Читать книгу Der Jahrtausendkaiser - Richard Dübell - Страница 8

Zwischenspiel

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Der Tag war schlimmer als die Nacht.

Agnes war sicher gewesen, die Nacht nicht zu überleben. Aber sie war auch sicher gewesen, den kurzen Prozeß, die Urteilsverkündung und ihre Fesselung an den Schandpflock nicht zu überleben; und danach atmete sie noch immer. Tatsächlich hatte die Nacht etwas Tröstliches. Die Hitze des Tages ging mit der Sonne und mit ihr das grelle Licht, das sie in ihrer Hilflosigkeit und Schande dem Auge des Herrn preisgab. In der Dunkelheit schienen die Häuser näher an sie heranzurücken, ihre kompakten Schatten wie Leiber von freundlichen Tieren, die sich um sie scharten. Gewiß, es gab die Stimmen der wilden Bestien, die sich nachts in den Wäldern tummelten oder über die Felder der Menschen liefen. Der grelle Todesschrei eines kleinen Lebewesens, das seinem Verfolger ausgeliefert war, klang nicht weniger erschreckend als das blutdürstige Heulen des Jägers, der seine Beute in seinen Tatzen weiß. Einmal schwang sich ein Nachtvogel scheinbar direkt über ihr aus der Luft, in einem Sekundenbruchteil ein finsterer Umriß vor dem Sternenhintergrund des Himmels, im nächsten ein Rauschen und Knattern von Federn und das schmerzhafte Fiepen einer Maus, in deren Leib sich die erbarmungslosen Fänge bohrten. Sie wollte schreien. Ihre Zunge zuckte, aber die Klammern hielten sie fest und trieben scharfe Nadeln der Pein in sie, und es wurde nicht mehr als ein abgehacktes Keuchen daraus.

Der Tod der Maus spielte sich direkt vor ihren Füßen ab, und sie wußte, daß der Teufel in jenem Nachtvogel war, denn wie hätte das Tier sonst die kleine Maus sehen können, die sich unmittelbar vor ihr befand und die sie selbst doch nicht gesehen hatte. Das Fiepen brach unvermittelt ab, und der Vogel erhob sich in einem Wirbel aus Federn und Staub wieder; er war niemals richtig auf der Erde gelandet. Agnes umklammerte die Kette, die ihre Hände an den Pflock fesselte, ihr Herzschlag rasend; es war ihr fast übel vor Schreck. Es gab all diese Vorkommnisse, und trotzdem hatte die Nacht etwas Tröstliches. Zum einen gelang es ihr, trotz der unbequemen Stellung, zu der sie gezwungen war, mit dem Rücken an den Schandpflock gelehnt, immer wieder einzunicken, so daß es Zeiten gab, in denen ihr Bewußtsein nicht ständig mit dem Schmerz und der Scham kämpfte. Zum anderen, und das war das Wichtigere, wußte sie, daß Menschen um sie herum waren, daß ihre Nachbarn, ihre Leidensgenossen, ihre Familie in den Häusern um sie herum schliefen. Sie hörte sie nicht, sie sah bis auf die kurze Zeit, in der sie von den Feldern zurückgekommen waren und aßen, keinerlei Lichtschein, aber sie wußte, daß sie da waren, und dieser Umstand tröstete sie. Sie empfand diesen Trost nicht als merkwürdig, obwohl ihr vollkommen klar war, daß das Dorf sich gegen sie gewandt hatte. Es reichte aus, daß Menschen in ihrer Nähe waren; sie fühlte sich sogar wieder wie ein Teil der Gemeinschaft, die sie so sichtbar ausgestoßen hatte.

Es war ihr klar, daß sie etwas getan hatte, was den Herrn und seine Gläubigen zutiefst erzürnt hatte; aber es war ihr nur klar, weil man es ihr gesagt hatte. Wenn man jedoch näher darüber nachdachte, schien es immer weniger klar zu werden, und man gelangte an einen Punkt, an dem als einziger Schluß blieb, daß man eigentlich gar nichts getan hatte. Da aber ein unschuldiger Mensch nicht vom Priester und den Ältesten verurteilt würde, mußte sie doch etwas getan haben. An diesem Punkt begann die Gedankenkette zumeist von neuem, wenn sie nicht durch ein äußeres Ereignis wie den Tod der Maus vor ihren Füßen, den Steinwurf eines Kindes oder den Guß aus dem Wassereimer, den der Priester ihr gegen den Durst verabreichte, unterbrochen wurde.

Dies war geschehen: Es gab einen Händler, der in unregelmäßigen Abständen durch das Dorf kam. Er war ein fröhlicher Mann, klein und dicklich, dem man nicht zutraute, daß er die Strapazen des Händlerlebens auf sich nahm; er selbst jedoch genoß es und verstand es, sich dort Erleichterungen zu verschaffen, wo es ihm möglich war. So trug er stets einen dicken Pilgermantel, der ihm die Hitze und die Kälte gleichermaßen vom Leib zu halten vermochte, eine lederne Haube, über die sich ein flacher Kranz aus geflochtenem Stroh gegen die Sonne stülpen ließ, weiche, herrlich eingefettete Stiefel aus Kalbsleder, die seine Füße auf jedem seiner Schritte geradezu umschmeichelten, und einen Ziegenlederschlauch mit Wein, aus dem er sich bediente, wenn ihm die Reise zu einsam wurde. Die Dorfbewohner hatten sich an ihn gewöhnt und pflegten ihm auf seinen Wegen zur und von der Stadt einen zusätzlichen Verdienst zu bescheren. Der Händler war nicht dumm; er verlangte anständige Preise und hatte anständige Ware dafür zu bieten, und da er wußte, wie selten die Bauern Geld in die Hand bekamen, war er im Gegensatz zu den meisten seiner Zunftgenossen auch nicht abgeneigt, Speckschwarten oder Brot als Bezahlung zu nehmen. Er hatte wache Augen und erkannte während seines Aufenthalts auf dem Hinweg zur Stadt, was die Dörfler benötigten und was er folglich auf dem Rückweg feilbieten müßte. Was ihn jedoch in den Augen der Dörfler am unentbehrlichsten machte, war sein unerschöpflicher Vorrat an Neuigkeiten: aus der Stadt, aus den benachbarten Grafschaften, aus den Herzogtümern. Er ging freizügig mit seinen Geschichten um und erzählte sie mit lauter Stimme, während er mitten auf der Straße seine Waren feilbot, die ein Esel in zwei Tragkörben durch die Welt schleppte. Wenn es zuwenig Neuigkeiten gab, begann er wieder von vorne zu erzählen, wenn er am Ende angelangt war, und wenn es überhaupt keine Neuigkeiten gab, erfand er welche. Die Bauern nahmen die Wiederholungen wie die Erfindungen mit der gleichen ruhigen Neugier hin, mit dem Bewußtsein, daß ohnehin nichts von Belang war, das sich außerhalb ihres Dorfes abspielte. Er war ein verläßlicher Bote und Transporteur von Nachrichten wie Gütern gleichermaßen, ein Mann mit seinem Esel, der in kurzer Zeit zu einem festen Bestandteil des dörflichen Lebens geworden war, obwohl niemand auch nur seinen Namen kannte. Ein Abgesandter und Dämon des Satans, der das Gift der Ketzerei in die Ohren der Unschuldigen streute, wenn es nach dem neuen Priester ging.

Agnes konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es gekommen war, daß sie vollkommen allein auf den Händler gestoßen war. Es mochte sein, daß sie vom Feld ins Dorf zurückgelaufen war, um Wasser aus dem Brunnen zu holen, oder es hatte sich jemand verletzt, und sie suchte nach den passenden Kräutern hinter ihrem Haus: Wie es auch immer war, sie lief ins Dorf und sah den Händler mit seinem Esel unschlüssig im Dorf stehen und sich am Kopfe kratzen.

»Du bist zu spät«, keuchte sie und blieb vor ihm stehen. »Es sind alle auf dem Feld. Du mußt bis zum Abend warten.«

»Ich kann nicht warten«, erwiderte der Händler. »Mein Esel ist lahm, deshalb bin ich erst jetzt eingetroffen. Ich muß jedoch schnell in die Stadt weiter; morgen beginnt dort der erste große Markt des Jahres, und ich muß mir beim Rat die Erlaubnis holen zu verkaufen.«

»Bleib doch, bis alle vom Feld zurückkommen. Wir haben schon auf dich gewartet.«

Der Händler schüttelte den Kopf und lächelte.

»Ich muß mich beeilen. Ich komme wieder vorbei, wenn der Markt zu Ende ist. Außerdem habe ich etwas gesehen, was ich unbedingt dem Stadtrat erzählen muß; wenn er davon erfährt, gibt er mir die Erlaubnis vielleicht etwas billiger, und ich möchte vermeiden, daß mir jemand zuvorkommt.«

»Was ist es denn so Wichtiges, das du gesehen hast?« fragte Agnes.

Der Händler trat einen Schritt auf sie zu, sah sich unwillkürlich um und raunte dann: »Von euch kommt ohnehin niemand in die Stadt, also kann ich es dir ja erzählen. Es ziehen Geißler durchs Land.«

»Was sind Geißler?«

Der Händler stutzte nur einen Moment über Agnes’ Frage. »Fromme Leute, die sich öffentlich peitschen, um die Leiden des Herrn an sich selbst zu erfahren.«

»Warum tun sie das?«

Die Augen des Händlers blitzten auf.

»Sie sagen, das Ende der Zeiten sei gekommen. Sie kündigen die Wiederkehr des Herrn an. Das Jüngste Gericht; den Untergang der Welt.«

»Wenn die Welt untergeht, warum hast du es da noch eilig, zur Stadt zu kommen?« fragte Agnes unbeeindruckt. Der Händler warf beide Arme in die Höhe und machte ein begeistertes Gesicht.

»Weil es in der Stadt immer ein paar Verrückte gibt, die solche Geschichten glauben und ihr gesamtes Hab und Gut verkaufen, um in einem Kloster Buße zu tun. So billig wie von diesen Unglücklichen kann man nie mehr etwas erstehen. Was meinst du, in welchen Massen die Leute an die Klosterpforten hämmern werden, wenn ihnen die ehrwürdigen Geißler erklären, daß das Ende der Welt bevorsteht? Deshalb drängt es mich, zur Stadt zu kommen. Wenn ich der erste bin, der die Nachricht verbreitet, habe ich die besten Kaufaussichten.«

Der Händler zog weiter, und Agnes erledigte, was immer sie in das Dorf zurückgeführt hatte. Doch die Geschichte von den frommen Männern, die sich die Rücken blutig schlugen, um auf das Leiden Christi und seine baldige Wiederkehr hinzuweisen, und der nahende Untergang der Welt beschäftigten ihre Gedanken den ganzen Tag über. Sie beschäftigten sie in solchem Maß, daß sie in der Nacht, während sie die Geräusche der Schweine hinter der Holzwand hörte und den ruhigen Atem ihrer Kinder, zu ihrem Mann sagte: »Ich habe heute den Händler getroffen. Er sagt, daß Männer umherziehen, die sich geißeln wie unser Erlöser und das Ende der Welt voraussagen.« »Was?« brummte der Mann unwirsch, der schon halb in den Dämmerschlaf der Erschöpfung gesunken war und erschrocken daraus emporfuhr.

»Die Welt geht unter. Der Herr kehrt zurück, um über die Menschen zu richten.«

»Unsinn, Weib. Wir haben gerade die Saat ausgebracht, und das Getreide fängt zu sprießen an. Wie sollte die Welt untergehen, wenn alles noch so wunderbar wächst? Glaubst du, Gott läßt alles neu erstehen, wenn er doch nur alles beenden will?«

»Ich weiß nicht, Mann. Es soll ja noch nicht gleich geschehen; vielleicht erst im Winter oder im nächsten Jahr. Der Händler hat es nicht so genau gesagt.«

»Was für ein Blödsinn. Schlaf jetzt, ich habe den ganzen Tag gearbeitet und bin müde.«

»Aber es geht um unser Seelenheil«, protestierte Agnes. »Willst du, daß wir oder unsere Kinder in die Hölle verbannt werden? Vielleicht sollten wir dem Priester das Geld geben, das wir gespart haben, damit er für uns beten läßt?« Agnes’ Mann fuhr so vehement in die Höhe, daß die Kinder im Schlaf zuckten und selbst die Schweine erschrocken quiekten.

»Komm ja nicht noch mal auf so einen Gedanken!« rief er. »Wenn du schon nicht damit aufhören kannst, dann sprich von mir aus mit den Weibern im Dorf darüber oder mit dem Pfaffen; aber wenn du ihm etwas von dem Geld sagst, schlag’ ich dich grün und blau.«

»Ich sag’ schon nichts«, murmelte Agnes, ohne der Drohung viel Gewicht beizumessen. Ihre Gedanken waren bereits wieder bei den Menschen, die durch das Land zogen und sich zur Ehre des Herrn und seiner Wiederkehr blutig schlugen. Zuletzt schlummerte sie ein mit dem beruhigenden Vorsatz, den Priester zu fragen. Er würde ihr erklären, was es mit all diesen Dingen auf sich hatte. Er würde Agnes mit offenen Armen empfangen und dem Dorf erklären, daß er stolz auf sie sei, weil sie sich mit solch frommen Dingen beschäftige. Sie lächelte im Einschlafen; sie freute sich darauf.

Es stellte sich heraus, daß der Priester sich nicht freute.

Er hörte sich ihre Geschichte an, während er immer blasser und sein Mund ein weißer Strich in seinem Gesicht wurde. Zuletzt sprang er auf und streckte einen Finger gegen Agnes aus und zischte erstickt: »Schweig, Weib. Deine Rede ist Häresie.«

Und ehe sie verstand, was geschehen war, stürmte er aus der kleinen Hütte neben der Kapelle, die er sein Zuhause nannte, rannte zur Kapellentür, nahm einen Stock auf und schlug mit aller Kraft dagegen. Die Dörfler strömten erschrocken zusammen, und Agnes wurde vom Priester am Arm aus seinem Haus gezerrt und vor die versammelten Bauern gestoßen.

»Dieses Weib spricht mit der Zunge der Ketzer!« schrie der Priester. »Wir haben eine Abgesandte Satans zwischen uns; eine Dienerin Luzifers.«

Agnes nahm das finstere Gesicht ihres Mannes zwischen den anderen Dörflern wahr. Während sich die restlichen einander zuwandten und erregte Laute von sich gaben, verschlossen sich seine Züge. Er schwieg, während einer der Männer fragte: »Wer sagt das?«

»Sie selbst sagt es«, rief der Priester und richtete sich auf. »Mit ihrem eigenen Mund hat sie mir erklärt, daß demnächst die Welt untergehen wird!«

Die Dörfler sahen sich an. Agnes’ Mann schüttelte den Kopf und ließ die Schultern hängen.

»Ich sage, ihr gehört der Prozeß gemacht!« geiferte der Priester.

»Wir müssen aufs Feld, Vater«, widersprach einer der Männer.

»Wenn ihr die Überführung eines Ketzers behindert, behindert ihr die Rechtsprechung der Kirche«, donnerte der Priester. »Und ihr macht euch verdächtig, mit ihr unter einer Decke zu stecken.«

Die Dörfler bewegten sich unruhig und wichen dem Blick des Priesters aus. Er starrte sie mit brennenden Augen an; als niemand einen weiteren Einwand hatte, sagte er leise: »Nun?«

»Wir müssen dem Herrn Bescheid geben«, seufzte der Dorfälteste. »Er muß Recht sprechen.« »Der Herr ist zu beschäftigt«, entgegnete der Priester. »Er wird sich nicht darum kümmern können.«

»Wir müssen auf ihn warten«, rief der Älteste. »Er ist unser Richter. Wenn wir uns seine Hoheit anmaßen, wird er uns bestrafen.«

»Ich werde es ihm erklären«, beruhigte ihn der Priester. »Er wird verstehen, daß es sich um einen Notfall handelt.« Die Männer sahen ihn zweifelnd an.

»Wer ist wessen Diener?« fuhr der Priester auf. »Haben die Heiligen Väter nicht gesagt, daß selbst die Kaiser und Könige das Knie vor der Kirche zu beugen haben? Wie wird es da wohl mit den Grafen und Rittern sein?«

Die Männer zuckten zurück, und der Priester erkannte, daß er ihre Angst und ihre Loyalität zu ihrem Herrn nicht überfordern durfte.

»Wir werden das Dorfgericht abhalten«, sagte er daher nur. »Während ihr euch bereit macht, werde ich eine Nachricht an den Herrn schreiben und ihm dies mitteilen. Derjenige von euch, der am schnellsten laufen kann, soll sie ihm überbringen. Wenn er nicht mit meiner Entscheidung einverstanden ist, kann er selbst hierherkommen und seinen Spruch fällen.«

»Wenn Ihr meint«, brummte der Dorfälteste.

Die Felder und die Saat würden heute warten müssen. Als die Männer damit begannen, Bänke vor der Kapelle aufzustellen, auf denen sich die Ältesten zum Dorfgericht setzen konnten, machte niemand mehr Anstalten, zur Arbeit zu gehen. Männer, Frauen und Kinder drückten sich in der Nähe der Kapelle herum, um den Arbeiten zuzusehen, vor allem aber, um Agnes zu betrachten.

Ihr plötzliches Schicksal, von den meisten ebensowenig verstanden wie von ihr selbst, machte sie interessant, wie ein seltsames Tier oder eher wie eine Mißgeburt, die auf dem Markt ausgestellt wurde. Die ersten Finger deuteten auf sie, die Frauen tuschelten erregt untereinander und mit ihren Männern, und die Mienen der Zuschauer wurden mit jeder Minute verschlossener.

Die ersten spuckten vor ihr aus, und als ein paar Frauen den ersten und den letzten Finger der rechten Hand abspreizten und gegen sie richteten, begann ihr Herz voller Angst zu schlagen. Sie reckte sich und suchte wild nach dem Gesicht ihres Mannes und ihren Kindern in den Umstehenden, aber sie konnte sie nicht erblicken. Sie wußte nicht, daß ihr Mann aufs Feld gegangen war und dort den Boden wie ein Berserker mit der Hacke bearbeitete, voller glühendem Zorn gegen sie, weil sie sich mit ihrer Unbedachtheit in eine Situation gebracht hatte, die er zuletzt würde ausbaden müssen: mehr Arbeit, mehr Ärger mit den Kindern, nichts Warmes zu essen und niemand, der ihn in der kalten Nacht wärmte.

Eine Stunde nachdem Agnes an die Tür des Priesters geklopft hatte, saß das Dorfgericht über das Schicksal der Bäuerin Agnes. Die Angeklagte kniete auf dem Boden vor den Ältesten, während der Priester zwischen ihnen auf und ab schritt. Das Publikum saß in einigen Schritten Abstand auf der Straße: das gesamte Dorf, abzüglich der Kinder, die irgendwo unter der Obhut einer alten Frau in einem Haus eingeschlossen waren, und abzüglich Agnes’ Familie. Wenn sie von jemandem vermißt wurde, machte er oder sie keine Bemerkung dazu.

Der Älteste räusperte sich und sagte unsicher: »Agnes, dir wird vorgeworfen, daß du ketzerische Reden führst und die Zukunft vorausdeutest. Willst du dich dazu äußern?«

»Ich habe nur weitergesagt, was der Händler erzählt hat«, stieß Agnes hervor.

»Daran kann ich eigentlich nichts Verwerfliches erkennen«, erklärte der Älteste in einem lahmen Versuch, die Verhandlung rasch zu beenden.

»Der Händler«, sagte der Priester rasch und fühlte sich wie ein Fechter, der seinen ersten Streich austeilt. Er hatte die kühnen Kreuzfahrer immer bewundert, die sich mannhaft gegen die heidnischen Riesen im Heiligen Land behauptet hatten: Klinge gegen Klinge, ein rascher Ausfall, das erste Blut – Bewegungen, die er mit seinem Bruder zusammen gelernt hatte, bis sie alt genug waren, um für ihr Schicksal vorbereitet zu werden. Sein nur um ein Jahr älterer Bruder war auf die Ritterfahrt gegangen, um später das Erbe des Vaters zu übernehmen. Für ihn war das Kloster geblieben. »Ist der Händler etwa jener Mann, der wie durch ein Wunder immer dann im Dorf auftaucht, wenn ihr etwas benötigt, der immer das mit sich führt, was ihr gerade für eure Arbeit braucht, und der in Begleitung eines Esels ist, aus dessen Taschen all das kommt, was ihr euch wünscht?« Er drehte sich um und wandte sich an das Publikum, und die Männer und Frauen nickten. Selbst Agnes nickte verwirrt.

»Und haltet ihr es für normal, daß jener Mann und sein Tier immer genau wissen, was ihr braucht?«

Darüber hatte noch niemand nachgedacht. Als sie es jetzt taten, erschien es ihnen in der Tat merkwürdig. Es war praktisch, aber wenn man es aus der Nähe betrachtete ... Der Priester wußte um die Gedankengänge seiner Herde. Er beobachtete die Männer, die das Dorfgericht bildeten, scharf, und es dauerte nicht lange, bis einer von ihnen rief: »Woher weiß er jedesmal, was er mitbringen muß?« Das Gemurmel der Zuschauer zeigte, daß auch diese darüber nachgedacht hatten.

»Ja, woher weiß er es?« rief der Priester. »Woher, wenn er nicht eure Gedanken liest und dem Geflüster lauscht, das ihm die Wiesel außerhalb des Dorfes hinterbreiten? Woher, wenn er nicht ein Zauberer und ein Satansdiener ist?«

»Ein Zauberer!« Die Ältesten riefen erregt durcheinander. Unter den Zuschauern sprangen ein paar auf und zischten. Als die ersten sich bekreuzigten, rief der Priester triumphierend: »Und wie nennt man jene, die die bösen Einflüsterungen der Zauberer weiterverbreiten? Wie nennt man jene, die sich den Gesetzen der Kirche widersetzen, die die Gesetze unseres Herrn Jesus Christus sind; wie nennt man jene, die sich gegen die Religion und damit gegen Gott vergehen?«

»Das sind Ketzer!« riefen Richter und Zuschauer im Chor. »Jawohl!« schrie der Priester und drehte sich zu Agnes um und deutete mit theatralisch ausgestreckter Hand auf sie. »Ketzerin! Ketzerin!«

»Ich wollte Euch doch nur fragen, was ich tun soll!« schrie Agnes in höchster Not. »Ich habe nichts Böses getan!«

»Sie leugnet. Braucht es noch eines stärkeren Beweises als ihre Halsstarrigkeit, daß sie ganz und gar verloren ist? Ihr habt eine Schlange an eurem Busen genährt; ihr solltet Gott danken, daß er mich zu euch gesandt hat, um die üble Saat auszureißen.«

Der Dorf alteste schüttelte den Kopf und machte ein finsteres Gesicht. Als er Agnes ansah, war die Unsicherheit aus seinem Blick verschwunden.

»Schickt einen Boten in die Stadt!« krächzte er. »Er soll die Büttel holen, damit sie verhaftet wird.«

»Nein«, sagte der Priester, »habt ihr nicht gehört, daß sie gerade geleugnet hat? Sie darf nur abgeführt werden, wenn ihre Schuld erwiesen ist; und wenn auch ihr und ich es alle wissen, so muß es doch vor dem Gesetz bewiesen werden. Es braucht zwei Zeugen, die ihre Schuld beurkunden können. Ich selbst kann nicht als Zeuge auftreten, da ich der Ankläger sein werde. Sonst hat aber niemand ihre Rede gehört.«

»Was sollen wir tun?«

»Es gibt eine Möglichkeit«, sagte der Priester schlau. »Der heilige Bernhard hat sie uns aufgezeigt, und ein Konzil hat sie als rechtmäßig erklärt. Wir werden den Herrn selbst urteilen lassen.«

»Ein Gottesurteil.« Den Dörflern liefen Schauer über den Rücken. Zu denken, daß der Herr selbst in ihre Mitte herabsteigen würde, um über die Schuld ihrer Nachbarin Agnes zu richten.

Der Älteste machte ein zweifelndes Gesicht. Er war schon ein- oder zweimal in seinem Leben in der Stadt gewesen und hatte daher einen weiteren Horizont als die anderen. Er hatte Dinge gehört und sich gemerkt.

»Unser höchster Herr, der allergnädigste Herr Kaiser, hat Gottesurteile verboten«, sagte er zaghaft.

»Ha!« schrie der Priester und sprang geradezu auf und ab vor Zorn. »Weil er selbst ein Ketzer ist, darum! Er steht unter dem Kirchenbann. Er ist nicht euer höchster Herr; er ist nur ein Satansdiener. Euer höchster Herr ist die Kirche, und die Kirche sagt: Gott soll richten!«

»Ja, sie soll dem Gottesgericht übergeben werden!« schrien die Dörfler.

»Stellt einen Pflock in der Mitte der Straße auf!« rief der Priester.

»Laßt sie uns dort anketten und drei Tage und drei Nächte am Pflock stehen lassen. Niemand darf sich ihr nähern außer meiner Person, und niemand darf ihr zu essen geben; Wasser wird sie zweimal am Tag von mir erhalten. Und damit ihre ketzerischen Reden nicht das Dorf vergiften, werden wir ihre Zunge fesseln! Wenn der Herr sie nach diesen drei Tagen und drei Nächten am Leben läßt, dann soll sie ungeschoren das Dorf verlassen und niemals wieder hierher zurückkommen.«

»So sei es«, sagte der Dorfälteste.

»Tochter Satans«, sagte der Priester zu Agnes, die mit entsetzten Augen den Reden zugehört hatte und sich nun dem Priester zuwandte, wie ein Hase sich dem Wolf stellt, »du wirst den restlichen Tag in deinem Haus verbringen. Weder dein Mann noch deine Kinder dürfen zu dir sprechen. Zwei Männer werden vor dem Haus Wache halten, damit der Teufel dich nicht holen kann, und ich werde ein Kreuz auf die Tür zeichnen, damit alle Dämonen abgeschreckt werden, dir zu Hilfe zu eilen. Heute bei Sonnenuntergang wird das Gottesurteil beginnen.«

Die Richter nickten und machten Anstalten aufzustehen. Einer jedoch fragte nachdenklich: »Und was ist, wenn sie recht hat? Wenn die Welt wirklich untergeht?«

Der Priester ballte die Fäuste, aber dann sagte er ruhig: »Glaubt ihr, wenn die Wiederkunft des Herrn bevorstünde, daß die Heilige Kirche euch nicht an der Hand nehmen und in die ewige Seligkeit führen würde? Glaubt ihr, sie ließe euch allein, ohne Gelegenheit, eure Sünden zu bereuen, bevor der Herr sein Gericht beginnt? Glaubt ihr vielleicht, die Kirche würde es euch nicht sagen, wenn dieser Tag kommt? Oder glaubt ihr gar, sie weiß es nicht?« Die Altesten schüttelten betreten die Köpfe und traten auseinander, ohne noch einmal zu widersprechen; der Ring der Zuschauer löste sich mit ihnen auf. Agnes ging in Begleitung der Männer, die als Wache ausersehen waren, zurück zu ihrem Haus. Wenn der Wirbel, der in ihrem Kopf kreiste und jeden klaren Gedanken verhinderte, schwächer gewesen wäre, hätte sie den Abstand bemerkt, den die beiden zu ihr hielten: Sie hatten sie in ihrer Mitte, aber sie waren auf mehr als Armeslänge von ihr entfernt, als hätten sie Angst, ihre Schande könne sie anstecken. Gestern hatten sie noch gemeinsam auf den Feldern gearbeitet.

Der Priester schritt auf den Mann zu, der zuweilen Schmiedearbeiten ausführte, und erklärte ihm, wie er die Fessel für Agnes’ Zunge anfertigen müsse.

Es dauerte eine Weile, bis der Gelegenheitsschmied den eisernen Knebel fertig hatte; seine Erfahrung darin, Instrumente zu schmieden, die zum Schaden der Menschen eingesetzt werden können, war gleich Null, und trotz der eingehenden Beschreibung des Priesters bedurfte es mehrerer Anfänge. Mit seinem Ergebnis war er nun einigermaßen zufrieden. Seine Verdrossenheit darüber, daß für den Knebel der größte Teil der mühsam gesammelten Eisenvorräte verbraucht wurde, legte sich allerdings nicht. In der Zwischenzeit, ungesehen vom Schmied, ungesehen von den Dörflern, die nach dem Ende des Prozesses doch noch auf die Felder ausgeschwärmt waren, und natürlich ungesehen von Agnes, die in ihrem Haus hockte, zu betäubt, um auch nur weinen zu können, suchte Kaplan Thomas das Dorf auf. Der Priester, der ihn nicht nur für einen Bruder im Glauben, sondern auch im Geiste hielt, unterbreitete ihm das Geschehnis und erläuterte ihm den Sinn des frisch in die Erde geschlagenen Pflocks am Straßenrand. Der Kaplan machte sich daraufhin wieder auf den langen Rückweg, um seinem Herrn zu berichten und diesen dazu zu bewegen, etwas für die seines Erachtens nach vollkommen unschuldige Bäuerin zu tun – wie sich herausstellen sollte, nicht mit dem gewünschten Ergebnis. Gegen Abend versammelten sich die Dörfler um Agnes’ Haus; früher als sonst waren sie von den Feldern zurückgekehrt, mit dem sicheren Instinkt, der auch eine Schar von Raben rechtzeitig an die Stelle führt, an der ein Kalb stirbt. Diesmal war Agnes’ Mann unter ihnen; aber Agnes sah ihn nicht, als sie aus dem Haus geführt und zu dem Pflock geleitet wurde, der nicht allzuweit entfernt aus dem Boden ragte. Der Dorfälteste fesselte ihre Hände mit einem starken Lederband und befestigte dieses wiederum mit einer kurzen Kette an einem Ring, der in den Pflock getrieben worden war. Die Kette war lang genug, daß Agnes sich mit dem Rücken gegen den Pflock setzen konnte; zum Liegen reichte sie nicht.

Nachdem dies getan war, ließ der Priester den Knebel bringen. Auf den ersten Blick sah er aus wie der plumpe Entwurf zu einer Kaiserkrone. Ein rundgebogenes Metallband trug einen hohen Bügel, der an zwei gegenüberliegenden Seiten an dem Band befestigt war. Der eine Trick des Knebels waren die Scharniere, die es erlaubten, den Bügel und das Band so zu öffnen, daß der Knebel eng an den Kopf angepaßt werden konnte. Der zweite Trick war die Klammer, die in das Rund des Metallbandes hineinragte. Da niemand wußte, wie der Knebel zu bedienen war, blieb es dem Schmied vorbehalten, ihn Agnes aufzusetzen. Er öffnete die Verschlüsse, preßte Agnes die Kinnbacken zusammen, bis sie den Mund auftat, und schob dann die Spange hinein, an deren Ende die Klammer saß. Danach griff er durch die Spange, packte ihre Zunge und zog sie durch die ringförmige Öffnung der Klammern, rammte die Spange weiter nach hinten, so daß Agnes ihre Zunge nicht mehr herausziehen konnte, und während ihr Tränen des Schmerzes aus den Augen und ein dünner Blutfaden von dem durchtrennten Zungenbändchen aus dem Mund lief (von dem sich der Priester mit einem gemurmelten Gebet abwandte – die Kirche scheut das Blut), drehte der Schmied die Zwinge zusammen, die ihre Zunge in den eisernen Griff der Klammer nahm und nicht mehr losließ. Zuletzt schloß er die Rückseite des Metallbands um ihren Hinterkopf, zog den Bügel über ihren Scheitel und befestigte ihn am Verschluß des Metallbands.

Der Priester forderte die Dorfgemeinde auf niederzuknien und beschwor Gottes Gnade auf die arme Sünderin herab und betete darum, daß ihr Leib vernichtet und ihre Seele befreit werden möge, wenn sie sich der ihr zur Last gelegten Verbrechen schuldig gemacht habe. Wenn nicht, Herr, dann verzeih uns unseren Eifer, mit dem wir Dir gedient haben und mit dem wir einer Unschuldigen Schmerz zugefügt haben, und zeige uns Deine Gnade und Deine Allmacht daran, wie Du sie am Leben lassest. Amen.

Danach begann Agnes’ Nacht am Schandpflock.

Ein Mensch erträgt nur so und soviel Schrecken, dann stumpft sein Bewußtsein ab. Wenn das geschieht, wird der Geist wieder aufnahmefähig für die anderen Wahrnehmungen, die der Körper macht, bis der Schrecken eine höhere Dimension erreicht. In Agnes’ Fall war dieses Zwischenspiel, diese Atempause zwischen dem einen Schrecken und dem folgenden, hauptsächlich eine Wahrnehmung von Kälte und Schmerz. Nach einer Weile trat die Angst vor den Kreaturen der Nacht, die um sie herumschlichen, in den Hintergrund. Keines der Wesen kam nahe genug an sie heran, daß sie tatsächlich in Gefahr gewesen wäre, und keines der Wesen war etwas anderes als ein Tier, das sie am Tage furchtlos mit der Spitzhacke erschlagen hätte. Aber es war nicht die Feststellung, daß die Kreaturen ihr nichts zuleide taten, die ihre Angst abklingen ließ, denn sie rechnete ständig damit, daß sie jeden Moment über sie herfallen und ihr das Fleisch in Fetzen aus dem Körper reißen würden; es war die Tatsache, daß die Angst so lange auf dieser Stufe verharrte, bis Agnes’ Geist sich auf eine andere Wahrnehmung zu konzentrieren begann.

Es war kühl in der Nacht im Freien, und Agnes’ Kittel war vor Furcht naßgeschwitzt. Sie begann zu frösteln, dann zu frieren. Sie konnte sich am Fuß des Pflocks zusammenkauern und die Beine an den Körper ziehen, aber die Kette erlaubte ihr nicht, die Arme vor den Oberkörper zu pressen, und so gelang es ihr nicht, sich selbst zu wärmen. Sie war Kälte gewöhnt: das Arbeiten bei Regen und Schnee auf den Feldern, in nichts als den Kittel gehüllt oder ein umgedrehtes Schaffell, wenn das Wetter unerträglich war, barfuß in Schneepfützen stehend und die kalte Erde mit bloßen Händen aufbrechend. Aber auf dem Feld konnte sie sich bewegen, mußte sie sich bewegen, und wenn die Kälte auch biß, konnte sie sich doch durch das kreisende warme Blut in ihren Adern davor schützen. Am Pflock schien ihr Blut nicht zu kreisen, und die Kälte fraß sich in ihre Knochen. Ihre Füße waren als erstes taub. Den Füßen folgten die gefesselten Hände. Zuletzt schien ihr gesamter Körper zu erstarren, bis die Kälte so groß war, daß sie Schmerz bereitete und ihr auch die kleinen Schlafpausen unmöglich machte.

Sie saß gegen den Pflock gelehnt und starrte blind in die Finsternis. Sie hatte aufgehört zu weinen; sie brauchte ihre Kraft nötiger, als sie in Tränen zu vergeuden.

Es gab nur eine heiße Stelle an ihrem Leib: im Inneren ihres Mundes, wo die Klammer ihren Gaumen und ihre Zunge wundscheuerte. Die Klammer war nicht so fest, daß ihre Zunge tatsächlich eingeklemmt gewesen wäre; dazu war der Muskel zu beweglich. Aber sie war weit genug nach hinten geschoben, so daß sie die Zunge nicht daraus befreien konnte. So lange sie genügend Speichel hergestellt hatte, war die Wunde nicht so schlimm gewesen. Ihr Mund bildete von allein eine feuchte Schutzschicht zwischen der empfindlichen Haut und den groben Metallteilen, und der Speichel beruhigte die Stellen, die aufgerissen worden waren, als der Schmied den Knebel angebracht hatte. Aber die Spange, an der die Klammer saß, ragte von außen in ihren Mund hinein, und sie konnte die Lippen nicht schließen. Früh in der Nacht war ihre Mundhöhle bereits vollkommen ausgetrocknet, während der Speichel, der in ihren Wangentaschen hergestellt wurde, völlig nutzlos aus ihren Mundwinkeln tropfte. Fast am unerträglichsten aber war der Schmerz in ihrem Nacken, der von der unnatürlich aufrechten Haltung hervorgerufen wurde, in welche der Knebel ihren Kopf zwang. Das Ziehen wanderte ihren Nacken hinunter in die Schultern, die stachen, als würde jemand mit einer stumpfen Nadel in ihnen bohren, zwischen ihre Schulterblätter, bis ihr gesamter Rücken so sehr spannte, daß selbst das Atmen schmerzhaft war. Mit fortlaufender Nacht sandte der Schmerz Fühler in ihren Kopf selbst hinauf, bis sich zwei Nester an der Stelle gebildet hatten, wo der Nacken in den Kopf überging und dort dröhnend pochten; die Kopfschmerzen ließen ihre Augen noch mehr zuschwellen, als ihre Tränen es bereits getan hatten.

Kälte und Schmerz brachten den Morgen heran, der sich mit einem fahlen Band am östlichen Himmel ankündigte und die Geräusche der Nacht durch das Singen der Vögel ablöste. Agnes zitterte jetzt unablässig in ihrem feuchten Kittel. Das Kommen des Morgens mit seinem Hauch noch stärkerer Kälte, aber auch seinem Versprechen eines neuen Anfangs löste eine plötzliche Gefühlswallung in Agnes aus. Sie wußte, daß ihr noch zwei weitere Nächte und drei ganze Tage bevorstanden. Verzweifelt wünschte sie sich, daß sie sterben könnte. Sie erinnerte sich nicht mehr daran, daß der Priester Gott bereits angerufen hatte, sie zu vernichten. Sie war noch nicht nahe genug an die wirkliche Todesangst herangekommen, als daß sie vor diesem Gedanken zurückgezuckt wäre, und sie hatte sich nicht klargemacht, daß der Tod das Ende ihrer Existenz bedeutete. Im Moment sehnte sie sich ausschließlich nach dem Ende ihres Martyriums.

Die Menschen im Dorf erwachten, verließen ihre Häuser und gingen auf die Felder, um dort ihrer Arbeit nachzugehen. Sie schlichen um sie herum, scheue Seitenblicke werfend. Sie dachten nicht weit genug, um sich darüber zu wundern, daß Gott, wenn er die Absicht gehabt hätte, Agnes zu töten (und damit ihre Schuld zu beweisen), gezögert hatte, sie bereits in der ersten Nacht zu vernichten; wie sie auch nicht darüber nachdachten, warum es überhaupt nötig war, Agnes unter freiem Himmel anzupflocken und ihr die Maske aufzusetzen. Sie hatten gelernt, daß Gott alles sieht und alles weiß und jederzeit in das Leben der Menschen eingreifen kann, wenn Ihn daran etwas stört, aber ihr Geist war nicht frei genug, sich Gedanken zu machen, weshalb Gott dann nicht Agnes einfach ohne großes Aufhebens vernichtet hatte, als Er ihrer Häresie ansichtig wurde. Daß es geschehen würde, darüber bestand in keinem der Dörfler, der an Agnes vorüber zur Feldarbeit ging, der geringste Zweifel. Es mochte Heilige geben, die ein Gottesurteil überstanden und damit ihre Unschuld bewiesen hatten – aber bei Heiligen geschah der Weg durch das Leid, damit Gott sie vor den Augen der Menschen erhöhte. Agnes war keine Heilige, demzufolge mußte sie nicht erhöht werden, und demzufolge würde sie auch das Gottesgericht nicht überstehen. Gewöhnliche Menschen waren entweder unschuldig, dann wurden sie nicht erst verurteilt, oder schuldig, und dann überlebten sie Gottes Strafgericht nicht. Im Bewußtsein all dessen hatten sie gut geschlafen.

Agnes folgte dem Gehen der Menschen stieren Blicks. Der Steinwurf traf sie, ohne sie wirklich zu schmerzen. Das nächste Gefühl erwachte erst, als sie den Priester mit einem hölzernen Eimer auf sich zukommen sah. Sie erinnerte sich an seine Anweisungen, wer mit ihr Umgang pflegen durfte, und erinnerte sich daran, zu welchen Anlässen der Priester dies tun würde. Schlagartig erwachte in ihr ein überwältigender, schmerzhafter, brennender Durst; oder besser: Das Gespür für diesen Durst erwachte, denn der Durst selbst war schon die halbe Nacht dagewesen, ohne daß sie sich seiner bewußt geworden wäre. Wie mit der Angst kann der Geist des Menschen auch nur eine bestimmte Dimension von Schmerzen verarbeiten, und wenn diese Grenze überschritten ist, selektiert die Wahrnehmung bestimmte Dinge aus. Vielleicht selektiert sie die schlimmsten Dinge aus; vielleicht liegt darin eine Art Gnade. Für Agnes jedenfalls war es eine Gnade, daß sie den Durst nicht verspürt hatte: Denn was sie jetzt verspürte, war ein so entsetzlicher, grausamer Bedarf an Tränkung, daß es scheinbar endlos dauerte, bis der Priester sich ihr auch nur genähert hatte. Sie krächzte und fügte dem Feuer des Durstes das Feuer des Schmerzes in ihrem Mund hinzu. Sie versuchte sich aufzurappeln, um schneller an das Wasser zu kommen, das in dem hölzernen Eimer schwappte. Wäre der Priester sich der blinden Not bewußt gewesen, die von ihr Besitz ergriffen hatte, wäre es ihm ein einfaches gewesen, ihren Untergang zu beschleunigen. Er hätte das Wasser nur vor ihr auf den Boden zu gießen brauchen; vermutlich wäre sie von diesem Anblick verrückt geworden. Agnes schaffte es nur, sich aufrecht auf den Boden zu knien; sie streckte die Hände aus, bis sie von der Kette zurückgehalten wurden, und wimmerte dem hölzernen Eimer entgegen.

Der Priester verzog bei ihrem Anblick das Gesicht. Er trat näher heran, überzeugt, daß der üble Geruch der Hölle und eines geschundenen menschlichen Leibs von ihr ausdünsten würde, zusammen mit den Exkrementen, in denen sie sich gewälzt hatte. Er war erstaunt, daß er nichts dergleichen wahrnahm; alles, was er roch, war der schwache saure Geruch der Panik, der sich die Nacht über in ihre Haut, ihr Haar und ihren Kittel eingeschwitzt hatte. Einige Worte kamen ihm in den Sinn, die er an sie hätte richten können, aber er schwieg. Er sah auf sie hinunter, auf die halbgeschlossenen, geschwollenen Augen, das verkrustete Gesicht und das getrocknete Blut und sah mit Grausen, daß sich ein zäher Speichelfaden von ihrem Kinn zu ihrem Schlüsselbein hinabzog. Mein Werk, dachte er mit unbestimmtem Schuldbewußtsein. Mein Werk. Sie stöhnte und reckte die Hände flehentlich nach ihm aus.

»Heb den Kopf, Ketzerin«, herrschte er sie voller Ekel an, und das schlechte Gewissen, das sich in ihm gemeldet hatte, verlieh seinen Worten noch eine gesonderte Portion Grobheit. Agnes legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund so weit, wie ihre aufgerissenen Lippen und ihre verkrampften Kiefer dies erlaubten. Der Priester hob den Eimer. Er wußte, er hätte den Inhalt langsam in ihrem Mund laufen lassen sollen, mit vielen Pausen, damit sie nicht daran erstickte oder sich erbrach, aber plötzlich hielt er den Anblick des Leids nicht mehr aus. Mein Werk, dachte er nochmals, das Werk der Barmherzigkeit und Gottesfurcht. Was hatten die Männer gedacht, die den Heiland an die Römer auslieferten? Es gibt größere Wichtigkeiten als dieses eine Weib, dachte er, größere Bestimmungen und vor allem größeres Geschehen als das Leiden dieses dumpfen, unwichtigen Sandkorns von einem Menschenkind. Aber hatten das die Männer nicht auch gedacht, die den geschundenen Leib des Erlösers an das Kreuz nagelten? Er goß den Eimer mit einem Schwung in Agnes’ Gesicht und lief wie von Furien gehetzt davon; hinter sich hörte er das Keuchen und Gurgeln, mit dem die Ketzerin versuchte, etwas von dem Wasser in dem Mund zu bekommen, damit der grausame Durst gestillt werde.

Die wenige Flüssigkeit, die Agnes in die Mundhöhle gelaufen war, weckte nur den Bedarf nach mehr. In ihren Handflächen, die sie bittend erhoben hatte, war ein kleiner Schluck gefangen; mit aufgerissenen Augen sah sie zu, wie er nutzlos zwischen ihren Fingern versickerte. Schließlich sank sie resigniert in sich zusammen. Sie saß in der Pfütze, die sich um sie herum gebildet hatte, und weinte mit rauhen, trockenen Lauten. Das Weinen hatte etwas Gutes: Es erschöpfte sie so sehr, daß sie zuletzt einschlief, den Schmerzen und dem Durst zum Trotz. Die Sonne schien mittlerweile auf sie herab und hatte die Kälte vertrieben, und so zogen ihr überforderter Geist und ihr zerschundener Körper einander in ihrer verzweifelten Umklammerung hinab, in einen tiefen, traumlosen Schlaf, der eher eine Ohnmacht war und in dem ihr die Gnade zuteil wurde, kein Leid mehr zu verspüren.

Als sie erwachte, benötigte sie einige Minuten, um zu realisieren, wo sie war. Sie hatte keine Idee, wieviel Zeit seit dem Besuch des Priesters vergangen sein mochte. Die Sonne schien von einem Punkt in der Nähe des Zenits. Sie blinzelte hinauf und fühlte den Schwindel, der sie ergriff. Sie war schutzlos in der Sonne gelegen, aber der Schwindel kam nicht von daher: Sie hatte auch schutzlos in der Sonne gearbeitet, und ihr Körper war daran gewöhnt. Der Schwindel, den sie nun verspürte, war leicht, er schien in ihren Eingeweiden statt in ihrem Kopf zu kreisen, und er drehte sich, bis sich ein Zentrum herauszubilden schien. Das Zentrum lag in ihrem Magen. Sie hatte seit ihrer Verurteilung gestern abend nichts gegessen, und den ganzen Tag davor ebensowenig. Der Hunger wühlte in ihr. Bis jetzt hatte sie ihn nicht verspürt; vielleicht hatte ihn der Durst aufgeweckt. Sie beschäftigte sich mit dem Wühlen in ihren Därmen, weil es ein Schmerz war, den sie kannte und den sie zu bekämpfen wußte; es hatte in der Vergangenheit genügend Jahre gegeben, in denen der Winter länger gedauert hatte oder der Herbst früher gekommen war, so daß die Vorräte nicht ausreichten und sie in den letzten Wochen des Winters, bevor die ersten Kräuter und Beeren erschienen, gehungert hatten. Der Hunger war ihr fast willkommen, er war wie ein alter Gefährte, den man in der Fremde trifft, und den man zwar niemals geliebt hat, aber der eine starke Verbindung zu früheren, glücklicheren Zeiten herstellt.

Schließlich tauchte die Gestalt des Priesters auf. Er stand zwischen den Häusern und schien sie von der Ferne zu betrachten. Sie musterte seine Gestalt mit schmerzenden Augen. So wie sie zu Anfang keinen Haß gegen ihn verspürt hatte, so spürte sie auch jetzt keinen; das einzige Gefühl, das sie ihm nach wie vor entgegenbrachte, war eine vage Ehrfurcht. Die Kutte des Priesters schlug im Wind, und sein Skapulier bewegte sich um seine Schultern, als wären dort Flügel, mit denen er schlug, ohne jemals fliegen zu können. Plötzlich drehte er sich um und schritt davon. Agnes wußte, daß die Kapelle mit dem kleinen Haus daneben kurz hinter den nächsten Häusern lag; als der Priester nicht abbog, sondern weiter auf der Straße ausschritt, bis ihn eine Ecke verdeckte, war ihr klar, daß auch er das Dorf verließ.

Eine Weile später wurde ihr bewußt, daß sie vollkommen allein war. Der Wind, der mit heftigen Stößen durch das Dorf fuhr und das trübe Wetter mit sich brachte, das Philipp einen Tag später zu Radolf Vacillarius begleiten sollte, trieb den Straßenstaub vor sich her. Agnes hörte das Prasseln, mit dem die Körnchen gegen die Dächer der Häuser prallten; sie hörte auch das Rascheln der trockenen Strohbüschel, die hier und da um die Ecken gewälzt wurden, und das Wispern der Garben, mit denen die Dächer abgedeckt waren. Sie hörte das laute Schnaufen eines Schweins und das hohe Trällern der Lerchen, die in der Luft über den Feldern auf und ab fuhren. Sie hörte jedoch kein einziges menschliches Geräusch, noch nicht einmal den Gesang von den Feldern. Der Wind mochte ihn schlucken, so daß er ihr Ohr nicht erreichte; sie wußte es nicht. Sie hätte der letzte lebende Mensch auf Erden sein können. An diesem Punkt überfiel sie eine gähnende, so große und namenlose Furcht, daß weder Schmerz noch Durst noch Hunger dagegen bestehen konnten. Sie war ganz allein. Nicht einmal mehr Feinde umgaben sie. Die Atempause war vorüber; die Furcht hatte eine neue Qualität erreicht. Nicht lange danach kamen die Reiter. Es waren seit undenklichen Zeiten keine Reiter mehr in das Dorf gekommen, abgesehen von den Besuchen des Herrn, wenn er die Ernte überprüfte oder wenn jemand gestorben war, aber der Herr pflegte sich anzukündigen, damit die Dörfler alles für ihn bereit hätten. Außer ihm gab es als Besucher nur noch den Händler, und dieser ging zu Fuß. Agnes hörte die Hufe ihrer Pferde von weitem, noch bevor sie ihrer ansichtig wurde. Jeder Tritt schien auf ihr Herz zu fallen; sie fürchtete ihr Erscheinen mit der instinktiven Angst des Tieres, zu dem ihre Strafe sie reduziert hatte. Sie kamen aus der Richtung, in der die Kapelle lag, als seien sie direkt aus ihr hervorgetreten. Sie waren zu dritt. Agnes starrte ihnen gelähmt entgegen.

Die drei Reiter lenkten ihre Pferde auf sie zu, bis sie dicht vor ihr standen und ihre Schatten auf sie fielen. Aus ihrer zusammengekauerten Stellung sah sie zu ihnen empor. Die Sonne blendete sie; sie konnte ihre Gesichter nicht erkennen. Vielleicht hatten sie keine Gesichter. Vielleicht schien das grelle Licht nicht vom Himmel, sondern aus ihren Augen und von ihren Häuptern.

»Was für ein merkwürdiger Vogel«, sagte einer der Reiter. »Ich würde sagen, er ist nach unten aus seinem Käfig herausgewachsen.«

»Ist das diejenige, die uns angekündigt wurde?«

»Ich nehme es an. Oder hast du noch anderswo einen derartigen Jammer erblickt?«

»Sie ist ja nur eine Bäuerin.«

»Der Teufel verbirgt sich in jeder Gestalt. Laß dich nicht von ihrem Äußeren täuschen.«

Die Reiter schwiegen. Agnes röchelte vor Angst und gab ein unartikuliertes Stöhnen von sich. Das Gleißen umgab die Reiter und ließ Tränen in ihre Augen treten. Eines der Pferde tänzelte unruhig und stampfte auf den Boden; es ragte riesengroß wie ein Drache vor ihr auf und schnaubte. Agnes wollte es scheinen, als schnaubte es Feuer.

»Die Dorfbewohner sind wohl alle auf den Feldern.«

»Wie man es uns angekündigt hat.«

In einen der Reiter kam plötzlich Bewegung. Er stieg von seinem Pferd ab und näherte sich ihr. Dicht vor ihr blieb er stehen, bückte sich und starrte ihr ins Gesicht. Sie konnte sein Antlitz nicht erkennen; das grelle Licht malte bunte Kreise vor ihre Augen. Alles was sie sah, war eine breite Gestalt.

»Da wir mit ihr allein sind, sollten wir vielleicht vorher unser Vergnügen mit ihr haben«, schlug einer der anderen Reiter vor. »Sie scheint noch nicht so alt und häßlich zu sein, wie die Dorfweiber es für gewöhnlich sind.«

»So weit man es unter dem nassen Kittel erkennen kann, hat sie prächtige Euter«, stimmte der zweite zu.

»Jetzt ist Schluß«, sagte der abgestiegene Reiter zornig. Er richtete sich auf. »Es ist wichtig, daß uns niemand sieht. Jeden Moment kann eine von diesen Dorfschlampen zurückkehren, um Wasser zu holen oder mit einem Balg niederzukommen. Wir tun unsere Arbeit und machen uns wieder aus dem Staub.«

»Es war nicht so gemeint. Ich habe nur Spaß gemacht.«

»Überleg dir lieber, wie wir es hinter uns bringen wollen.« »Wie schon: Wir stechen sie ab.«

»Ausgezeichnete Idee. Die Racheengel Gottes steigen hernieder, und es fällt ihnen nichts Besseres ein, als sie aufzuspießen wie ein Schwein.«

Die beiden Reiter, die noch auf ihren Pferden saßen, schwiegen einen Moment, bevor sie weitere Vorschläge machten. Agnes vermochte kaum, auf ihre Worte zu lauschen. Die Angst gellte in ihren Ohren. Ihre Augen starrten weiß aus ihrem schmutzigen Gesicht und huschten von einer der Gestalten zur anderen. Sie gurgelte etwas, ohne daß die Männer sie beachteten.

»Wir könnten sie erdrosseln.«

»Das geht nicht; die Maske ist im Weg.«

»Dann holen wir uns einen Prügel und erschlagen sie.«

»Ihr seid alle beide Idioten«, bellte der Reiter, der auf dem Boden stand. »Hört zu: ›Die Reden der Ketzer sind wie Staub im Munde, und ersticken sollen sie an ihren Worten‹ Was fällt euch dabei ein?«

»Ja, die heilige Mutter Kirche findet drastische Worte«, kicherte der eine der beiden Reiter.

»Das ist die Strafe, die für sie vorgezeichnet ist«, sagte der andere.

»So ist es«, erklärte der Reiter, der nicht mehr auf seinem Pferd saß. »Steigt ab und schaufelt ein paar Handvoll Dreck zusammen. Zwei halten sie fest, und der dritte gießt ihr den Dreck in den Hals, bis sie daran erstickt ist. Das wird den Bauern jeden Zweifel daran nehmen, daß das göttliche Gericht am Werk war.«

So geschah es.

Drei Tage später wurde in einem anderen Dorf ein Mann vom Fluß an Land geworfen. Die Hütejungen, die ihn fanden, rannten Hals über Kopf nach Hause und alarmierten die Erwachsenen, aber auch diese konnten nichts mehr für ihn tun. Er war seit mindestens drei Tagen im Wasser gewesen, und er war so tot, wie er nur sein konnte. Da ihn niemand kannte und niemand wußte, ob er nicht etwa selbst den Tod gesucht hatte, beerdigten sie ihn am Ufer des Flusses in ungeweihter Erde, hart an der Stelle, wo sie ihn gefunden hatten. Es war schweißtreibende Arbeit, denn das Ufer war steinig, und niemand fand etwas daran auszusetzen, daß die zwei Männer, die das Grab aushoben, der Leiche die weichen Kalbslederstiefel auszogen, um sie für sich zu behalten. Der Mann würde sie ohnehin nicht mehr brauchen.

Der Jahrtausendkaiser

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