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Das Ende der Welt
ОглавлениеDer Mann stank.
Der Mann war ein Prophet.
Er gehörte zu jener Sorte von heiligen Männern, die das Recht beanspruchen, sich weder die Finger- noch die Fußnägel zu beschneiden, sich den Kopf nicht zu scheren und Wasser nur in seiner trinkbaren Form zu akzeptieren. Er war auf dem Marktplatz aufgetaucht, ohne daß jemand hätte sagen können, wie er durch das Tor gekommen war; er mochte von einem Engel des Herrn in einer unbeobachteten Ecke abgestellt worden sein – oder die Nacht an einer Hausecke in der Kotrinne verbracht haben, wo ihn die Nachtwache für einen besonders großen Misthaufen gehalten und übersehen hatte. Seinem Geruch nach hatte die zweite Theorie etwas für sich. Er stand neben dem Verkaufskarren eines Bauern und hatte eine kleine Menschenmenge um sich versammelt. Der Bauer wußte nicht, ob er sich über die Aufmerksamkeit freuen sollte, die der Prophet erzeugte, oder ob er ihn seines zum Himmel aufsteigenden Gestanks wegen verjagen sollte.
»Der Himmel tut sich auf«, schrie der Prophet, »und ein weißes Roß zeigt sich; auf dem Roß aber sitzt der König der Treue und der Wahrhaftigkeit, und er wird Krieg führen gegen alles Unrecht, gegen das Tier und seinen falschen Propheten und gegen die siebenköpfige Hure, die sich am Blut der Heiligen labt. Feuer flammt in den Augen des Königs; er führt die Heere des Himmels an, um die Völker zu schlagen; er gießt den Zorn Gottes über die Sünder. Die Vögel schwingen sich aus den Wolken herab und fressen das Fleisch der Heerführer, der falschen Könige und der Helden, fressen das Fleisch der Pferde und ihrer Reiter, fressen das Fleisch der Freien und der Sklaven, der Großen und der Kleinen, und des Gejammers wird kein Ende sein.«
Dein Fleisch werden sie zuletzt fressen, dachte der Bauer. Wenn ihnen gar nichts anderes mehr übrigbleibt. Er verzog den Mund, aber noch während er seinen Gedanken zu Ende dachte, kam ihm in den Sinn, daß der Mann neben seinem Karren tatsächlich ein vom Herrn gesandter Bote sein könnte. Der Herr hört meine Gedanken, erschrak er. Ich lästere den Gesandten des Herrn. Er bekreuzigte sich und schickte ein rasches Stoßgebet an die gütige Mutter Gottes, daß seine Blasphemie unbestraft bleiben möge.
Der Prophet zerrte die Fetzen seines Obergewandes beiseite und offenbarte einen eingefallenen Brustkorb; mit beiden Fäusten schlug er sich dagegen. Die zuvorderst Stehenden wichen sicherheitshalber ein paar Schritte zurück. »Nackt und bloß stehe ich unter euch und bezeuge, was ich gesehen habe. Die Menschen werden sich die Haut in Fetzen reißen und sich peitschen, bis das Blut ihnen über den Leib rinnt. Die Pharisäer werden auf diejenigen zeigen, die anders als sie sind und rufen: Ihretwegen ist Gott erzürnt!, und sie werden ihnen die Knochen zerschlagen, weil sie nicht sehen, daß Gottes Zorn sich gegen sie selbst richtet. Zuletzt werden sie diejenigen packen, die ihnen die Wahrheit verkünden, und auf ihren Plätzen den Tieren zum Fraß vorwerfen. Dann wird der Drache sich erheben, weil er das Blut der Unschuldigen riecht, und seine Scharen um sich sammeln für das letzte Gefecht. Unwetter werden sich zusammenbrauen, und mit Blitz und Donner wird ein gewaltiges Beben kommen und alle Städte auslöschen, die der Hure dienen.«
Er holte pfeifend Atem und legte sein Gesicht plötzlich in verklärte Falten. »Der König aber«, fuhr er fast entzückt fort, »der König der Wahrhaftigkeit, der Mann mit dem Richterschwert, der Herrscher der Endzeit: Er wird den Drachen überwältigen und ihn in den Abgrund stoßen und dort binden für tausend Jahre; dann aber wird er sich umdrehen, und es wird ein Thron bereitstehen. Der sich auf den Thron setzt, wird die Herrschaft antreten über die Auferstandenen und diejenigen, die sich nicht der Gefolgschaft des Tieres verschrieben haben, und er wird herrschen für tausend Jahre, und alle Menschen werden Priester Gottes und Christi sein.«
»Genau! Es lebe Kaiser Frederico!« brüllte ein Mann in der Nähe des Bauern. Einige Gesichter wandten sich ihm überrascht zu. Der Mann trug eine Tunika mit einem Wappen, das dem Bauern vage bekannt erschien, über einem ledernen Hemd; seine Beine steckten in hohen Stiefeln. Zwei weitere Männer in der gleichen Aufmachung standen neben ihm. Auf den zweiten Blick fiel dem Bauern auf, daß sie kurze, leere Scheiden an den Gürteln hängen hatten. Das Marktgesetz verbot das Tragen von Waffen auf dem Markt.
»Sei still, Fulcher. Was soll denn das?« sagte einer seiner Gefährten. Fulcher grinste über das ganze Gesicht. »Wir feuern die Leute mal ein wenig an. Mach mit, Rasso! Du auch, Liutfried.« Jetzt erinnerte sich der Bauer, wem das Wappen gehörte: dem kaiserlichen Kanzler und Großhofrichter, der sich seit einigen Tagen in Köln aufhielt. Die drei schienen zu seinem Troß zu gehören.
Rasso grinste nach kurzem Zögern ebenfalls. Als Fulcher den Mund öffnete, stieß er die Faust in die Luft und fiel mit ein: »Es lebe Kaiser Frederico!«
Die Menge blieb stumm. »Was ist denn, ihr Stockfische?« rief Fulcher lachend. »Lassen wir den Kaiser hochleben!« Liutfried verzog das Gesicht. »Seht Euch mal die Burschen da drüben an«, sagte er halblaut.
Der Bauer sah mit hinüber: auf vier Männer mit den Mänteln und Stöcken von Pilgern. Die Mäntel sahen neu und teuer aus und keinesfalls so, als hätten sie eine strapaziöse Reise hinter sich. Er sah, wie sie Rasso, Fulcher und Liutfried mißbilligend musterten und untereinander Blicke austauschten. Von den anderen Marktbesuchern rief einer plötzlich: »Willst du uns ankündigen, was geschehen wird, oder erzählst du uns nur den Alptraum, den du hattest, als du einmal in dein eigenes Hemd hineingerochen hast?«
Der Prophet achtete weder auf den Rufer noch auf das Gelächter, das sich erhob. Er starrte um sich und schien sich zu sammeln. »Rettet euch!« schrie er dann mit höchster Lautstärke, so daß einige zusammenzuckten. »Hört auf, die Hure anzubeten, die sich betrunken auf dem scharlachfarbenen Tier windet. Die Zeit ist fast abgelaufen, die euch noch bleibt. Das tausendjährige Reich steht vor der Tür!«
Ein Großteil der Menge verließ den Propheten kopfschüttelnd; einige wenige blieben zurück und betrachteten die zerlumpte Gestalt, manche mit furchtsamen Gesichtern, manche mit fröhlichem Grinsen. Der Bauer wählte eine kleine holzige Rübe aus seiner Ladung aus, um sie dem Propheten auszuhändigen, wenn dieser zu betteln anfinge; aber der Prophet stand nur um Atem ringend auf seinem Platz. Die vier Männer mit den Pilgermänteln begannen erregt zu diskutieren; schließlich wandten sie sich an die Menschen, die zurückgeblieben waren, und schienen sie zu befragen. Die meisten der Befragten zuckten mit den Schultern und winkten ab. Fulcher, Rasso und Liutfried, die ein paar Schritte beiseite getreten waren, beobachteten sie mißtrauisch. Zuletzt stellte sich einer der Pilger neben den Propheten, ohne auf dessen Geruch zu achten, und hob beide Hände.
»Brüder und Schwestern«, rief er. »Hört nicht auf diesen Menschen; er selbst ist ein falscher Prophet. Hört nicht auf diesen Verführer, der euch glauben machen will, er habe den Beginn des Zeitalters unseres Herrn heraufdämmern sehen. In Wahrheit ist es Satan, den er ankündigen will, und er will die Ketten sprengen, die ihn für sieben mal sieben Generationen in den Abgrund fesseln: Satan, der als finsterer König wiederkehrt und dessen Verkünder, der Antichrist, schon jetzt Krieg führt gegen die christlichen Städte und den Heiligen Vater in Rom, sich mit schwarzen Heiden, Zauberern und Hexen umgibt und unheilige Experimente an gläubigen Märtyrern durchführt, bis deren Blut zum Himmel schreit.«
Als der Bauer sah, wie sich der Pilger nach seiner Rede vorsichtig umblickte, wohl weil er Würfe mit faulem Obst befürchtete, wurde ihm klar, daß dieser seine kleine Rede nicht zum erstenmal auf einem öffentlichen Platz gehalten hatte – und daß ihm in anderen Städten bei dieser Gelegenheit schon manches um die Ohren geflogen war. Wenn schon die Routine, mit der er sich Aufmerksamkeit verschafft hatte, dafür sprach, dann noch mehr, daß er weder einen roten Kopf bekam noch zu stottern anfing, so wie es dem Bauern erging, wenn er seinem Grundherrn erklären sollte, wie hoch der Ernteertrag der letzten Saison gewesen war. Nun, es flog kein faules Obst. Den Gesichtern der Zuhörer war zu entnehmen, daß sie den einen Redner ebensowenig ernst nahmen wie den anderen. Die drei aus dem Troß des Kanzlers bildeten allerdings eine Ausnahme. Tatsächlich wollte es scheinen, als habe der Redner ganz speziell zu ihnen gesprochen, um sie zu reizen. Sie hatten die Fäuste geballt; Fulchers Gesicht war rot vor Zorn.
»Geht fort und reinigt euch von euren Sünden, denn Gott der Herr sieht auf euch, und die sind ihm ein Graus, die ihr Gehör dem Auswurf der Unterwelt leihen. Glaubt an Papst Innozenz, den Heiligen Vater; der Erlöser selbst hat ihn mit dem weißen Mantel bekleidet, ihm Vollkommenheit verliehen und ihn auf den heiligen Stuhl gesetzt. Dient dem Heiligen Vater, welcher der rechtmäßige Herr ist über den Geist und den Körper, welcher der Herr ist über das Buch und das Zepter und sich im Besitz der Wahrheit befindet. Dient ihm, denn selbst die Könige und Kaiser und die Fürsten dieser Welt dienen ihm.«
Der Pilger gestikulierte zu seinen Begleitern, und zwei von ihnen gesellten sich zu ihm und dem Propheten. Sie wechselten ein paar Worte, woraufhin die beiden Neuankömmlinge den Propheten an den Armen nahmen, ohne sich von seinem Körpergeruch irritieren zu lassen. Der Prophet schien von der erwiesenen Aufmerksamkeit nur milde bewegt. Seine Botschaft gesprochen, wirkte er leer wie ein ausgetrunkener Ziegenschlauch, der matt in einer Ecke lehnt und darauf wartet, wieder gefüllt zu werden. Der Pilger, der die Rede gehalten hatte, wandte sich dem Propheten zu.
»Komm mit uns, mein Sohn«, sagte er laut genug, daß die Umstehenden es hören konnten. »Wir werden dafür sorgen, daß sich gute Mönche in der Nähe deiner annehmen. Dein Geist ist verwirrt; du bist ein armes Kind Gottes.« »Ich dachte, er sei ein falscher Prophet«, rief Fulcher plötzlich. Er trat nach vorn und baute sich vor dem Propheten und seinen neuen Freunden auf. »Oder hast du schon vergessen, was du gesagt hast?« Er stemmte die Fäuste in die Hüften und wandte sich an die Menge. »So ist es mit den Päpstlichen. Sie lügen uns so oft an, daß sie selbst schon nicht mehr wissen, was sie wann gesagt haben.« Die Menge antwortete ihm mit vorsichtigem Gelächter. Rasso und Liutfried sahen sich an und gesellten sich dann an Ful-chers Seite.
Der Pilger reagierte nicht. Seine Aufmerksamkeit galt dem Propheten. »Du wirst hier nicht mehr sprechen«, erklärte er. »Folge uns.«
»Auf dem Marktplatz darf jeder sprechen«, ließ sich ein Rufer aus der Menge vernehmen.
»Das ist richtig«, antwortete Fulcher laut. »Ob er nun nach Schafbock stinkt oder nach Weihrauch.«
Erneutes Gelächter erhob sich. Die drei Pilger rund um den Propheten herum machten verkniffene Gesichter; auch der vierte, der noch in der Menge stand, verzog seine Miene, aber es schien eher aus Besorgnis denn aus Mißmut. Sie hatten sich wohl leichteres Spiel in einer Stadt erwartet, deren Herr ein Bischof war. Statt dessen stellten sich ihnen drei Kaiserliche entgegen, und auch die Menge schien durchaus nicht geneigt, sich auf ihre Seite zu schlagen. Sie konnten jetzt nicht mehr zurück; sie mußten irgend etwas tun. Der Sprecher der Pilger machte eine Kopfbewegung, und seine Begleiter zogen den Propheten mit sich. Dieser folgte schlurfend, ohne sich zu sträuben. Der vierte Pilger versuchte die Menschen auseinanderzuschieben, um einen Durchlaß für seine Freunde zu schaffen, aber Fulcher und seine Kameraden stellten sich ihnen sofort in den Weg.
»Laß ihn los!« sagte Fulcher mit gefährlich ruhiger Stimme.
»Er hat ein Recht, dort oben zu stehen«, ließ sich wieder die beifällige Stimme aus der Menge vernehmen – sichtlich kein Freund von Papst Innozenz und seinen Anhängern. Wahrscheinlich nicht einmal ein Kölner Bürger. »Auf dem Marktplatz gelten eigene Gesetze!«
Der Besitzer des Karrens zu seiner Linken schlenderte an dem Bauern vorbei, um sich ebenfalls zu der Menge zu gesellen und den Aufruhr aus nächster Nähe zu genießen. Der Bauer erkannte eine Chance, suchte zwei faulige Rüben aus seinem Haufen heraus und näherte sich unauffällig dem Nachbarkarren, um sie dort gegen zwei einwandfreie einzutauschen, solange deren Eigentümer nicht darauf achtete. Er schob die zwei frischen Rüben unter sein Hemd, als er plötzlich zwei Bewaffnete auf sich zulaufen sah. Er erstarrte vor Furcht. Ertappt als Dieb; überführt vor den Augen der Menge. Er wußte, daß die zwei mit ihren Spießen und Schwertern und einheitlichen Wämsern Ratsbüttel waren, und er sah sich in ihrem rohen Griff davongezerrt und in ein Verlies geworfen, während eine johlende Menge seinen Karren plünderte; er sah sich, wie er wieder zurück auf den Marktplatz taumelte, der jetzt ein Richtplatz war und wo der Scharfrichter mit seinen Knechten auf ihn wartete, um ihm das rechte Ohr mit einem glühenden Messer abzuschneiden. Das ist die Strafe ßir einen Dieb. Das ist die Strafe fur deine Blasphemie. Maria hat mich nicht erhört. Er stöhnte vor Angst und verlor die geraubten Rüben, die unter den Karren seines Nachbarn kollerten.
Die Bewaffneten kamen mit hastigen Schritten auf ihn zu, packten ihn und stießen ihn beiseite, so daß er den Rüben unter den Karren hinein nachfolgte. Sie drängten den Ring der Zuhörer auseinander. Aus seiner neuen Warte unterhalb des Nachbarkarrens betrachtete der Bauer ungläubig die Geschehnisse.
Die zwei Büttel stellten sich zwischen die Pilger und Fulchers Gruppe.
»Was ist hier los?« knurrte der eine der Büttel und versuchte gleichzeitig die Sprecher beider Parteien mit Blicken aufzuspießen. »Geht auseinander und stört den Marktverlauf nicht.«
»Wir müssen diesen kranken Menschen vom Marktplatz entfernen!« – »Sie wollen dem Propheten das Reden verbieten!« riefen die selbsternannten Sprecher gleichzeitig. Der Büttel griff die Bemerkung Fulchers heraus.
»Auf dem Markt darf er sprechen, solange er will«, sagte der Büttel. Er schien Schwierigkeiten zu haben, aus beiden Parteien diejenige herauszufinden, der die Sympathie des Stadtherrn galt. Im Moment jedenfalls unterstützte er die falsche.
»Ja, er muß uns noch von der Hure erzählen«, rief eine Stimme aus dem Zuhörerkreis. Mehr Menschen als zuvor standen jetzt um die kleine Gruppe herum; sie bildeten ein größeres Publikum, als der Prophet allein jemals hätte aufbieten können. Der zweite Büttel wandte sich um und knurrte die Menge an.
»Jener dort verbreitet Lügen und verblendet die Herzen der Menschen«, erwiderte der Sprecher der Pilger mit Würde.
»Von dir kann er jedenfalls noch was lernen«, rief Rasso. Der erste Büttel achtete nicht auf ihre Worte, sondern schritt auf den Propheten zu, um ihn aus dem Griff der beiden Pilger zu befreien. Er blieb sofort wieder stehen, als er in die Dunstglocke des Propheten geriet.
»Laßt ihn los, habe ich gesagt«, rief er und gestikulierte mit seinem Spieß. Dann deutete er auf den Sprecher. »Du kommst mit uns«, sagte er. »Du wirst dich vor dem Rat verantworten.«
Der Sprecher der Pilger kniff die Augen zusammen und schien wütend zu werden, sagte dann aber hoheitsvoll: »Wir sind im Auftrag des Heiligen Vaters unterwegs. Wir verantworten uns nur vor ihm oder vor Gott.«
Der Büttel zuckte zurück und musterte ihn unentschlossen. Der zweite Büttel kaute auf seiner Unterlippe und wartete darauf, was sein Kamerad tun würde. Dieser schien endlich zu begreifen, wie er seine Sympathien zu verteilen hatte. Er wandte sich an Fulcher. »Verschwindet von hier«, sagte er. Fulchers Miene verfinsterte sich noch mehr.
»Was soll das auf einmal?« rief er. »Hast du nicht gerade selbst gesagt, daß jeder hier sprechen darf?«
»Diese Herren reisen im Auftrag des Heiligen Vaters. Sie wissen schon, was sie tun. Verschwindet jetzt von hier, oder muß ich euch Beine machen?«
Fulcher und seine Kameraden wechselten einen Blick. Dann traten sie dichter zusammen und stellten sich drohend vor dem ersten Büttel auf. Die Menge seufzte unbestimmt auf, sie hatte erwartet, daß die drei nachgeben würden. Daß sie es nicht taten, war unerwartet. Es war ungewöhnlich. Es roch nach Ärger. Die Menge drängte ein wenig näher heran.
Der Büttel versuchte Fulcher beiseite zu stoßen, doch es gelang ihm nicht, und er schrie zornig: »Aus dem Weg, oder wir sperren euch ins Loch!«
Die drei Kaiserlichen sahen sich ein zweites Mal an, dann trat Fulcher noch näher heran. Er brachte sein Gesicht dicht vor das Gesicht des Büttels, fletschte die Zähne und sagte leise: »Versuch’s, und ich brech’ dich in der Mitte entzwei.«
Der Büttel hob seinen Spieß und stieß Fulcher das eisenbeschuhte untere Ende ins Gesicht; Fulcher fiel zu Boden, preßte beide Hände auf seinen Mund und krümmte sich stöhnend. Rasso und Liutfried starrten ihn überrascht an. Der Büttel hob den Spieß zum zweiten Mal.
Das Bild erstarrte; zwei Gruppen, die einander gegenüberstanden: Fulchers Gruppe auf der einen Seite, deren Anführer bereits auf dem Boden lag, und die zahlenmäßig überlegenen Pilger, auf deren Seite sich die Büttel geschlagen hatten, auf der anderen. Der Prophet, einen Schritt abseits, gehörte bereits nicht mehr dazu, obwohl das Ganze seinetwegen entstanden war. Die Dinge hatten sich verselbständigt. Es hatte sich etwas entwickelt, womit keiner von ihnen gerechnet hatte.
»Erschlag ihn«, rief plötzlich eine heisere Stimme aus der Menge.
Der Büttel drehte den Kopf und spähte zu den Zurufern hin; der Spieß schwebte noch immer in der Luft.
»Erschlag ihn!«
Liutfried tat plötzlich einen Schritt nach vorn – tu es nicht, dachte der Bauer – und faßte nach dem Wams des Büttels; nein, faßte nach dem kurzen Schwert, das vom Gürtel des Büttels hing, oder bekam versehentlich dessen Griff in die Hände. Der Büttel stieß Liutfried heftig zurück; dieser stolperte nach hinten über den auf dem Boden liegenden Fulcher. Wonach immer er gegriffen hatte, er hielt sich daran fest und zog das Schwert halb aus der Scheide.
»Paß auf!« rief der zweite Büttel.
Der Büttel wirbelte den kurzen Spieß einmal herum; die schwarze Spitze zeigte plötzlich nach vorn. Liutfried riß das Schwert ganz aus der Scheide und setzte sich schwer auf seinen Hosenboden, die Waffe nach vorn gestreckt.
Der Spieß durchdrang die Tunika direkt unter dem Brustbein. Liutfried gab keinen Laut von sich; nur aus der Menge ertönte ein schriller Schrei, der ebenso von Schreck wie von Entzücken künden konnte. Der Büttel riß den Spieß wieder heraus und rief. »Um Gottes willen!«
Liutfried neigte sich langsam zur Seite. Der Bauer unter dem Wagen starrte ihn mit weitaufgerissenen Augen an; ohne es zu bemerken, biß er sich auf die Knöchel einer Faust. Liutfried verlor das Schwert, das er noch immer in der ausgestreckten Hand hielt. Es fiel scheppernd zu Boden. Er hustete schwach und sank endgültig auf die Erde. Der Büttel beobachtete es wie erstarrt.
Der zweite Büttel bückte sich nach dem Schwert. Er schlug es seinem Kameraden grob vor den Leib, der daraufhin zusammenzuckte und ihn wild anblickte.
»Los, nimm es und lauf zum Magistrat!« herrschte er ihn an. »Wir müssen die Sauerei melden.« Der erste Büttel schüttelte sich, als würde er aus einer Lähmung erwachen, schob das Schwert zurück in die Scheide und verschwand eilig zwischen den Marktständen; sein zurückgebliebener Kamerad nahm seinen Spieß quer und stellte sich zwischen die Menge und die Verletzten auf dem Boden. Er blickte sich nicht zu ihnen um. Sein Gesicht war bleicher als zuvor. Rasso sank neben seinen Gefährten auf die Knie. Liutfried machte eine schwache Armbewegung, und Rasso umfaßte seine Schultern und legte sich seinen Kopf auf die Knie. Liutfried hustete stärker und sprühte ein paar Blutstropfen auf die dunkle Stelle, die sich langsam auf der Vorderseite seines Wamses bildete. Die Menge begann plötzlich, sich zu bewegen. Sie zerstreute sich, unter ihnen die päpstlichen Reisenden, ganz still, ganz blaß und bemüht, kein weiteres Aufsehen mehr zu erregen. Einige blieben zurück, um zu sehen, was mit den beiden Verletzten weiter geschehen würde, und einer trat sogar auf Fulcher zu und versuchte ihn aufzurichten. Fulcher schüttelte seine Hand barsch ab und krümmte sich wieder auf dem Boden zusammen; Blut tropfte zwischen seinen Fingern hervor. Von der Seite, auf der das Rathaus lag, näherten sich Schritte von mehreren Paaren Stiefel; weitere Büttel, die der Bericht des Vorfalls alarmiert hatte. Sie drängten sich um die Gruppe am Boden und entzogen sie den Blicken der letzten Neugierigen. Nach kurzer Zeit führten sie Rasso und Fulcher weg; der sterbende Liutfried wurde rasch auf zwei über Kreuz gelegte Spieße gelegt und ebenfalls abtransportiert.
Der Bauer kroch unter dem Karren seines Nachbarn hervor und versuchte, nicht auf die Blutspritzer auf dem festgetrampelten Erdboden zu sehen. Der Prophet stand noch immer neben seinem Karren und starrte ins Leere. Plötzlich nahm er eine der Rüben und biß hinein, ohne die Erde von ihr abzuwischen. Erschüttert ließ es der Bauer geschehen. Der Prophet steckte die Rübe unter seine Lumpen und verschwand mit geistesabwesendem Blick in der Menge und aus unserer Geschichte.