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Kapitel Sieben
ОглавлениеEs war ein sonniger, warmer Spätnachmittag im April 2013. Ich unternahm einen Spaziergang. Zwei Blocks von meinem Apartment, an der Eleventh Street zwischen First und Second Avenue, sah ich ein Paar Sportsschuhe im Schaufenster von Tokyo Joe, ein kleines, von Japanern geführtes Unternehmen für gebrauchte Kleidung, das sich auf Haute Couture spezialisiert hat. Ich brauchte neue Schuhe, und diese sahen toll und ungetragen aus. Sie waren knöchelfrei und fußbetont, auf das cremefarbene Wildleder war ein komplexes Netzmuster aus schwarzem und tomatenrotem Leder aufgenäht, und sie kamen aus Italien. Sie passten mir perfekt und kosteten nur achtundfünfzig Dollar, während man sonst das Fünffache dafür blechen muss. Ich bezahlte und sagte, ich würde sie in ein bis zwei Stunden auf dem Nachhauseweg abholen.
Ich hatte vor, Richtung West Village zu schlendern. Viele Leute waren draußen und genossen das Wetter. Im Washington Square Park waren die hohen, rauen, aber behutsam knospenden Bäume auf eine transvestitenhafte Weise schön, ansonsten war der Park vor allem Beton und festgetretener Dreck. Der große Brunnen auf dem Hauptplatz war ohne Wasser. Wie so oft in den letzten Jahren, hatten ihn langweilige, angestrengt lustige Straßenmusikanten in Beschlag genommen, die von vielen Touristen mit selbstgefälligem Gelächter und Applaus angespornt wurden.
Als ich mit siebzehn nach New York kam, war der Park bekannt als Ort, wo Drogen zu bekommen waren. Vagabundierende Jugendliche mit Akustikgitarren hingen herum und hofften, dass etwas passiert. Es ist immer noch so, nur sind es heute Skateboardkids oder Gagtänzer statt Folksänger. Filmregisseur Harmony Korine und seine Skatepunks aus Privatschulen, einschließlich Chloë Sevigny, begannen ihre Filmkarriere, nachdem sie in den neunziger Jahren dort entdeckt worden waren.
Ich zog weiter zu der Straße, wo meine Großmutter gewohnt hatte. Sie starb vor ein paar Jahrzehnten, aber als ich ein Kind war und während meiner ersten Jahre in New York, wohnte sie in der Barrow Street 72. Für mich wird das West Village – früher hieß es Greenwich Village – vor allem der Ort ihres Apartments sein, und es ist immer noch mein Lieblingsviertel in Manhattan. Es gibt dort inzwischen manche Touristenfalle, aber selbst die Massenattraktionen sind relativ harmlos – eher »Künstler«-Cafés, Schachclubs, Musik- und Gitarrenläden, Sexshops und Leder- und Denim-Boutiquen als etwa der kitschige Disney-Store, Fastfood-Ketten und die Wucherläden für elektronische Geräte mit der Touristen anlockenden Aufschrift »Totalausverkauf wegen Umzug!« im Norden von Manhattan.
Das Herzstück von West Village ist immer noch ein ruhiges Gewirr baumgesäumter, enger, alter Straßen, einige noch mit Kopfsteinpflaster. Die Mietshäuser, Apartmentgebäude aus Sandstein mit ihren gusseisernen Treppengeländern und die kleinen Stadthäuser, einige sogar aus Holz, gehören zu den ältesten in der Stadt, und die meisten sind nur drei oder vier Stockwerke hoch, was den Himmel groß erscheinen lässt. Von der Straße aus kann man durch die schweren Schiebefenster dieser Häuser sehen, dass die Zimmer hohe Decken, hölzerne Wanddekorationen und viele Bücherregale haben. In jedem Block gibt es einige verblichene Ladenfronten, dahinter eine kleine Fleischerei oder einen Waschsalon oder Buchladen, eine Konditorei oder ein kleines Theater, ein Cabaret oder ein außergewöhnliches Restaurant. Man kennt die Geschichten von Fremden, die sich in diesen Waschsalons ineinander verliebt haben, besonders wenn es regnet.
Meine Großmutter wohnte an der nordöstlichen Ecke von Barrow und Hudson in einem von vier sechsstöckigen Gebäuden, die einen Hof mit Garten umschließen. Der raue Sandstein dieser Häuser ist rotbraun, durchädert mit rußigem Schwarz, was eher an triste Reihenhäuser im industriellen England als an den typischen amerikanischen Sandstein erinnert, aber für mich bedeutete dieser Ort Geborgenheit.
Ihr Apartment war winzig, kleiner als das, in dem ich seit 1975 wohne. Da war sie schon einige Jahre tot. Es hatte eine Küche, ein Wohnzimmer, ein Bad und ein Schlafzimmer. Die Zimmer bekamen durch die alten Flügelfenster viel Licht, hatten alle Holzparkett, an den Wänden waren Drucke und in den Regalen einige Bücher, und im Schwarzweißfernseher lief die Serie Million Dollar Movie. Ein Speiseaufzug in der Küche wurde dazu benutzt, nach einem festgelegten Terminplan Müll in den Keller zu befördern.
Die wenigen Male, da wir sie in meiner Kindheit besuchten, konnte ich nicht schlafen, weil ich nicht an den Verkehrslärm gewöhnt war, der selbst noch im fünften Stock zu hören war. Ich lag im Bett übermüdet, aber auch glücklich, Teil der gewaltigen Aktivität der Stadt, der Maschinerie der Nacht zu sein, einer Nacht, die ganz anders als in Kentucky war.
Als ich ein junger Teenager war, hatten die Klamotten in den Läden an der West Fourth Street alle die Farben Aubergine, Creme und Hellbraun – waagerecht gestreifte T-Shirts, dicke Ledergürtel mit großen Messingschnallen, Cordjeans, Stiefel, Arbeitshemden, Sakkos aus Leder und Wildleder oder Arbeitsjacken. Es war das, was die Beatniks und Folkies trugen. Bei einem Besuch kaufte ich mir eine Levis Wildledercowboyjacke. Selbst als Teenager trachtete ich immer noch ein wenig danach, Cowboy zu sein.
Großmutters Apartment war für mich wie Supermans Telefonzelle. Wenn ich es betrat, wurde ich ein anderer Mensch oder vielmehr der Mensch, der ich zu sein glaubte, nicht derjenige, der ich in alltäglicher Gesellschaft war. Ich wurde nicht nur ein Bürger von Gotham City, sondern auch mächtig und interessant, weil Großmutter mich so behandelte.
Während der ersten Monate, da ich in New York lebte, ging ich alle ein bis zwei Wochen zum Abendessen zu ihr. Danach sah ich sie seltener, und die letzte Male, da ich sie besuchte, einige Jahre nach meiner Ankunft in der Stadt, war sie kaum noch fähig, sich um sich selbst zu kümmern. Ich hatte nicht die Reife, um zu wissen, wie ich damit umgehen sollte. Ich war ängstlich und verwirrt. Ihr Gedächtnis ließ nach, das Apartment wimmelte von Kakerlaken, und sie furzte dauernd, während sie herumlief. Sie war konfus, aber schalt sich selbst. Irgendwann nahmen Tante Phyllis und Onkel Dick sie bei sich auf, und ein oder zwei Jahre später, als sie ständige Betreuung benötigte, brachten sie sie in ein Pflegeheim.
Vierzig Jahre später, als ich vom Washington Square einige Blocks weiter westlich Richtung Village spazierte, fühlte ich mich von Großmutters Haus angezogen. Ihre Straße hatte sich kaum geändert. Sie war so ruhig wie früher. Den Eingang zu dem Komplex bildete nun ein hoher gusseiserner Torbogen, unter dem ein schmaler Schieferweg zwischen zwei der Gebäude in den Innenhof führte. Der Hof war klein und geradezu intim – vielleicht fünfzig Schritt breit und etwa fünfzehn Schritt quer. Er war symmetrisch aufgeteilt in sieben Blumenbeete, ihre Formen wurden durch die sich kreuzenden Wege gebildet, die die vier Eingänge der Gebäude in den Ecken des rechteckigen Hofs miteinander verbanden. In dem runden Beet in der Mitte thronte auf einem Sockel eine leere, große Steinurne. Jenseits davon, am hinteren Ende der Anlage, direkt gegenüber dem Weg zur Straße standen zwei niedrige Kirschbäume. Der Erdefeu in jedem Blumenbeet umringte eine Ansammlung von Tulpen, die in Tuschkastenfarben blühten. Sie waren überall, wohin ich auch schaute. Die Blumen hatten die unbewusste Freigebigkeit, die einen verstehen lässt, warum Frauen mit Blumen verglichen werden. Dankbarkeit überkam mich für die pure Großzügigkeit der Blumen, nicht unähnlich dem Gefühl, das die Brüste im Pullover einer vorbeigehenden, unbekannten Frau in mir hervorriefen. Ich schaute auf die Kirschbäume; auch sie blühten. Ihre verdrehten dunklen Zweige waren kaum unter dem überschäumenden Rosa zu sehen, das mich auch dazu brachte, jemandem danken zu wollen. Ich neigte meinen Kopf nach hinten. Ganz weit oben schwebte ein Ballon am Himmel. Und dann tauchte ein weiterer auf und dann noch einer, sechs oder sieben tauchten in leuchtenden Farben auf, die sich mit den Tulpen reimten. Ich dachte an meine Großmutter und ihre selbstlose Liebe. So etwas Ungewöhnliches gab es also, und wieder fühlte ich dankbar, nicht nur das Objekt dieser Liebe gewesen zu sein, sondern auch, dass Menschen so rein sein können. Für einen Moment verschwand meine eigene Unbedeutendheit.