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KAPITEL 3

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Als ich am nächsten Nachmittag aus dem zu einem Bürogebäude umgebauten ehemaligen Lagerhaus im Londoner Eastend trat, nahm ich den Schneeregen kaum wahr, der mir ins Gesicht klatschte. Seltsam, wie nahe Desaster und Euphorie manchmal beieinander liegen, dachte ich. In der Nacht hatte ich kaum geschlafen und war immer wieder aus wüsten Alpträumen voller Hanteln stemmender Monster und dicker Pornoköniginnen aufgewacht. Jetzt schwebte ich fast über die mit Schneematsch überzogene Straße. Seit ich vor zwei Jahren das erste Mal als Elfenmagierin die Dracheninsel Oranthene im Spiel Knights of the Dragon Isle erkundet hatte, träumte ich davon, bei der Gestaltung dieser Welt mitzuarbeiten. Zu meinem Entzücken hatten mein Portfolio und mein Enthusiasmus Tamsin, die Kreativdirektorin von DrakeLore, tatsächlich überzeugt. In nur drei Monaten würde die Arbeit an Teil zwei beginnen, und ich würde mit den Genies zusammenarbeiten können, die sich diese opulente, komplexe Fantasiewelt ausgedacht hatten. Jetzt musste ich nur noch die Zeit bis dahin überbrücken, ohne vor lauter Ungeduld die Wände hochzugehen. Olga hatte mich für ein Kinderlernspiel namens Freche Früchtchen zum Thema Bio-Obst vorgeschlagen, an dem sie selbst mitarbeitete. Äpfel und Spargel zu zeichnen, würde natürlich nicht so spannend sein, wie Magier und Elfenkriegerinnen zum Leben zu erwecken, aber für eine Frau wie mich, die inzwischen wieder gerne kochte und aß, war das Projekt eine nette Zwischenlösung, und das Honorar konnte ich auch gut gebrauchen.

Die nächsten paar Stunden lief ich aufgeregt durch London. In jeder Statue glaubte ich, einen Ritter der Dracheninsel zu sehen und die Tauben, die frierend auf den Denkmälern hockten, verwandelte ich im Vorbeigehen in Jungdrachen. Erst, als mir so kalt war, dass ich glaubte, auf meinen Wimpern bildeten sich Eiskristalle, ging ich ins Hotel zurück. Jetzt, da meine Aufregung sich langsam legte, tauchten die Ereignisse des vergangenen Abends wieder vor mir auf. Christian, seine dicke Sonja und die verunglückte Begegnung mit Manfred. Ich setzte mich aufs Bett, starrte durch das Fenster, ohne die Nacht, die sich langsam über London legte, wirklich wahrzunehmen, und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Mir war, als hätte jemand all meine Glaubenssätze mit einem Langschwert zerschmettert, und ich hatte keine Ahnung mehr, was stimmte und was nicht. Was, wenn tatsächlich mehr Männer dicke Frauen mochten, als ich immer gedacht hatte?

Ich bestellte beim Zimmerservice Tee und Sandwiches und packte meinen Laptop aus. Zuerst suchte ich nach »Plus Size Porn« und fand jede Menge schlanker Männer mit Frauen, die das Doppelte bis Dreifache von ihnen ausmachten. Einige dieser Frauen waren noch viel dicker als ich. Die paar Male, die ich mich bisher auf Pornoseiten verirrt hatte, hatte ich die Filme mit dicken Frauen als Randphänomen für Fetischisten gehalten. Jetzt sah ich, dass sich offenbar ziemlich viele Menschen für »Fat Porn« und »Chubby Porn« interessierten. Warum eigentlich? Was fand ein Mann wie Christian an Sonjas Körper so besonders, so erotisch? Was hätte er an meinem Körper ansprechend und erregend finden können?

Ich klickte wahllos auf einen der Clips und sah einen riesigen runden Frauenhintern, der fast das ganze Fenster ausfüllte. Er bewegte sich auf und ab, und erst jetzt bemerkte ich, dass die Frau auf ziemlich schlanken Männeroberschenkeln saß und ein Schwanz sich von unten zwischen ihre Schenkel bohrte. Der Hintern wippte und wackelte, während der feuchte Schwanz in der Frau verschwand, kurz hervor kam und wieder versank. Hände kamen ins Bild, die den Hintern drückten und kneteten. »Oh, Baby, yesss«, stöhnte die Frau. Sie zog ihre mächtigen, mit einer dicken Göttin tätowierten Pobacken auseinander, damit die Kamera einen besseren Blick auf ihre Pussy hatte, während der Mann in sie eindrang. Er sagte etwas zu ihr, aber der Ton war schlecht und das schmatzende Geräusch von Fleisch, das auf Fleisch prallte, übertönte seine Worte.

Die nächste Einstellung zeigte das Paar von der Seite. Der Mann lag auf einem großen Sofahocker und die Frau thronte auf seinem Schoß, mächtig wie die Urzeitgöttin, die ihren Hintern zierte. Sie bog den Rücken durch, während sie auf seinen Schenkeln hin-und herwiegte. Er richtete sich auf und steckte sein Gesicht zwischen ihre massigen Brüste. Dann stieg sie von ihm herunter, legte sich auf den Hocker und spreizte ihre üppigen Schenkel so weit sie nur konnte. Er betrachtete einen Augenblick lang lüstern ihre mit einem leichten Feuchtigkeitsschleier überzogene Pussy, dann stellte er sich zwischen ihre Beine und drang tief in sie ein. Der schlanke Mann stieß in die dicke Frau, wieder und wieder, und versetzte dabei ihren gesamten Körper in Bewegung. Sein Blick klebte auf ihren Brüsten und auf seinen Schläfen sammelte sich Schweiß. Sie legte eine Hand auf ihre Pussy und streichelte sich selbst, während er sie vögelte. »Yes, Baby«, stöhnte sie. »Bring meine Dinger zum Hüpfen.«

Ich schaltete den Ton weg, weil mich das gespielte Stöhnen nervte, und sah mir das Video noch einmal an. Sah noch einmal ihr Fleisch sich bewegen, die Fülle ihres Körpers, den Ausdruck der Lust auf seinem Gesicht, und bemerkte die Wärme, die sich in meinem Schoß ausbreitete.

Ich verließ die pornografischen Seiten und sah mir Seiten mit Plus-Size-Mode und von Dicken-Aktivisten an. Ich fand tausende Einträge und Bilder, auf Webplattformen und Blogs, auf Tumblr, Facebook und YouTube. Ich sah dicke Frauen, die sich modischer, schicker und wilder kleideten, als ich es mich je getraut hatte. Frauen, die Stile von Vintage über Avantgarde bis Gothic durchprobierten und mit ihren Liebhabern und Ehemännern posierten. Ich kam mir vor wie eine Figur in einem Spiel, die zu lange auf Level eins herumgekrochen war und schließlich feststellte, dass es mehr gab als nur ihr Dorf und den Wald darum herum. Dass es eine ganze Welt gab, mit Inseln und Bergen und Städten und Wüsten und Verließen. Eine Welt, von deren Existenz sie die ganze Zeit nichts geahnt hatte.

Auf dem Blog einer deutschen Plus-Size-Pinup-Liebhaberin fand ich eine Kolumne über dicke Fashionistas. Ich scrollte mich über die Seite und zuckte zusammen. Ein Bericht war Christians dicker Sonja gewidmet. Ich wollte die Seite schließen, zwang mich aber, genauer hinzusehen.

Ich musste wissen, was sie anders machte als ich. Ich sah Fotos von ihr, wie sie im Badeanzug am Strand posierte, im Ballkleid eine Festsaaltreppe hinunterlief und bei einer Rock ’n’ Roll-Party ihr Korsett zur Schau trug. Widerwillig gestand ich mir ein, dass ich Sonja schön fand, dass sie ein echter Vamp war, mutig und selbstbewusst. Ich konnte richtig sehen, dass sie sich in ihrer Haut wohl fühlte und dass sie sich sexy fand. Ich wusste nicht, worum ich sie mehr beneidete, um Christians Liebe oder um dieses Selbstvertrauen.

Als ich Stunden später meinen Computer zuklappte, fragte ich mich, wie es Sonja und all die anderen Frauen auf diesen Seiten geschafft hatten, sich so frei und sexy zu fühlen. Sicher, ich hatte beim Bauchtanzen und beim Aktzeichnen auf der Kunstuni gelernt, meine Rundungen einigermaßen zu akzeptieren. Autorinnen wie Natalie Angier und Naomi Wolf hatten mich gelehrt, meine Anatomie mit einer gewissen Faszination zu betrachten. Aber einen dicken Körper wirklich liebens- und begehrenswert finden? Immer, wenn eine dicke Frau das behauptete, dachte ich, dass sie sich selbst belügt. Wie konnten sich Menschen selbst lieben, wenn sie die ganze Welt mit Beleidigungen und Vorurteilen bombardierte? Wenn sie höchstens als Vorherbild einer Diätreportage vorkamen? Wenn Modeschöpfer sie immer nur in bunt bedruckte Säcke stecken wollten? Wenn ihnen Gesundheitsstatistiken nachzuweisen versuchten, dass sie die Krankenkassen zum Kollabieren brachten? Wie sollten sie sich da sexy fühlen?

Sonja tat es. Sie liebte ihren runden Körper, genauso wie die Plus-Size-Bloggerinnen, die dicken Models und die runden Pornostars, deren Clips von Millionen von Männern angeklickt wurden. Ein Gedanke formte sich in meinem Kopf: Wenn diese Frauen es konnten, wollte ich es auch lernen. Wollte es lernen, wollte herausfinden, was an meinem Körper sexy war. Wollte nachholen, was ich in Sachen Sinnlichkeit versäumt hatte. Ich wollte mich nicht wieder in den erstbesten verlieben und ihn mit etwas Pech wieder aus der Ferne anschmachten, sondern XP sammeln. Ich wollte Männer finden, die fette Frauen erotisch finden, und alles gutmachen, was ich verpasst hatte. Ich wollte den Teil von mir, der unter all den Unsicherheiten und Ängsten vergraben war, der sehnsüchtig und hungrig war, an die Oberfläche holen.

Venus in echt

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