Читать книгу Der Jahrtausendkaiser - Richard Dübell - Страница 7
Minstrel
ОглавлениеDas Packen der Stoffballen ging schneller vonstatten, als Philipp erwartet hatte; Lambert, der auf dem Weg zum »Kaiserelefanten« auf Seifrid und Galbert gestoßen war, half mit, und wenigstens dabei stellte er sich nicht ungeschickter an, als zu erwarten gewesen wäre. Philipp verabschiedete sich von ihnen und Rasmus und machte sich selbst auf zum »Kaiserelefanten«. Als er an der Stelle vorüberkam, an welcher der Prophet seinen Auftritt gehabt hatte und das Grüppchen diskutierender Menschen erblickte, die sich über den Vorfall unterhielten, blieb er unwillkürlich in ein paar Schritten Entfernung stehen und hörte, wie sich das Ereignis in ihren Schilderungen aufblähte. Offensichtlich waren unter den Diskutierenden auch solche, die keine Augenzeugen gewesen waren, und diesen wurde der Auftritt mit Begeisterung wiedergekäut. Philipp lauschte der gewaltig übertriebenen Erzählung.
»Die Leute freuen sich über alles, was ihren Mitmenschen zustößt, nicht wahr?« sagte plötzlich eine Stimme neben ihm. Philipp wandte sich ihr überrascht zu. Sein Gesicht war vom Gehörten und von seinen Gedanken über seine eigene Rolle finster, und es gelang ihm nicht sofort, diesen Ausdruck fortzuwischen. Der Mann, der ihn angesprochen hatte, trat einen Schritt zurück.
»Ich wollte Euch nicht belästigen«, sagte er. Es war der Mann, der gesagt hatte, daß die Ratten aus ihren Löchern kröchen. Philipp starrte ihn einen Moment lang an. Er hatte sich das Gesicht nicht gemerkt, aber er erkannte die Stimme und den Akzent darin wieder.
»Schon gut«, brummte er und wandte sich ab.
»Ob einem der Wein oder das Blut aufs Hemd rinnt, ist vollkommen egal«, fuhr der Mann fort. »Hauptsache, es rinnt und man kann dabei zusehen, ohne selbst etwas abzubekommen.«
Philipp drehte sich wieder um; der Mann hatte eine helle Gesichtshaut und vom Wein gerötete Augen, aber er lächelte höflich und verbeugte sich leicht, als er Philipp jetzt ansah. Das Lächeln schob ein Netz feiner Falten in das spitze Gesicht und machte es fröhlich. Die Verbeugung brachte ihn jedoch aus dem Gleichgewicht, und er stolperte und stieß gegen einen der Marktgänger. Der Angerempelte rief wütend: »Paß auf, wo du hintrittst, du besoffenes Schwein!« und stieß den Betrunkenen grob zu Boden; Philipp streckte einen Arm aus und half dem Mann auf.
Der Mann winkte mit dem freien Arm eine Entschuldigung in die vorbeidrängenden Menschen und stellte sich an Philipps Seite. Mit betrunkener Würde klopfte er sich den Staub aus den Kleidern.
»Ich schätze, Euch ist das Gleichgewicht ein wenig abhanden gekommen«, bemerkte Philipp.
Der Mann nickte. »Danke vielmals«, sagte er höflich.
»Ihr seid nicht von hier.«
Der Mann schüttelte den Kopf und deutete mit vagen Bewegungen nach Westen. Bei all dem verließ das Lächeln sein Gesicht nicht, und seine Augen schienen Philipp hinter dem Schleier der Betrunkenheit hervor freundlich zu mustern.
»Und ich bin nicht nüchtern«, stellte er fest. »Ich hätte mehr Wasser in den Wein gießen sollen.« Er lachte. »Aber es gibt Gelegenheiten, an denen man nicht schnell genug betrunken werden kann.«
Er drehte sich um, wobei er wieder aus dem Gleichgewicht geriet, und versuchte, vor den stehengebliebenen Marktbesuchern eine beschwichtigende Geste zu vollführen.
»Verzeihung«, sagte er laut. »Es geht vorüber. Ich habe nur zu wenig Wasser in den Wein getan. Nichts Schlimmes. Es geht vorüber.« Den letzten Satz schien er eher zu sich selbst zu sprechen, und sein Gesicht verlor das Lächeln.
Es wurde Philipp bewußt, daß sie sich in einem kleinen Kreis der Aufmerksamkeit befanden, wie er sich vor zwei Tagen um den Propheten gebildet hatte. »Am besten, Ihr laßt es in einer ruhigen Ecke vorübergehen«, sagte er zu dem Betrunkenen. Er nickte ihm zu und wandte sich zum Gehen.
»Ihr wart sehr freundlich«, sagte der Betrunkene. »Ich möchte Euch nochmals danken für Euer Mitgefühl.«
Philipp blieb gegen seinen Willen stehen. »Schlaft lieber Euren Rausch aus«, sagte er. »Warum geht Ihr nicht zum Tor hinaus und sucht Euch ein schattiges Plätzchen unter einem Baum, wo niemand auf Euch treten kann?«
»Ich halte Euch auf«, sagte der Betrunkene. »Entschuldigt; ich wollte Euch nicht lästig fallen.« Er trat zurück und lächelte scheu. »Ich wünsche Euch noch einen schönen Tag.«
Philipp holte Atem, um zu sagen, daß er nicht unhöflich sein wolle, aber etwas Dringendes zu erledigen habe; doch er schwieg. Er wußte, der Betrunkene würde es als Ausrede auffassen. Er würde keinen Augenblick lang glauben, daß Philipp von etwas anderem bewegt wurde als von Abscheu gegenüber seiner Person. Philipp wandte sich endgültig zum Gehen. Er wünschte sich, er wäre souveräner mit der Situation umgegangen. Noch während er davonschritt, fragte er sich, weshalb es ihm ein schlechtes Gefühl bereitete, den Mann verletzt zu haben; er war nur ein Fremder, den er nicht kannte, am hellichten Tag betrunken, und es war nicht anzunehmen, daß er ihn wiedersehen würde. Vielleicht war es nur seine scheue, höfliche Art und sein Lächeln. Er drehte sich um. Die Menge hatte den Betrunkenen bereits verschluckt.
Auf dem Weg zum »Kaiserelefanten« wurde Philipp mehrfach aufgehalten: von den Angeboten mancher Händler, zu deren Ständen er trat, von Knäueln von Menschen, die sich an anderen Ständen zusammenballten; von einer Gruppe Jongleure, die er aus sicherem Abstand beobachtete und Zeuge nicht nur ihrer Darbietungen, sondern auch der Kunststücke von drei Beutelschneidern wurde, die geschickt zusammenarbeiteten und einige der Gaffer um ihre Börsen erleichterten. Daß seine Gedanken sich erneut um den Vorfall mit dem Propheten drehten, merkte er erst, als er einen Mann in eine Lücke treten und theatralisch seinen Kapuzenmantel abwerfen sah. Er erwartete eine neue apokalyptische Vision und die Explosion von Gewalt hinterher, doch nichts geschah. Der Mann faltete den Mantel unter dem Arm zusammen, wischte sich den Schweiß von der Stirn und schritt weiter. Als aus einer anderen Richtung wütendes Gebrüll zu vernehmen war, fuhr er herum. Einer der Bestohlenen hatte einen der Beutelschneider erwischt, und während dessen Genossen ihr Heil in einer unauffälligen Flucht suchten, wurde der Gefaßte gepackt, festgehalten und mit Faustschlägen und Fußtritten traktiert, bis die Büttel kamen und die Menschen beiseite schoben und das blutende, panisch zuckende Bündel davonschleppten, das der Beutelschneider gewesen war. Der Bestohlene folgte ihnen mit grimmigem Lächeln, seine Börse wie eine Trophäe vor sich hertragend.
Philipp wandte sich ab. Auf einmal hatte er genug vom Marktplatz. Sein Weg führte ihn in den Vorhof des Doms, aber auch dort stießen und drängten die Menschen einander, kauften und verkauften und stahlen, und er hielt nicht einmal an, als er sah, wie ein Rudel von Gassenjungen einem schlafenden Betrunkenen neben dem Brunnen beim Hohen Gericht mit vielem Gekicher den Beutel leerten und ihn statt der Münzen vorsichtig mit Steinen füllten. Obwohl so die prompte Strafe über einen kam, der dumm genug war, sich mitten in der Stadt schlafen zu legen, fühlte er keine Schadenfreude. Der Betrunkene war der Mann, der ihn vorhin angesprochen hatte. Alles, was er spürte, war das schlechte Gefühl, daß die Reizbarkeit und die Gewaltbereitschaft in der Stadt plötzlich das Maß seiner Toleranz überschritten hatten; daß die stoßenden, schiebenden, fluchenden Bürger alle miteinander auf einen Mahlstrom zudrängelten, den sie sahen und doch nicht wahrhaben wollten und der sein Zentrum in den beiden sich in unversöhnlichem Haß gegenüberstehenden Führern der Christenheit hatte, um die Gewalt, Betrug und Hinterlist strudelten. Vielleicht hatte der Prophet auf seine Weise nicht ganz unrecht mit seinen Verkündigungen.
Hinter den Marktständen flatterten große Raben herab und schritten durch die Gassen der Stadt, als wäre sie bereits ihr Eigentum.
Rasmus hatte sein Versprechen gehalten und Philipp nach dem Abflauen der Markttätigkeit abgeholt. Philipp, nachdenklich über einem Becher Wein in der leeren Trinkstube der Herberge brütend, war ihm dafür fast dankbar. Der Bader begrüßte die beiden überschwenglich, warf den Pfennigen, die Rasmus ihm aushändigte, nur einen oberflächlichen Blick zu und gab den Weg in den Auskleideraum frei. Das Badehaus war schwach besucht. Rasmus und Philipp teilten sich einen Zuber mit heißem Wasser und ein Brett mit gebratenen Fleischstückchen, das zwischen ihnen im Wasser schwamm. Der Zuber stand weitab von den anderen Badeplätzen in einer halbdunklen, kaum einsehbaren Ecke des großen Raums, was Philipp erst zu Bewußtsein kam, als der mit einem ledernen Schurz bekleidete Badeknecht eine bewegliche Stellwand heranschleppte und sie damit abschirmte. Danach öffnete sich eine niedrige Tür in der hölzernen Wandverkleidung, und zu Rasmus’ breitem Grinsen schlüpften zwei Frauen in dünnen Kleidern herein.
»Rasmus ...«, begann Philipp.
»Still. Ich kenne den Bader schon seit Ewigkeiten. Glaubt Ihr vielleicht, wir sind die einzigen, denen er diesen Dienst gewährt? Von hier läuft ein überdachter Gang bis hinüber zu den Winkelhäusern bei der Mauer.« Er winkte eines der beiden Mädchen zu sich heran. »Was glaubt Ihr, warum ich dieses Haus für eines der besten in der Stadt halte?«
»Wenn der Magistrat davon erfahrt, treiben sie den Bader mit Ruten aus der Stadt. Und wir stehen über Nacht am Pfahl ...«
»Die Mitglieder des Magistrats baden hier ebenso wie alle anderen Männer, die auf sich halten – und das seit Jahren.
Denkt Ihr, das Haus gäbe es noch, wenn der Bader ein unvorsichtiger Mann wäre?«
Philipp schüttelte den Kopf. Das Mädchen, das Rasmus zu sich herangewunken hatte, war von draller Gestalt, um sie nicht fett zu nennen; ihre Brüste schienen sich durch den dünnen Stoff ihres Kittels zu drängen. In der feuchtheißen Luft schmiegte sich das Gewebe auch an ihre anderen Rundungen und verhüllte nur notdürftig, was ohnehin zum Vorzeigen gedacht war. Philipp beobachtete nachdenklich, wie Rasmus strahlend ihre Brüste, ihren Bauch und ihr umfangreiches Hinterteil streichelte, als sie sich an den Zuber herandrückte
»Worauf wartet Ihr?« sagte Rasmus und winkte gönnerhaft. »Seid mein Gast.«
Das andere Mädchen war eine schlanke, dunkle, hochmütig aussehende Schönheit, ein blasses Gesicht mit vollen roten Lippen, schmalen Wangen, großen dunklen Augen und ausgestattet mit einer erstaunlich ausgeprägten Oberarmmuskulatur. Sie entsprach genau Philipps Typ; und er spürte, wie die ursprüngliche Peinlichkeit der Situation sich plötzlich in Erregung verwandelte. Gleich nach seinem Austritt aus dem Kloster war er zwei- oder dreimal in ein Frauenhaus gegangen, um seine mangelnden Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht nachzuholen; aber heute war es das erste Mal, daß es auf Einladung und ausdrücklichen Wunsch eines anderen geschah. Der Gedanke daran verwirrte ihn, aber seine Erregung vermochte er nicht zu besiegen. Er lächelte das Mädchen freundlich an und erhielt ein Lächeln als Antwort, bei dem sie die Mundwinkel herabzog und ihre Augen kalt blieben. Ihr Äußeres gefiel ihm, wie ihn ihre deutlich zur Schau getragene Verachtung abstieß; dennoch erhitzte sie ihn, während sie sich über den Rand des Zubers beugte und mit beiden Händen und einem harten Stück Seife unter Wasser herumfuhrwerkte, um sein mittlerweile geschwollenes Glied zu reinigen. Auch an ihrem Körper klebte der nasse Kittel wie eine zweite Haut. Er fand diesen Anblick bei weitem aufreizender als den, den Rasmus’ Liebchen bot – selbst in Anbetracht der Tatsache, daß dieses sich gar nicht hochmütig, sondern fröhlich kichernd unter den Zärtlichkeiten des Händlers wand, und ihre deutlich sichtbaren Brustwarzen verkündeten, daß sie die Hände Rasmus’ durchaus genoß. Philipp, der mit einer Hand vorsichtig die ihm über den Rand des Zubers entgegengereckten Brüste seiner Bademagd streichelte, konnte dergleichen Erregung an dieser Stelle nicht feststellen.
Als er Rasmus schließlich über eine mit einem Vorhang abgehängte Treppe ins Obergeschoß des Badehauses folgte, wo sich zu seinem Erstaunen eine Reihe von ebenfalls mit Vorhängen abgehängten Räumen befand, war seine Freude mit der dunklen Hübschlerin nur kurz. Er ging äußerst vorsichtig mit ihr um, nachdem er die blauen Flecke auf ihren Schenkeln gesehen hatte, die von groben oder brutalen Freiern stammten. Zu dieser Sorte wollte er auf keinen Fall gehören. Ob seine Zartheit auf das Mädchen Eindruck machte, war nicht festzustellen. Sie hockte sich neben ihn und bearbeitete sein hochgerecktes Glied mit ihren kräftigen Händen, und obwohl ihn das aus dem benachbarten Liebesgeviert dringende Gestöhne und Geschnaufe Rasmus’ störte, stieg seine Hitze doch unter ihren Bewegungen unaufhaltsam, und die Gäule gingen ihm durch, kaum daß sie sich den Kittel hochgezogen, auf den Rücken gelegt und ihn hineingelassen hatte. Sie schlüpfte mit ihrem herablassenden Blick hinaus und war verschwunden, noch während er keuchend auf den Decken lag und mit Beschämung, Ärger und einem schlechten Gewissen gleichermaßen kämpfte.
Als er an Rasmus’ Liebesnest vorbei nach unten schlich, hörte er lautes Kichern, Stöhnen und Keuchen. Scheinbar ging das kräftige Bademädchen ihrer Tätigkeit mit mehr Motivation nach als Philipps gewesenes Liebchen. Er seufzte und sagte sich mit schwachem Zynismus, daß Rasmus eigentlich einen Teil des Geldes zurückfordern sollte. Er wickelte sich die feuchte Decke enger um seine Hüften und wurde vom Badeknecht mit unbewegtem Gesicht in die Trinkstube gewiesen, wo er zu seinem Verdruß eine ganze Weile auf Rasmus warten mußte.
»Was hört man denn in Eurer Stadt vom Kampf zwischen Kaiser und Papst um die Führung der christlichen Seelen?« fragte Rasmus, als er endlich mit einem breiten Grinsen Philipp gegenüber saß. Noch bevor dieser etwas erwidern konnte, beantwortete Rasmus seine Frage selbst.
»Ich stelle es mir so vor: Der Kaiser möchte die Stadt gern auf seiner Seite haben, der Bischof von Köln ist natürlich gegen ihn und will die Macht des Klerus keinesfalls schmälern lassen, und die Räte schließlich sind gegen alle beide und würden die Stadt am liebsten selbst beherrschen.« Er lächelte genießerisch. »So hacken sie einander im Kleinen wie im Großen die Augen aus.«
»Woraufhin Ihr damit anfangt, Blindenstöcke zu verkaufen«, sagte Philipp.
»Damit könnte ich jetzt auch schon anfangen, so blind, wie die Hälfte der Christenheit ist«, brummte Rasmus ernüchtert. »Sich dem Diktat dieses skrupellosen Machtmenschen auf dem Thron des Petrus zu unterwerfen und gegen den Mann Front zu machen, der wirklich die Macht dazu hat, uns den Weg in ein Paradies auf Erden zu ebnen.« Er sah sich vorsichtig unter den in der Trinkstube sitzenden halbnackten Männern um, die warmen Wein in sich hineinschlürften und sich halblaut unterhielten. Ohne seine Stimme sonderlich zu dämpfen, fuhr er fort: »Ich spreche natürlich von Kaiser Frederico. Ich mache kein Hehl daraus, daß er meine Sympathien hat. Man sagt ihm nach, er sei ein Heide, ein Ketzer und der Teufel in einer Person, aber die Wahrheit ist doch nur, daß er seinen Kopf zum Denken benutzt anstatt die Kniescheiben, auf denen die Kleriker herumrutschen und den Herrn inbrünstig bitten, für sie zu denken. Es heißt, daß ein neues Zeitalter vor der Tür steht und der Jahrtausendkaiser uns dorthin führen wird. Ich kann’s nicht sagen, weil ich nicht dabei war, als Kaiser Otto damals ausgerechnet hat, wie lange die Welt schon besteht, seit Gott der Herr Himmel und Wasser geteilt hat. Aber ich will es glauben, weil ich gehört habe, daß auch der Kaiser daran glaubt. Und wenn es stimmt, dann kann nur einer der Jahrtausendkaiser sein: Kaiser Frederico.«
»Warum gerade er?«
Rasmus riß die Augen auf.
»Warum er? Weil der Kaiser von Gott persönlich eingesetzt ist, um die Christen zu führen; und weil, wenn es jemals ein Beispiel für diese These gab, unser jetziger Kaiser dieses Beispiel ist.«
»Der Papst behauptet auch, er sei von Gott eingesetzt.«
»Der Papst wird von einem Haufen eitler, stinkreicher alter Böcke gewählt, die während der Wahl die ganze Zeit über sabbernd daran denken, welche saftige Jungfrau sie demnächst besteigen wollen.«
»Lieber Himmel. Ihr habt ein gefährliches Mundwerk.«
Rasmus tat, als habe er Philipps Warnung nicht gehört. »Rechtmäßigerweise wird der Papst vom Kaiser eingesetzt und der Kaiser von Gott. Als Zeichen dafür setzt der Kaiser sich selbst die Krone auf. So gehört es sich und nicht anders. Und es gibt einen, auf dessen Beispiel sich unser Kaiser stützen kann: Karolus Magnus, den größten Kaiser, den das Reich jemals hatte.« Er kniff ein Auge zu, um seine Aussage zu unterstreichen. »Das steht sogar geschrieben. Von des Karolus’ Biographen eigener Hand. Und daran glaube ich fest.«
»Das solltet Ihr lieber nicht an Bischof Konrads Ohren dringen lassen. Er würde Euch mit Freuden von diesem Glauben befreien; samt Eurem Kopf.«
»Ach, ich bin zu klein, um ihm aufzufallen.«
»Vorgestern waren ein paar Männer auf dem Markt, die waren noch kleiner als Ihr: Knechte aus dem Troß des Kanzlers. Nachdem sie ihre Gedanken öffentlich klargelegt hatten, lag einer von ihnen tot auf dem Boden, und einem war der Kiefer zerschmettert. Und ihre Gedanken unterschieden sich gar nicht mal so sehr von den Euren.«
»Ich habe schon davon gehört. Eure Ratsbüttel haben sich auf die Seite der Päpstlichen geschlagen.«
»Der Rat weiß, was für ihn gesund ist.«
»Eine elende Situation. So ist es in vielen Städten. Die Stimmung ist gereizt, und viele haben Angst, auch wenn sie es sich noch nicht anmerken lassen. Man erkennt es an den Augen der Leute. Sie heben sie kaum, wenn sie mit einem sprechen, und sie haben es eilig, aus der Gegenwart von Fremden zu verschwinden – als ob sie fürchten, zu dem falschen Mann ein falsches Wort zu sagen. Am Geschäft merkt man es natürlich auch; es läuft schlechter als gewöhnlich. Aber ich denke, daß bald eine Entscheidung fallen wird.«
Das wird sie, dachte Philipp und erinnerte sich an die düsteren Worte seines Herrn. In Lyon. Gleichzeitig wurde ihm klar, daß dies die einzige Information war, die seine Einladung in das Badehaus einigermaßen gerechtfertigt hätte. Aus keinem bestimmten Grund hielt er sie zurück; es sei denn, daß es die Beklommenheit war, die der Anblick des zum Fenster hinaus sprechenden Raimund in ihm geweckt hatte. Rasmus schien es nicht übelzunehmen. Er plauderte, trotz seiner harten Worte gutgelaunt, weiter über die Idiotie der Zerwürfnisse zwischen den Großen der Welt, die seine Handelswege unsicher machten und seinen Gewinn schmälerten, über die Qualität der Badehäuser in den unterschiedlichen Städten, die er auf seinen Reisen besuchte, und über seine Pläne, eine zarte Witwe zu beglücken, die ihm an seinem Stand schöne Augen gemacht hatte. Am Ende war es so, daß Rasmus für sein Geld keinerlei Informationen erhalten, aber eine Menge davon gegeben hatte. Für den Händler mochte es in Ordnung sein. Manche Leute waren glücklich, wenn sie sich nur lange genug reden hörten.
Die Kaufleute pflegten nach der Abendandacht im »Kaiserelefanten« zu essen, wenn sie nicht – wie Rasmus – über besondere Beziehungen in der Stadt verfügten und verschiedene Anlaufplätze kannten. Der »Kaiserelefant« stand am Nordende des Heumarkts und verfügte über eine geräumige Küche, in der die Bediensteten mehrerer Männer gleichzeitig das Essen für ihre Herren zubereiten konnten. Der Wirt kannte das Gleichgewicht zwischen Geschäftssinn und Freigebigkeit und auf welche Person welches davon anzuwenden war, und als er die Herberge vor Jahren übernommen hatte, war ihm klargewesen, daß nur eine Investition in eine vernünftige Trinkstube, Ställe für die Pferde und eine sachgerechte Bewirtung den Erfolg seines Hauses garantierten. Dieses Wissen, seine kühle Kalkulationsfähigkeit und die Bereitschaft, für seine Ziele auch eine größere Anleihe bei den Juden aufzunehmen, hatte ihm, dem unbekannten Neuzugezogenen, die Bekanntschaft Raimunds von Siebeneich, dessen Fürsprache bei einem jüdischen Geldverleiher und, nachdem er die Herberge erfolgreich einige Zeit geführt hatte, sogar die Bürgerschaft eingebracht. Zugleich hatte sie ihm einen stillen Teilhaber und Geschäftspartner beschert: Raimund, der nur unter der Bedingung für den Wirt gebürgt hatte, daß er einen nicht zu knappen Anteil an dessen Erfolg bekäme. Auch Raimund besaß Geschäftssinn und Kalkulationsfähigkeit. Philipp kannte den Wirt gut, denn er war in den Anfangszeiten dessen Erfolges auf Raimunds Gut gekommen; und Raimund hatte ihn dem Wirt vorgestellt und diesen darauf hingewiesen, daß Philipp als sein Vertreter zu gelten habe, wenn er in der Stadt sei. Dies bedeutete, daß der Wirt nach Philipps Eintreten persönlich bei einem seiner Gäste vorsprach und darum bat, daß man den neuen Gast gegen geringes Entgelt am Essen teilhaben lassen wolle, während Philipp selbst wie ein Herr im Hintergrund stand und vor Stolz und Verlegenheit gleichermaßen auf den Fußballen wippte.
Er fand Aufnahme bei zwei englischen Händlern, die gemeinsam reisten und die zusammen kaum genügend Sprachkenntnisse aufbrachten, um eine Unterhaltung mit ihm zu führen. Es saß ein weiterer Mann neben ihm, der sich schon von den Engländern abgewandt hatte und mit einem Gast am Nebentisch sprach: Philipp lauschte gelangweilt ihrem Gespräch, ohne es zu wollen und ohne sich darauf zu konzentrieren.
»Ich halte es für einen schönen Zufall, daß Ihr ebenfalls in den Süden hinunter wollt, um die dortigen Märkte zu besuchen«, sagte der Mann an Philipps Tisch. »Wenn Ihr es wünscht, können wir uns gerne zusammentun. Eure Leute und meine würden gemeinsam ein hübsches Häuflein abgeben, an das sich keine Gesetzlosen heranwagen, und ich habe zwei oder drei Packtiere frei, die ich Euch leihen könnte. Ich habe sogar eine vernünftige Landkarte mit römischen Meilenskizzen, von Rom aus gemessen; nicht diesen Mist, den man in den Klöstern kriegen kann, mit Jerusalem als Mittelpunkt und allen anderen Orten da, wo sie der Zeichner gern gesehen hätte, statt da, wo sie wirklich liegen.«
Der andere Mann musterte den Sprecher mißtrauisch, und dieser nickte.
»Ihr habt recht, mir nicht zu trauen; meine Erfahrung ist, daß man eher auf Gesindel denn auf ehrliche Leute trifft. Aber Ihr könnt Euch gern beim Wirt nach mir erkundigen – er wird mir den besten Leumund ausstellen.«
»Ich wollte Euch nicht zu nahe treten«, erklärte der zweite Mann.
»Habt Ihr nicht getan. Euer Mißtrauen zeigt mir nur, daß Ihr ein wertvoller Reisegefährte wärt.« »Es ist schade«, sagte der zweite Mann. »König Konrad tut zu wenig, um die Straßen sicher zu halten. Er ist eher in die Händel seines Vaters mit dem Papst verstrickt, als sich um sein Land zu kümmern.«
»Da pflichte ich Euch bei. Der Kaiser schlägt sich mit dem Klerus und zieht seine Söhne in den Konflikt mit hinein. Wenn er sich nur wieder auf das Vorbild des großen Karl besinnen würde; dieser hat seinerzeit nicht gezögert, die sächsischen Heiden niederzuwerfen, die den Handel in seinem Reich störten.«
Der zweite Mann schwieg einen Moment, als wisse er mit den Worten von Philipps Tischnachbarn wenig anzufangen; der Mann an Philipps Tisch sagte: »Karl der Große, Karolus Magnus ... Habt Ihr nicht von ihm gehört?«
»Na ja, wer hätte nicht von ihm gehört. Ich habe nie viel darauf gegeben.«
»Ich habe oft im Süden des Reichs zu tun, in Apulien, woher Kaiser Frederico stammt. Dort erzählt man viel von Karl dem Großen: ein genialer Feldherr, ein mächtiger Herrscher, ein würdiger Kaiser und das Vorbild Fredericos wie seines Großvaters, Kaiser Rotbart.«
»Was ich weiß«, sagte der zweite Mann, »ist, er habe die Sachsen missioniert, weil er das Christentum in allen Winkeln des Reichs verbreiten wollte.«
Der erste Mann grinste verächtlich.
»Das hat man ihm angedichtet. Ich bin der Meinung, er hatte nur das Ziel, das Reich zu vergrößern und die Handelsstraßen zu sichern. Glaubt Ihr wirklich, so ein Mann zieht los, um am anderen Ende seines großen Reiches ein paar halbwilde Stämme zu verhauen, bloß weil diese sich vor einem Baum niederwerfen statt vor einem geschnitzten Holzkreuz?«
»Ihr bezeugt nicht gerade großen Respekt vor der Kirche«, sagte der zweite Mann lächelnd, aber mit vorsichtigem Blick. Der andere zuckte mit den Schultern.
»Ich bin Kaufmann, kein Mönch«, sagte er. »Und ich habe es nicht nötig, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Ich glaube, daß Karl nicht der Mann war, sich von kirchlichen Belangen in der Welt herumsenden zu lassen. Er wollte den Handel in seinem Reich sicherstellen, und die Sachsen waren ihm zu aufrührerisch; da hat er sie über die Klinge springen lassen. Wärt Ihr und ich damals schon auf der Welt gewesen, hätten wir ihm sicher aus vollem Herzen zugestimmt.«
»Das mag sein«, erwiderte der zweite Mann. »Wer es wagt, den Handel zu gefährden, der die Lebensgrundlage aller Menschen in den Städten ist, hat es verdient, kräftig zurechtgestutzt zu werden.«
Philipps Gedanken drifteten von der Unterhaltung der beiden Händler fort und wanderten ziellos umher. Nach dem Essen, das die Engländer bereitwillig mit ihm geteilt hatten (und das allen üblen Nachreden gegen die Kochkünste der Engländer zum Trotz nicht schlecht geschmeckt hatte), fühlte er sich warm und müde. Er dachte an den Nachmittag und spürte eine matte Erregung; die Verachtung, die ihm entgegengebracht worden war, bereits verschwommen in seinem Gedächtnis, erinnerte er sich mehr an den schlanken, schönen Körper seiner Hübschlerin und weniger an die Dürftigkeit des Geschlechtsaktes, den er mit ihr praktiziert hatte. Als plötzlich im Hintergrund des dunklen, von mehreren offenen Feuern verräucherten Raumes ein Tumult losbrach, war er zuerst zu faul, aufzustehen und nachzusehen, was passiert sein mochte. Dann erhob er sich doch zusammen mit ein paar anderen Männern und drängte sich nach hinten, um seine Neugier zu stillen. Er mußte feststellen, daß er nicht über die Köpfe der vor ihm Stehenden hinwegblicken konnte, aber einige der Zuschauer fühlten sich bemüßigt, die Informationen nach hinten weiterzutragen.
»Ein betrunkener Franke«, sagte einer. »Er saß schon hier, bevor die Messe losging, und hat gesungen.«
»Er ist ein Sänger, aber er hat so miserabel Musik gemacht, daß der Wirt ihm nichts dafür geben will«, erklärte ein zweiter.
»Nein, der Wirt wollte ihm das Singen verbieten, aber er ließ sich nicht abhalten.«
»Jedenfalls hat er eine ganze Menge Wein getrunken und kann ihn nicht bezahlen.« Der Mann, der diese Information besaß, drehte sich halb zu Philipp um und grinste ihn hämisch an. Er hatte Essensreste zwischen den Zähnen und einen fettglänzenden Mund. »Er sagt, man hätte ihn bestohlen, ohne daß er es bemerkte.«
Philipp sah ihm betroffen ins Gesicht und drängte sich weiter vor. Die ersten Zuschauer kehrten bereits wieder an ihre Plätze zurück, und so war es Philipp leicht, ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu gelangen.
»Sänger«, knurrte der Wirt, »du hast ein halbes Dutzend Becher Wein getrunken! Hast du geglaubt, ich habe etwas zu verschenken, als du hier hereingekommen bist mit deinen Kieselsteinen im Beutel? Bestohlen! Daß ich nicht lache. Wenn einem der Beutel gestohlen wird, dann gleich ganz; wer hat wohl schon davon gehört, daß sich ein Beutelschneider die Mühe macht, den Inhalt auszutauschen?«
»Der Mann hat recht«, seufzte Philipp. Der Wirt drehte sich erstaunt um.
»Woher wollt Ihr das wissen, Meister Philipp?«
»Ich kenne ihn«, sagte Philipp. »Ich werde für das aufkommen, was er getrunken hat.«
Der Wirt musterte ihn prüfend, aber letztlich war es ihm egal, wer bezahlte. Philipp sah auf den Sänger hinunter.
»Ich danke Euch«, sagte der Sänger. »Wie es scheint, wird dieser Satz ein fester Bestandteil unserer Unterhaltung.«
»Ich hatte Euch doch geraten, Euch vor den Toren der Stadt niederzulegen. Wißt Ihr nicht, daß es der Gipfel des Leichtsinns ist, in den Straßen einzuschlafen?«
»Ich hatte ... gewartet«, entgegnete der Sänger. »Gewartet. Dabei muß ich eingenickt sein.« Er schüttelte den Kopf, als wollte er ihn klären. Seine Augen waren rot gerändert und geschwollen, und er mußte blinzeln, um Philipp ansehen zu können. Ansonsten wirkte er noch immer nicht mehr als ein wenig angeheitert. »Setzt Euch doch zu mir. Ein Sitzplatz ist das wenigste, was ich Euch dafür anbieten kann, daß Ihr mir für einige Zeit Geld leiht.«
Philipp zögerte. »Ihr braucht mir das Geld nicht zurückzugeben. Fühlt Euch eingeladen.«
»Es war keine Lüge«, sagte der Sänger. »Man hat mir tatsächlich den Beutel geleert.«
»Ich weiß.«
»Setzt Euch«, sagte der Sänger ein zweites Mal, ohne auf Philipps Geständnis einzugehen, und Philipp nahm zögernd ihm gegenüber am Tisch Platz. Ein Betrunkener war nicht die Gesellschaft, die er sich ausgesucht hätte. Die Herbergsgänger in der Nähe beobachteten ihn neugierig. Er überspielte seine Unentschlossenheit wie immer: Er setzte sich auf die Sitzbank, legte die Hände auf den Tisch, verschränkte die Finger ineinander und starrte einen Mann, der ihn dabei angaffte, so lange an, bis dieser woanders hinblickte.
Der Sänger lächelte ihn an. Plötzlich streckte er eine Hand über den Tisch und hielt sie Philipp entgegen.
»Ihr könnt mich Minstrel nennen«, sagte er. »Ihr seid Meister Philipp, wenn ich recht verstanden habe?«
Philipp nickte und schüttelte die dargebotene Hand. »Ich hatte sieben Becher Wein«, sagte Minstrel. »Die Glückszahl war gerade ausgetrunken, als ich feststellte, womit man meinen Beutel gefüllt hat. Ich überlegte eine Weile, was ich tun sollte, bis der Wirt kam und mir noch einen Becher einschenken wollte. Als ich ablehnte, begehrte er mein Geld zu sehen. Ich konnte ihm den Gefallen nicht tun, und er wurde wütend.« Er seufzte, aber das Lächeln verließ sein Gesicht nicht. »Wenn Ihr mir noch Geld genug für zwei weitere Becher leihen würdet, könnte ich Euch einladen und mit Euch auf unsere Bekanntschaft trinken.«
Philipp zog die Brauen zusammen und sah den Sänger argwöhnisch an, und Minstrel fügte hinzu. »Dies ist kein billiger Versuch, Euch anzupumpen. Morgen treffe ich einen Mann, der mich bei Euch auslösen wird. Wenn Ihr wollt, schreibe ich Euch einen Schuldschein.«
»Es ist schon gut«, wehrte Philipp ab und zog seine Börse heraus.
Er stellte zu seinem eigenen Erstaunen fest, daß er dem Sänger glaubte. Der Wirt kam mit mißtrauischem Gesicht an den Tisch, und Philipp bestellte zwei Becher Wein.
»Ich habe gesehen, wie Ihr hereingekommen seid«, sagte Minstrel. »Ich hoffte, daß Ihr mich auch sehen würdet und ich Euch fragen könnte, ob Ihr mir Geld leihen würdet, aber Ihr seid zum Wirt gegangen und habt Euch den Engländern vorstellen lassen.«
»Warum habt Ihr mich nicht gerufen?«
»Ich wußte Euren Namen nicht.«
»Ihr hättet aufstehen und winken können«, sagte Philipp ruhig.
Minstrel senkte den Blick und drehte den Becher auf der Tischplatte.
»Ich wollte es tun, aber es war mir ... peinlich, glaube ich. In diesem Moment erschien es mir weniger peinlich, dem Wirt meinen leeren Beutel zu zeigen und um Kredit nachzufragen.«
»Das verstehe ich nicht. Der Wirt ist ein Fremder und außerdem ein Geschäftsmann; es mußte Euch doch klar sein, daß er ablehnen würde.«
»Ja«, sagte Minstrel. »Er hatte die Freiheit, meine Bitte auszuschlagen.«
Philipp sah dem Sänger in die Augen. Erstaunt wurde ihm klar, daß er an Minstrels Stelle ebenso gehandelt hätte. Gib mir nur etwas, wenn du es freiwillig gibst; biete mir Freundschaft statt schöner Worte. Es gab lediglich einen kleinen Unterschied zwischen ihnen: Minstrel war von freundlicher Ehrlichkeit, wo Philipp sich mit einem Scherz über seine Gefühle hinweggeholfen hätte. Minstrel wandte den Blick ab und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht sollte ich mit dem Trinken aufhören«, sagte er. Er nippte vorsichtig an seinem Wein, als wolle er beweisen, daß der Alkohol ihm tatsächlich nichts bedeutete.
»Vielleicht wißt Ihr selbst am besten, was Ihr tun solltet und was nicht«, erklärte Philipp. Minstrel lächelte erneut sein seltsam-warmes Lächeln.
»Ihr seid mehr als anständig, Meister Philipp. Dabei sehe ich, daß Ihr Euch Eurer Sache nicht sicher seid und nicht wißt, ob Ihr gehen oder bleiben sollt. Ich habe Euch auf dem Marktplatz beobachtet, als die zwei Mann aus dem Troß des Kanzlers verletzt wurden. Ihr habt gezögert, aber Ihr wart der einzige, der schließlich zu dem mit dem zerschmetterten Kiefer trat und ihm helfen wollte. Jetzt helft Ihr mir. Warum steht Ihr nicht auf und laßt mich hier einfach sitzen zusammen mit meinem Rausch?«
»Vielleicht möchte ich von Euch erfahren, wie Ihr das mit den Ratten gemeint habt, die aus ihren Löchern kriechen?«
Minstrel sah ihm in die Augen; sein offener Blick veranlaßte Philipp dazu, noch etwas hinzuzufügen. »Vielleicht möchte ich aber bloß vermeiden, daß man auch Euch den Kiefer bricht.« Er stellte fest, daß es ehrlich gemeint war. »Was habt Ihr auf dem Markt getan?« fragte Minstrel nach einer Weile.
»Ein paar Einkäufe erledigt.«
»Für Euer Geschäft?«
»Wie kommt Ihr darauf, daß ich ein Geschäft haben könnte?«
Minstrel zuckte mit den Schultern.
»Ihr seht weder wie ein Bauer noch wie ein Handwerker aus; und einem Bürger dieser Stadt würde es kaum einfallen, sein Abendessen abends in der Schenke zu suchen.«
»Ich habe im Auftrag meines Herrn eingekauft«, erklärte Philipp.
»Ihr allein? Was stellt Ihr denn auf dem Hof Eures Herrn dar, wenn ich fragen darf?«
»Ich bin der Truchseß«, sagte Philipp und versuchte, sich seinen Stolz darauf nicht anmerken zu lassen. »Ohne mich müßten sie alle mit den Schafen auf die Weide, um dort zu äsen.«
»Was bedeutet das?«
»Es gibt auf jedem größeren Hof ein paar Leute, die für den Erhalt des täglichen Lebens verantwortlich sind. Da ist der Butigler, der für die Lagerhaltung, die Bäckereien und die Töpferwaren zuständig ist. Dieser untersteht dem Kämmerer, der sich um die persönlichen Besitztümer des Herrn kümmert. Der Kämmerer wiederum untersteht dem Truchseß; ebenso wie die Köche, die Pferdeknechte und die Hausdiener. Der Truchseß selbst ist für das Wohlergehen des Herrn und für seine und die Ernährung aller auf dem Hof verantwortlich. Der Truchseß bin ich; und auf unserem Hof der Kämmerer gleich dazu.«
»Euer Herr setzt bemerkenswertes Vertrauen in Euch; es gibt nicht viele in Eurem Alter, die solch ein Amt bekleiden.«
Philipp machte ein unbewegliches Gesicht, doch er genoß Minstrels Lob.
»Was habt Ihr nun für Euren Herrn eingekauft? Einen fetten Kapaun? Zarte Singvögel, deren Federn noch vom Netz des Vogelfängers zerrauft sind?«
Philipp schüttelte den Kopf. »Einen Bauern und Stoffe.«
»Eine merkwürdige Mischung. Ich bin erstaunt, was man bei Euch auf dem Markt alles feilbietet.«
Philipp lächelte. »Der Bauer war schon ein wenig angeknackst; nur die Stoffe sind erstklassig. Nun, ernsthaft, der Händler, mit dem ich das Stoffgeschäft abwickelte, hat mir seinen Knecht angeboten. Dieser hat zugestimmt, als Zinsbauer einen Pachthof für meinen Herrn zu bewirtschaften. Also habe ich ihn eingekauft und zu meinem Herrn hinausgeschickt.«
»Damit hat er sich in die Leibeigenschaft begeben, nicht wahr? Ausgerechnet als Zinsbauer. Warum hat er das wohl getan? Als Knecht eines Händlers hätte er ein leichteres Leben gehabt.«
Philipp verdrehte die Augen, »Eine schwierige Frage; ich habe sie mir auch schon gestellt. Tatsache ist, daß er die Stadt unbedingt verlassen wollte, und das so schnell wie möglich. Außerdem hat er gesagt, die persönliche Freiheit eines Menschen spiele keine Rolle.«
»Ah, der Prophet«, sagte Minstrel und wiegte den Kopf. »Er hat den Propheten gehört. Es ist gefährlich, auf solche Reden zu achten; es ist Gott nicht gefällig und schon gar nicht seinen Dienern auf Erden.«
Philipp beugte sich nach vorn.
»Der Prophet?« fragte er. »Was hat der Prophet damit zu tun?«
»Ist es Euch nicht klar, was Euren Mann antreibt? Er glaubt, daß die Welt bald endet. Danach werden die Herren Knechte sein, und die Geknechteten werden von ihrem Joch erlöst. Und selbst wenn beim Ende der Welt alles zum Teufel geht, dann hat er wenigstens die letzten Jahre seines Lebens verbracht, ohne sich anzustrengen. Ihr werdet feststellen, Meister Philipp, daß ihr kein Arbeitstier für Euren Herrn eingekauft habt, wenn ich mich nicht sehr irre. Eher einen Faulpelz.«
Philipp sah Minstrel an, während in seinem Kopf der unschöne Gedanke aufstieg, daß Lambert mit der Blesse ihn gründlich zum Narren gehalten hatte.
»Ich nehme an, mit den Ratten habt Ihr dann seinesgleichen gemeint.«
Minstrel blickte ihn nachdenklich an. Der Wirt kam mit einem Krug vorbei und schenkte nach. Minstrel hatte seinen Becher bereits geleert; Philipp hatte von seinem kaum gekostet.
»Alle sind sie Ratten«, sagte Minstrel langsam, ohne zu erklären, ob er mit seiner Antwort auf Philipps Frage einging oder seinen eigenen Gedanken nachhing. »Sie verbreiten ihre Lügen wie eine Krankheit.«
»Sprecht Ihr jetzt vom Propheten? Diese Gestalten erscheinen immer einmal wieder. Man darf sie nicht ernst nehmen.«
»Der Prophet«, sagte Minstrel, ohne auf seine Worte zu achten. »Die Büttel. Die Fürsten. Die Päpste und die Kaiser. Sie sind alle gleich.« Er packte seinen Becher und leerte ihn mit einem Zug. Das leichte Lächeln hatte jetzt einem Ausdruck der Bitterkeit Platz gemacht, und mit diesem Gesichtsausdruck und seinem hastigen Trinken wirkte er plötzlich nicht mehr leicht beschwipst, sondern wie jemand, der versucht, etwas zu ertränken und dabei immer betrunkener, aber keineswegs weniger bitter wird. Minstrel schien darüber nachzudenken, in welche Worte er seine Gedanken kleiden sollte und vor allem, wie viele davon preiszugeben ratsam war; Philipp konnte es an der Falte zwischen seinen Brauen erkennen, und er erkannte auch, daß der Drang, sich zu äußern, in Minstrel stärker war als seine Unschlüssigkeit. Der Sänger war kein verschlossener Mann. Philipp beobachtete ihn erwartungsvoll.
»Euch muß doch klar sein, daß jene Pilger im Auftrag des Heiligen Vaters den Propheten nicht deshalb am Reden hindern wollten, um den Zuhörern seinen Mundgeruch zu ersparen«, sagte Minstrel.
»Weshalb dann?«
»Es war eine Hetzpredigt gegen den Kaiser. Der Papst hat die Losung ausgegeben, daß jeder, der einer derartigen Tirade zuhört, fünfzig Tage Fegefeuer erlassen bekommt. Seitdem laufen die Pfaffen in ihrer Selbstlosigkeit herum und hetzen, damit ihren Schäfchen ein paar Tage der himmlischen Rachsucht erspart bleiben. Und weil an manchen Orten die Hunde, die die Schäfchen bewachen, darüber wütend werden, müssen sie vorsichtig formulieren.« »Ich habe das nicht als Hetzpredigt erkannt.«
»Weil man den Mann zu früh aufgehalten hat. Seine Freunde hätten den Propheten weggeführt, und er hätte an seiner Stelle weiter gepredigt. Die Kaiserlichen sind ihm dazwischengekommen. Nun, sie haben ja ihren Lohn dafür erhalten, stimmt’s?« Minstrel verzog den Mund und lächelte bitter. »Wie habt Ihr die Voraussage des Propheten empfunden?« fragte er dann.
»Blutrünstig. Den Leuten schienen die Details zu gefallen.«
»Er sieht eine Zeit heraufziehen, die von solchen Details voll sein wird. Ich weiß nicht, ob er wirklich Gesichte hat oder nur eins und eins zusammengezählt hat und über dem Ergebnis vor Schreck verrückt geworden ist. Tatsache ist, daß wir uns auf etwas zubewegen, was nicht weniger schlimm sein wird als alles, was er erzählt hat; wie ein Schiff, das auf einen Mahlstrom zugerissen wird. Und unser Schiff hat nicht einmal einen Steuermann; oder besser gesagt, es hat zwei, die sich nicht einig sind, was auf das gleiche herauskommt. Wenn wir als Passagiere wüßten, welcher von beiden der Gute und welcher der Schlechte ist, könnten wir den Schlechten über Bord werfen, aber wir wissen es nicht, oder? Wer, glaubt Ihr, ist das Tier mit den sieben Köpfen, von dem der Prophet gesprochen hat? Das ist das alte Rom, erbaut auf sieben Hügeln. Sie sagen, der Kaiser habe die Verderbtheit des alten Rom geerbt, ein neuer Imperator Nero, dessen Wiederkunft sie seit fünfhundert Generationen fürchten.« Minstrel lachte. »Dabei haben sie vergessen, daß sie selbst jetzt Rom verkörpern. Wer weiß, ob das Tier nicht schon längst auf einem purpurnen Thron sitzt? Nur, daß dieser in der Engelsburg steht.«
Philipp sagte mit bemühtem Lächeln: »Eure Rede läßt mir zwar die Hosen erzittern, aber verstehen kann ich sie nicht.«
Minstrel seufzte. Inzwischen hatte der Wirt, von Philipps ausbleibendem Widerstand motiviert, einen vollen Weinkrug auf den Tisch gestellt, und Minstrel hatte sich zum wiederholten Male nachgeschenkt. Er war nun ziemlich betrunken; in jenem Stadium, das einem Beobachter fast wieder klar erscheint. Was jedoch noch immer durchhielt, war seine Stimme, der nichts anzumerken war.
»Der Papst hat nicht nur verfügt, daß jeder, der einer Hetzpredigt zuhört, in der Gnade Gottes ist und seine zukünftigen Höllenstrafen verringert«, erklärte Minstrel. »Wer gar das Schwert gegen den Kaiser erhebt, kann eines vollen Ablasses gewiß sein.«
»Warum unternimmt der Kaiser nichts dagegen?« fragte Philipp.
»Vielleicht mißt er diesen Reden keine große Bedeutung bei.«
»Aber die Priester sind es doch, die den Willen des Volkes steuern. Wenn sie es gegen den Kaiser aufhetzen, wie kann er dem keine Bedeutung beimessen?«
»Ich bin erstaunt über Euren klaren Blick, was die Funktion des Klerus betrifft«, sagte Minstrel amüsiert.
»Ich war bis zur Adoleszenz ein Novize im Kloster«, erklärte Philipp. »Ich habe einige Lektionen genossen, die sich mit dem Selbstbewußtsein der Kirche befaßten.«
»Lektionen, die ohne Zweifel auch Eure Kameraden gehört haben; und dennoch bin ich sicher, daß sie sie anders interpretiert hätten.«
»Es waren Lektionen, die von der Einheit und der Gemeinschaftlichkeit der Wissenden erzählten und wie diese sie dazu bestimmten, die Schafe zu leiten, die das wankelmütige Volk darstellten. Vielleicht habe ich sie anders verstanden, weil ich die Gemeinschaftlichkeit nicht spüren konnte.« Philipp war zum zweiten Mal erstaunt über die Offenheit, die Minstrels Gegenwart in ihm auslöste.
»Anders zu denken als die anderen ist nicht zwangsläufig etwas Schlechtes«, sagte Minstrel. »Zuweilen verhindert es, daß einem der Geist verklebt wird.« Es klang, als habe er alle Erfahrung der Welt darin, anders zu denken. »Was nun Eure Sorge um des Kaisers Empfinden für das Volk angeht – wieso glaubt Ihr, den Kaiser müsse es interessieren, was das Volk denkt? Es ist nicht das Volk, das ihn wählt.«
»Aber es kann ihm doch nicht egal sein, wenn das Volk belogen wird.«
»Daran ist es selbst schuld«, sagte Minstrel. »Das Volk kann leicht betrogen werden, da es sich für so abgeklärt hält, niemandem etwas zu glauben und über den feinen Reden der Herren zu stehen, die es ohnehin nicht versteht. In Wahrheit ist die Abgeklärtheit nur der Mangel an Interesse, und demjenigen, dem es gelingt, sich für sie interessant zu machen, glauben sie zuletzt doch unbesehen alles.«
»Und was ist mit den Fürsten? Die Priester werden doch auch vor ihren Ohren gegen den Kaiser hetzen.«
»Das ist wahr. Nur ist es bei den Fürsten anders, denn sie glauben in erster Linie nur an sich selbst und ihren persönlichen Vorteil, und sie werden demjenigen die Treue halten, von dem sie sich den größten Vorteil versprechen. Solange das der Kaiser ist, muß er über die Bemühungen der Pfaffen nicht besorgt sein.« Minstrel verstummte plötzlich, als wäre da doch etwas, über das der Kaiser sehr wohl besorgt sein müsse, aber er sprach es nicht aus. Sein Gesicht war nachdenklich. »Kennt Ihr die Geschichte von der Zauberin, die eine Truhe besaß, deren Inhalt niemand kannte – nicht einmal sie selbst? Eines Tages hielt sie es nicht mehr aus und öffnete die Truhe. Es stellte sich heraus, daß sie mit dem Bösen der Welt gefüllt war: mit Krankheiten, Pestilenz, mit Eifersucht und Gier, mit Mord und Habsucht. Es gibt viele solcher Truhen; manchmal findet jemand eine davon und macht sie auf, und die Teufel spazieren heraus.«
»Ich verstehe nicht, was Ihr damit meint«, sagte Philipp, aber Minstrel hatte den Blick auf die Tischplatte gerichtet und murmelte: »Die Teufel sind schon unter uns. Sie haben sich nicht die Gestalt von Ungeheuern gegeben, so einfältig sind sie nicht. Es kämpfen nicht Könige gegen Drachen, sondern die Drachen kämpfen gegeneinander, und wer immer gewinnt, frißt die auf, die den Kampf überlebt haben.« Er sah Philipp an.
»Mein Freund, sie sind längst unter uns, und ihre Klauen sind Betrug und ihre Zähne sind Lügen. Sie haben uns geraubt, was wir gewußt haben, und jetzt wollen sie uns das rauben, woran wir glauben. Die Drachen hocken in ihren Höhlen und senden ihre Knechte, die ihnen ihre Seelen verkauft haben, in alle Himmelsrichtungen aus. Aber ich hole mir meine Seele wieder zurück. Ich hole sie mir wieder zurück.«
Sein Kopf sank auf den Tisch, und er schlief ein.
Nicht weit entfernt vom »Kaiserelefanten« stand, zwischen Neugassentor und Drachenpforte und einen Steinwurf vom Palast des Erzbischofs entfernt, eine Herberge mit dem naheliegenden Namen »Zum Drachen«. Die Herberge besaß keinerlei Eß- oder Trinkstube, dafür aber eine ganze Anzahl von Stallungen und in ihrem oberen Stockwerk einen geräumigen Schlafraum mit einer Anzahl Einzelpritschen und einem großen Bett für mindestens zwei Dutzend Schlafende. Pritschen und Bett waren mit Farnkraut gepolstert, das anders als das üblicherweise verwendete Stroh das Ungeziefer fernhielt, und der Wirt hielt ein knappes Dutzend schwerer Decken auf Vorrat, die er gegen Aufpreis an diejenigen Ruhesuchenden vermietete, deren Reisemantel zu dünn oder zu naß war oder die keinen Reisemantel, aber eine genügend gefüllte Börse besaßen. Die Decken rochen streng nach Rauch und rohem Speck, denn der Wirt hängte sie nach dem Gebrauch zusammen mit dem Räucherfleisch über die Trockensparren, um auch aus ihnen ein etwa vom vorigen Benutzer übergewandertes Ungeziefer zu vertreiben. Diese Tatsache und die farngepolsterten Schlafstätten hatten dem Wirt einen hohen Ruf in der Stadt verschafft, und nicht jeder Reisende oder Übernachtungsgast konnte es sich leisten, die Dienste des Wirtes in Anspruch zu nehmen. Raimund hatte, noch aus den Zeiten, in denen er sich öfter in der Stadt aufgehalten hatte, die einzige Kammer der Herberge gemietet, und wenn Philipp in seinem Auftrag in der Stadt war, stand sie ihm für seine Nachtruhe zur Verfügung. Die Kammer war nichts anderes als ein Bretterverschlag am einen Ende des Schlafsaals, dessen Zugang mit Decken abgehängt war.
Philipp genoß die Zurückgezogenheit der Räumlichkeit; und zugleich fühlte er sich darin unwohl. Unwohl, weil ihm der Gedanke noch immer nicht geläufig war, ab und an einen Raum für sich selbst zu haben, in den er sich zurückziehen konnte. Weder hatte er im Kloster etwas Derartiges besessen, noch stand es ihm auf dem Gut zur Verfügung. Im Kloster hatte es wohl reiche Söhne gegeben, die privitas genossen und deren Väter für dieses Vorrecht aufkamen; aber sie waren niemals ganz in der Gemeinschaft aufgegangen. Sie hatten an den Messen, Speisungen, Vorlesungen und Arbeiten teilgenommen, die das wache Leben des Mönchs erfüllten. Aber die nächtlichen Rituale, die unschuldigen und die lüsternen Spiele der heranwachsenden Knaben, die mehr als die Gebete des Abtes und die Ordensregeln dafür sorgten, daß schon die Novizen sich als Teil der Gemeinschaft fühlten, in der sie als Mönche später eingebettet sein würden, teilten sie nicht.
Philipp, der seine Eltern, die ihn an der Klosterpforte abgegeben hatten, nicht kannte, hatte im gemeinsamen dormitorium genächtigt und war dennoch ebensowenig wie die reichen Novizen ein Teil der Gemeinschaft geworden. Vielleicht lag darin der Hauptgrund, warum es ihm neben der Wohltat der eigenen privaten Sphäre Unbehagen bereitet, diese zu genießen: Weil er sich sein ganzes Leben lang neben den anderen stehend empfunden hatte und der Besitz dieses Zimmers – wenn auch wenige Male im Jahr und nur für kurze Zeit – ihn daran erinnerte, wie vergeblich er sich während seiner Klosterzeit nach einem solchen eigenen Raum gesehnt hatte, um der erdrückenden Enge einer Gemeinsamkeit zu entgehen, zu der er niemals gehört hatte.
Philipp lag wach auf der Pritsche in der Kammer und lauschte den Geräuschen der Schläfer draußen im großen Saal. Der Saal war nahezu voll; der Markt war einer der ersten des Jahres gewesen, der auch die Händler in die Stadt führte, nachdem der Winter unverhältnismäßig lange regiert hatte und der Frühling erst weit nach Ostern endgültig hatte Fuß fassen können. Philipp, der sich nach dem Dunkelwerden in der Herberge eingefunden hatte, war erstaunt gewesen, über wie viele Säcke und Packtaschen und Kleiderbündel er sich seinen Weg in seinen Raum hatte tasten müssen, verfolgt von den alarmierten Rufen der von seinen Bewegungen geweckten Schläfer, die ihn im ersten Schreck für einen Dieb hielten.
Philipp dachte über Minstrel nach. Um es genauer zu sagen: Er dachte über Freundschaft nach. Betrachtete man Philipps bisheriges Leben, hatte es seit dem Verlassen des Klosters eine atemberaubende Wende zum Besseren genommen: seine Stellung auf dem Hof seines Herrn, das Vertrauen, das er genoß, die Freiheit, mit der er sich bewegen konnte. Gewiß, Philipps Herr benahm sich mehr als freundschaftlich in seiner Großzügigkeit und seinem Vertrauen ihm gegenüber, aber abgesehen von all dem war und blieb er sein Herr. Die Männer und Frauen, die auf dem Hof arbeiteten, begegneten ihm mit freundlichem Respekt – aber Philipp war sich niemals sicher, ob ihre Freundlichkeit nicht einfach darauf beruhte, daß er die rechte Hand des Herrn war. In der Stadt gab es weder Mann noch Weib, die sich für ihn außerhalb geschäftlicher Verbindungen interessierten. Minstrel war anders.
Minstrel war ein Trinker, und er war stolz, ohne arrogant zu sein, besaß die vollendeten Manieren eines höfischen Minnesängers und eine Offenheit, die klarstellte, daß er kein Mann der Kompromisse war. Er besaß Würde; das war es, was ihn am besten charakterisierte. Er war unglücklich und allein und hatte sich offensichtlich dem Wein ergeben, aber er besaß Würde. Es war etwas, was ihn über die übrigen Plappermäuler, Windbeutel und Schöntuer stellte, die sich einem anbiederten. Man hatte das Gefühl, daß es eine Auszeichnung war, wenn er einem vertraute; und es schien, als vertraue er Philipp.
Immerhin hast du seinen Wein bezahlt und ihm zuletzt auch noch zu einer Schlafstätte verholfen, dachte Philipp sarkastisch, aber er wußte selbst, daß sein Sarkasmus nicht zutraf. Minstrel hatte seine Hilfe nicht erbeten und nicht mit ihr gerechnet. Genausowenig wie um Hilfe buhlte er um Philipps Freundschaft.
Freundschaft ist nichts weiter als eine zusätzliche Verbindlichkeit, dachte Philipp schließlich, schon an der Schwelle zum Schlaf, ein Akt, mit dem man sich an den erwählten Führer einer Gruppe oder an deren Mitglieder bindet. Es mochte an dem Gefühl liegen, das sein Aufenthalt in diesem exklusiven Raum in der Herberge jedesmal wieder in ihm wachrief. Seine Zeit im Kloster stand ihm deutlicher vor Augen als sonst, und er erinnerte sich dunkel an ein Erlebnis mit anderen Novizen, an deren Gunst ihm damals gelegen war. Es hieß, man müsse einen Akt ähnlich der commendatio vollführen, um in ihren Zirkel aufgenommen zu werden. Der Akt bestand darin, während der Nachtruhe leise aus dem Schlafsaal der Novizen zu schleichen und sich in der Latrine zu treffen, wo von ihm verlangt wurde, das Novizengewand zu lüften und sein Geschlechtsteil zu präsentieren. Es war ein langer Weg, den er hinter den beiden Knaben herschlich; das Licht brannte die ganze Nacht im dormitorium und raubte ihnen den Schutz der Dunkelheit, und sie mußten an dem Mönch vorbei, der in der Mitte des Schlafsaales lag und auf die Novizen zu achten hatte. Der Wächter schlief den Schlaf des Gerechten, doch kaum waren sie an ihm vorbei, stieg die Angst vor der von ihm erwarteten Tat, als sie sich der Latrine näherten und endlich in ihrer hintersten Ecke Aufstellung nahmen. Er erinnerte sich an sein unerträglich klopfendes Herz und an den Schock, den er fühlte, als er sich seiner Erregung bewußt wurde. Sein Glied füllte sich plötzlich schmerzhaft mit Blut, und er präsentierte es (nachdem er mit Zögern und Zaudern und vollkommen vergeblich versucht hatte, das Abklingen der Erregung abzuwarten) schaudernd und nahezu ohnmächtig vor Scham und Aufregung. Einen Moment lang nur, einen kurzen Augenblick, bevor die Scham übermächtig wurde und er das Vorderteil des Gewandes mit beiden Händen krampfhaft nach unten zog. Sie konnten ihn nicht dazu überreden, sich noch einmal zu zeigen. Der Akt, die commendatio, war nur zum Teil erfüllt, und ebenfalls nur zum Teil erfüllte sich die Freundschaft, an der ihm schon nichts mehr gelegen war, Sekunden bevor er das Gewand aufgehoben hatte.
Philipp schlief ein. Er träumte; aber anstatt von jenem Erlebnis zu träumen, erschien ihm die Truhe, von der der Sänger gesprochen hatte. Er trat hinzu und sah, daß das Schloß der Truhe bereits geöffnet war; der Deckel sprang auf, und er sah einen Rattenkönig in der Truhe hocken, die vielfach verschlungenen und verknäuelten Schwänze wie ein zuckendes Nest fleischfarbener Schlangen. Dutzende von schwarzen Augenpaaren funkelten ihn an, und die Tiere öffneten die Mäuler und sagten mit der Stimme des Propheten: »Wir sind die Herren der Hinterlist.«
Am nächsten Morgen waren die Erinnerungen an seine Klosterzeit ebenso wie der Traum verblaßt.
Als Philipp sich anzog und dabei mißmutig an seine bevorstehende Arbeit bei Radolf Vacillarius dachte, hörte er Schritte, die sich seinem Geviert näherten, und gleich darauf ein Räuspern. Die Decke wurde beiseite gezogen, und Minstrel trat in den Raum. Er wirkte nicht blasser als gestern während des Tages; nur seine tiefliegenden Augen zeigten, daß ihm der Alkohol zu schaffen machte. Er war so nüchtern, wie ein Mann am frühen Morgen nur sein konnte. »Ich fürchte, ich habe mich gestern abend Euch gegenüber nicht besonders aufmerksam benommen«, sagte er.
»Der Wein hatte Euch überwältigt. Ihr seid eingeschlafen.« »Aufgewacht bin ich in dem Zimmer oberhalb der Gaststube, in dem der Wirt mit seiner Familie schlief.«
»Er hatte dort ein Bett frei, und ich habe ihn gebeten, es Euch zu geben.«
»Ich nehme an, ihr habt Eure Bitte mit genügend Pfennigen untermauert.«
Philipp zuckte mit den Schultern.
»Sein Haus ist eine eingetragene Herberge, und er hat das Recht, dieses Bett zu vermieten. Tatsächlich war es nur ein Glücksfall, daß es frei war und er es Euch für die Nacht zur Verfügung stellen konnte.«
Er machte eine einladende Geste, und Minstrel trat auf das Bett zu. Er setzte sich, bückte sich ächzend zu der Wasserschale, die davor auf dem Boden stand, und wusch sich die Hände. Mit gebeugtem Rücken und Händen, die über die Schüssel baumelten und dort abtropften, blieb er sitzen und seufzte.
»Den Grund dafür kann ich Euch nennen«, sagte er. Aus der Nähe wirkte er noch spitzer als sonst. Er lächelte Philipp müde an. Neben dem Lager stand eine Schale mit Kardamomsamen auf dem Boden, die Philipp am Morgen zu kauen pflegte, um den schlechten Atem abzutöten; Minstrel faßte hinein und schob sich einige davon in den Mund.
»Die Frau des Wirts hat ein kleines Kind geboren«, sagte er. »Vor nicht länger als drei Wochen. Es schlief mit in demselben Raum. Wenn es denn schlief.«
Philipp runzelte die Brauen.
»Versteht Ihr«, sagte Minstrel und breitete die Hände aus. »Ich bin nicht undankbar, ganz und gar nicht. Ohne Euch hätte ich im Rinnstein übernachten müssen, und zweifellos hätte mir der erste dahergelaufene Vagabund das Fell über die Ohren gezogen. Es ist nur ...«
»... daß Euch das Kind die ganze Nacht über wach gehalten hat«, vollendete Philipp mit spöttischem Grinsen.
Minstrel strich sich durch sein wirres Haar und sagte: »Die Frau des Wirts war noch erschöpft vom Wochenbett und hatte den Schlaf einer Toten, und der Wirt selbst scheint taub zu sein.«
»Das heißt, Ihr mußtet den Wirt aufwecken, damit er das Kind zum Schlafen brachte«, lachte Philipp.
»Das heißt«, sagte Minstrel resigniert, »daß ich zweimal selbst aufstand und den kleinen Wurm auf meinen Armen wiegte, bis er sich beruhigt hatte, weil weder seine Mutter noch sein Rabenvater erwachten.«
Philipp begann schallend zu lachen. Als er sich beruhigt hatte, sagte Minstrel: »Das dritte Mal wurde ich von der Tochter des Wirts aus dem Schlaf gerüttelt, die mich bat, das Kind nochmals zu beruhigen, weil sie selbst auch nicht schlafen könne. ›Weck deinen völlig tauben Vater‹, knurrte ich, ›es ist sein verdammtes Kind.‹ Sie sah mich von unten herauf an und sagte: ›Aber Herr, bei Euch wird es viel schneller ruhig. ‹«
Philipp brach lachend auf dem Lager zusammen. Minstrel schaute auf ihn hinab und machte ein säuerliches Gesicht. Der übermütige Funke, der in seinen Augen tanzte, strafte seine Miene jedoch Lügen. Zuletzt zog er ein abgeschabtes, vielfach benutztes Pergament aus seinem Wams und hielt es Philipp hin.
»Was ist das?« fragte Philipp und wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Ein Schuldschein«, erklärte Minstrel. »Ihr habt meinen Wein und mein Lager bezahlt, und ich habe den Wirt gefragt, wieviel Ihr für mich ausgelegt habt. Der Schuldschein lautet über diesen Betrag.«
Philipp faltete das Pergament auseinander und spähte hinein. Was einmal darauf gestanden hatte, war mit Bimsstein abgerieben worden, und die ursprünglichen Buchstaben waren Schatten zwischen den jetzigen Worten. Minstrel hatte in geschwungener fränkischer Schrift einen Text aufgesetzt, der seine Worte bestätigte.
»Ihr habt nichts zu verschenken«, sagte Minstrel. »Also nötigt Euch keinen Widerspruch ab. Was ihr für mich getan habt, hätte kein zweiter getan, und es tut Eurer Freundestat keinen Abbruch, wenn ich Euch das Geld wiedergebe, das ich Euch schulde. Für mich ist es zugleich eine Möglichkeit, mein schlechtes Gewissen zu beruhigen und Euch nochmals Dank zu sagen.« Philipp nickte und steckte den Schuldschein ein.
»Was werdet Ihr nun tun?« fragte er.
»Ich habe nach dem Mittagläuten ein Treffen mit einem ... wichtigen Mann. Ich werde ihn bitten, mir Eure Auslagen zu ersetzen. Sobald ich das Geld habe, komme ich hierher und händige es Euch aus.« »Und bis dahin?«
»Bis dahin werde ich Euren gestrigen Rat befolgen und mich irgendwo außerhalb der Stadt schlafen legen. Ich fühle mich ein wenig erschöpft.«
»Warum nehmt Ihr nicht das Lager hier?« fragte Philipp.
Minstrel sah ihn an.
»Mein Herr bezahlt diesen Raum«, erklärte Philipp. »Wenn ich in der Stadt bin, steht er mir zur Verfügung. Er hat niemals gesagt, daß ich das Lager nicht jemandem anbieten dürfe, den ich kenne. Wenn es Euch Sorgen bereitet, könnt Ihr mir ja einen weiteren Schuldschein ausstellen.«
Minstrel schwieg, und Philipp erwartete die Frage, weshalb er ihm nochmals helfen wolle. Zuletzt senkte der Sänger stumm den Blick.
»Ich nehme Euer Angebot an«, sagte Minstrel.
»Gut.«
Philipp bückte sich und schnürte die Lederriemen um seine Waden. Minstrel sah ihm von der Seite her zu, dann wandte er sich um und betrachtete den Raum. In ihr Schweigen klangen die Geräusche, die von den anderen Schläfern jenseits der Kammer kamen und die sich wie Philipp auf den Tag vorbereiteten: das Rascheln von Kleidung, Husten und Räuspern, die klinkernden Geräusche von Taschenverschlüssen und Gürtelschnallen und das alberne Kichern, das auf einen unverständlichen Scherz folgte.
»Woher wußtet Ihr, wo Ihr mich finden würdet?« fragte Philipp.
»Vom Wirt des Gasthauses, in dem wir uns gestern trafen. Er schickte mich hierher; der hiesige Wirt schließlich zeigte mir den Weg zu Eurer Schlafkammer. Euer Herr scheint tatsächlich viel für Euch übrig zu haben.«
Philipp stand auf, um in sein Wams zu schlüpfen. »Die Schatten kriechen heran«, sagte Minstrel. Philipp fuhr herum.
»Was meint ihr?«
»Die Dunkelheit nähert sich, und Ihr wißt es, Meister Philipp; habe ich recht?«
Philipp fühlte, wie sein Herz heftig zu schlagen begann. Der Raum schien plötzlich finsterer geworden zu sein.
»Ich glaube nicht, was der Prophet voraussagt«, sagte Philipp heftig. »Das Ende der Zeiten ist noch nicht gekommen.«
»Es ist das Ende der Unschuld«, sagte Minstrel, »das gekommen ist. Wir haben einen Weg gefunden, sogar Gott zu betrügen.«
»Was wollt Ihr nur mit diesen dunklen Reden sagen?« rief Philipp. »Die Truhe, aus der jemand das Böse befreit hat; die Teufel, die bereits unter uns sind; und daß Ihr Eure Seele verkauft hättet.«
Minstrel lächelte verloren; er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und schien seine Bemerkung zu bereuen. »Vergeßt es«, sagte er. »Wenn alles gutgeht, werdet Ihr nie erfahren, was damit gemeint ist.«
»Wem habt Ihr Eure Seele verkauft?« drängte Philipp. »Habt ihr Euch einem Dämon verschrieben?«
»Viel schlimmer«, seufzte Minstrel. »Ich habe mich dem Herrn der Hinterlist verdingt.«
Die abschließenden Gespräche über die neuen Bestellungen mit Rasmus, dessen Geschäftstüchtigkeit ihr gestriger gemeinsamer Besuch des Badehauses keinen Abbruch tat, zogen sich eine Weile hin, und als sie beendet waren, bestand Rasmus auf einem neuerlichen Besuch der Örtlichkeit. Philipp konnte ihn nur mit Mühe abwehren. Danach stellte ihn Rasmus einem befreundeten Händler vor, der am nächsten Tag nach Nürnberg aufbrechen wollte und dessen Karawane sich Philipp für einen Teil der Strecke zu Radolf hinaus anschließen konnte, damit er so wenig wie möglich allein und ungeschützt reisen müsse. Als er am späten Nachmittag zu der Herberge zurückkehrte, stand der Wirt bereits mit zwei Bütteln vor der Tür und drang klagend auf ihn ein. Einer der Büttel war der Wachführer der Rotte, die für die Einhaltung der Ordnung in den Herbergen und Badehäusern zuständig war. Philipp kannte ihn; sein Name war Rutger, ein junger Mann in Philipps Alter, der zwischen seinem Neid auf Philipps bessere Stellung und der Anmaßung seiner eigenen Machtbefugnisse, zwischen Bequemlichkeit und Arbeitseifer, zwischen Arroganz und Servilität hin und her schwankte. In seinen ausgeglichenen Tagen war er ein zuverlässiger Wachführer und in seinen freien Stunden ein zum Spott aufgelegter, aufgekratzter Saufkumpan. Rutger hatte sich die Sachlage bereits zurechtgelegt: Wie es schien, hatte Minstrel die Zeit zwischen Philipps Aufbruch und dem Mittagläuten, während derer sich niemand im Schlafsaal aufgehalten hatte, dazu genutzt, sich heimlich davonzustehlen. Zuvor jedoch hatte er das Lager aus Farnkräutern heruntergerissen und durchwühlt und alles umgeworfen und zerschlagen, was sich zerstören ließ.
»Einen ordinären Dieb habt Ihr mir ins Haus gebracht, Meister Philipp«, sagte der Wirt anklagend. »Jetzt könnt Ihr diese Nacht noch nicht einmal hier schlafen.« Philipp machte keine seiner üblichen scherzhaften Bemerkungen; er gab seine Aussage für Rutger ab, der ihn halb teilnahmsvoll, halb spöttisch betrachtete, bezahlte den Schaden schweigend mit dem Geld, das ihm Raimund für seine Einkäufe mitgegeben hatte, und ging zurück zur Unterkunft der Händlerkarawane, um die Nacht vor ihrem gemeinsamen Aufbruch mit ihnen zusammen zu verbringen.
Während Philipp in der Stadt seinen Aufbruch vorbereitete, von ebensoviel pochendem Zorn auf Minstrels Tat wie auf seine eigene Gutgläubigkeit erfüllt, traf eine kleine Gruppe Reisender vor der Ehrenpforte ein: ein fränkischer Geistlicher, in dessen Begleitung sich drei Frauen befanden, von denen wiederum eine die Kopfbedeckung und den Schleier einer verheirateten Frau trug, während die beiden anderen sichtlich ihre Mägde waren. Die Torwachen ließen sie ohne großes Aufheben passieren. Sie konnten nicht viel Schaden anrichten; wahrscheinlich waren sie ohnehin nur in der Stadt, um die Reliquien zu bewundern, bevor die Pilgersaison in vollem Schwange war. Die Frau sah vornehm gekleidet genug aus, um sich die Reise noch vor allen regulären Pilgern leisten zu können. Als sie ihnen das Gesicht zuwandte und lächelnd mit einem fränkischen Akzent dankte, waren sie erstaunt, daß sie es riskiert hatte, mit dieser kleinen, nutzlosen Eskorte bis hierher zu reisen. Sie war von einer selbstbewußt wirkenden Schönheit, soviel unter der Haube mit dem breiten Kinnschleier zu sehen war, und das Haar, das in ihren Nacken fiel, glänzte im abendlichen Sonnenlicht mit einem überwältigenden Herbstrot. Die Torwachen waren sich einig, daß es töricht von einer Frau ihres Aussehens war, so unbewacht zu reisen; ihr Gesicht allein hätte jedem Wegelagerer das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen, ungeachtet aller möglichen Reichtümer, die bei ihr zu holen sein konnten. Die Torwachen sahen ihr kopfschüttelnd nach und hingen kurzfristig eigenen Gedanken nach, in denen die Frau, eine einsame Straße und sie selbst in der Gestalt eines rauhbeinigen, zu allem entschlossenen Wegelagerers eine Rolle spielten. Natürlich konnten sie nicht wissen, daß Aude Cantat, deren Reichtum sich gerade soweit erstreckte, daß sie die zwei alten Frauen und den Kaplan als ihre Reisebegleiter entlohnen konnte, erst ein paar Meilen vor der Stadt die Männerkleidung ausgezogen hatte, in der sie (zur Mißbilligung des Kaplans, der sich jedoch nicht hatte durchsetzen können) die restliche Reise getan hatte – dem Aussehen nach ein zierlicher junger Mann mit einem Geistlichen und zwei alten Weibern als Gefährten, die zu überfallen sich für keinen Wegelagerer lohnte.