrocken seine Augenbrauen. »Die guten Märkte halten mit neuen Konzepten tapfer dagegen.«

Ich schüttelte den Kopf und sah mich nach einer Serviette um. »Kein guter Tag heute. Entschuldige.«

Cem und Olga tauchten wieder auf, und Cem nahm mich in den Arm. Manfred schob mir seine Karte hin, die ich auf dem Tresen liegengelassen hatte. »Ruf mich doch an, wenn du aus England zurück bist, ja?«, sagte er, und verließ die Bar.

Venus in echt

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