Читать книгу Meine offizielle Frau - Richard Henry Savage - Страница 6
Zweites Kapitel.
ОглавлениеSchmetternd fiel das Gitterthor hinter uns ins Schloss, denn wir waren die letzten der Reisenden. Es wollte mich bedünken, als erbebe die kleine Hand auf meinem Arm bei diesem Klang und als zittere die Dame an meiner Seite. Keck blickte ich sie an und sah, dass ihr schönes Antlitz sich mit tödlicher Blässe bedeckt hatte, doch sofort raffte sie sich gewaltsam auf, und um Mund und Auge spielte ein Lächeln, als sie flüsterte: „Bitte, behalten Sie meine Schlüssel, es sieht verheirateter aus!“ Dabei zog sie ein verlegenes Mäulchen, das mir Herzklopfen verursachte.
„Natürlich müssen wir die Komödie jetzt weiterspielen, meine Liebe,“ antwortete ich; aber bei dieser vertraulichen Anrede wich sie von mir zurück und ein heftiges Erröten verwischte die letzte Spur der vorhergegangenen Blässe. Das Erröten war ansteckend, denn das Wort „meine Liebe“ lenkte meine Gedanken zu meiner wirklichen Gattin nach Paris zurück.
Da ich solche Anwandlungen durchaus verscheuchen wollte, und mein Hunger sich aufs neue meldete, führte ich die Schöne an meinem Arm in den Speisesaal, der mit eiligst essenden Reisenden angefüllt war.
Nur an dem für den russischen Oberst bestimmten Tisch waren noch freie Plätze zu sehen. Der Oberkellner flüsterte dem Herrn, der sich eben niederliess, einige Worte zu, die dieser mit einem Lächeln erwiderte. Nun wurden wir an den Tisch des Würdenträgers geführt, der mir gar nicht unzufrieden darüber zu sein schien, dass er in dem Anblick meiner blendenden Begleiterin schwelgen konnte.
Der durch eine silberne Kette um den Hals ausgezeichnete Oberkellner überreichte der gnädigen Frau Speise- und Weinkarte, und sie bestellte mit der gelassenen Sicherheit einer verwöhnten Frau und setzte mich in grosse Verwunderung, indem sie zärtlich lispelte: „Und was möchtest denn du, lieber Arthur?“
Woher wusste sie denn meinen Taufnamen? Nach einem Augenblick der Ueberlegung kam mir der Gedanke, sie werde ihn auf meinem Pass gelesen haben.
Kurz darauf stellte sich uns der Oberst, der unsre Sprache meisterhaft beherrschte, als Iwan Petroff vor, und während ich dem Burgunder zusprach und einen gebackenen Fasan und andre Leckerbissen mit der ganzen Energie meines Hungers in Angriff nahm, plauderte meine Schutzbefohlene lächelnd mit dem russischen Offizier, der uns mitteilte, er sei Kommandeur der Wilnaer Grenzdivision und freue sich, Amerikaner in Russland zu sehen, denn er zweifle nicht, dass wir uns mit eigenen Augen überzeugen würden, die Russen seien besser als ihr Ruf.
In diesem Augenblick trat ein Beamter grüssend an ihn heran, worauf unser Oberst aufstand und uns mit ein paar Worten der Entschuldigung verliess. Sofort wendete ich mich an die Dame neben mir und sagte: „Sie haben mich Arthur genannt, meine Gnädige; aber wenn wir diese kleine Komödie durchführen wollen, so müssen Sie mir auch schnell, ehe der Russe zurückkommt, Ihren Vornamen sagen.“
„Gewiss,“ antwortete sie, „mein erster Name ist Helene.“
„Und Ihr zweiter?“
„Marie.“
„Helene, Marie — wundervoll!“ erklärte ich. „Und Ihr Geschlechtsname?“
„Sagen Sie mir erst den Ihren,“ bat sie, „Ihren Taufnamen habe ich auf dem Pass gelesen, aber Ihren Familiennamen konnte ich nicht sehen.“
„Lenox,“ entgegnete ich, „Arthur Bainbridge Lenox.“
Bei dieser Mitteilung schien sie stutzig zu werden, aber gleich darauf sagte sie mit einem etwas verlegenen Lächeln: „Dann heisse ich auch Lenox, denn für den Augenblick muss der Name Ihrer Gattin der meine sein. Ein einziger Fehlgriff konnte jetzt uns beiden die schlimmsten Ungelegenheiten machen, weil ein falscher Pass —“
Sie brach kurz ab, denn eben nahm Petroff wieder an ihrer Seite Platz und bemerkte: „Es war mir schmerzlich, mein Essen im Stich lassen zu müssen, aber noch ungleich schmerzlicher, mich von Ihnen trennen zu müssen, meine gnädige Frau.“ Diesen Worten verlieh ein beredter Blick der dunklen Tatarenaugen auf die neugetaufte „Helene Marie Lenox“ noch mehr Nachdruck. Dann fuhr er fort: „Es war aber eine Passangelegenheit, die sofort erledigt werden musste. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir soeben einen guten Fang gemacht haben.“
„Falscher Pass vermutlich?“ bemerkte meine schöne Gefährtin.
„Mann oder Weib?“
„Mann,“ entgegnete Petroff kurz.
„Natürlich,“ rief Helene mit einem Anflug von Koketterie in ihrem Lächeln, „wäre es ein Weib, ein schönes Weib gewesen, so hätten wir Sie nicht so schnell wieder hier gehabt.“
„Auch die schönste Verbrecherin in ganz Russland hätte mich nicht einen Augenblick länger von Ihnen entfernt zu halten vermocht, gnädige Frau,“ erwiderte der galante Oberst, Bewunderung im Blick, Koketterie im ganzen Wesen.
Obgleich ich fleissig mit Messer und Gabel hantierte, fing ich den Blick auf, und es überkam mich dabei etwas von der Empfindung eines Ehemannes. Ich suchte das Gespräch abzulenken und sagte gleichgültig: „Ich glaube, derartige falsche Passgeschichten sind in Russland etwas ganz alltägliches.“
„Keineswegs,“ erwiderte Petroff, „dazu sind die Strafen für dies Verbrechen viel zu streng.“
„Vermutlich nicht nur Geld-, sondern auch Freiheitsstrafe,“ sagte ich vielleicht etwas erregt.
„Ja, lebenslängliche Einsperrung — Sibirien,“ flüsterte der Oberst. „Nur unsre allerverzweifeltsten Verbrecher wagen einen falschen Pass zu gebrauchen.“
Klirrend fielen mein Messer und meine Gabel auf den Teller.
„Koste einmal diese Majonnaise, lieber Arthur,“ warf die vermeintliche Frau Lenox ein, „du bist ja, wie ich sehe, mit deinem Fasan fertig, und sie ist wirklich ganz vorzüglich; Oberst Petroff muss auch welche nehmen.“ Und damit reichte sie dem Offizier die Schüssel mit einem solchen Lächeln und so viel Anmut, dass der bewundernde Russe gar nicht bemerkte, wie völlig mir Nervenstärke und Esslust abhanden gekommen waren.
„Falsche Pässe — Strafen — Sibirien — nur verzweifelte Verbrecher wagen sie zu gebrauchen,“ summte es in meinem Kopf.
Nun kam ein plötzlicher Entschluss über mich.
Dies blendende Weib stempelte mich durch den Gebrauch eines falschen Passes zu einem russischen Verbrecher, aber die deutsche Grenze lag nur fünfzig Schritt von hier, und ich wollte wieder hinüber, so lange noch Zeit war, den Pratzen des russischen Bären zu entkommen.
Mit einer leichten Entschuldigung gegen die Circe, die mich in diese falsche Stellung gelockt hatte und nun mit dem russischen Oberst ganz harmlos aber entzückend über den Salat plauderte, stand ich vom Tisch auf, schritt zum Saal hinaus und auf das im Augenblick glücklicherweise offene Gitterthor zu.
Nun war ich nur noch ein paar Fuss weit von Deutschland entfernt, und im nächsten Augenblick wäre ich ausser aller Gefahr gewesen, wenn mir der Ausweg nicht plötzlich versperrt worden wäre.
„Halt! Ihre Erlaubnis, Russland zu verlassen!“
„Natürlich habe ich keinen derartigen Pass. Sie haben mich ja vor noch nicht einer halben Stunde mit dem Berliner Zug ankommen sehen. Ich will nur geschwind nach dem Zug zurückgehen, denn ich habe ein Paket liegen lassen, das sehr wichtig für mich ist und ohne das ich unmöglich weiter reisen kann,“ erklärte ich dem Beamten in meinem besten Französisch.
„Ohne einen Pass können Sie das Reich des Zaren schlechterdings nicht verlassen,“ erwiderte der Beamte entschieden aber höflich.
„Aber es muss sein! Ich kann das Paket nicht zurücklassen!“
„Unmöglich!“
Und es war unmöglich — die beiden gekreuzten Bajonnette vor mir sagten das deutlicher als alle Worte.
„Vielleicht kann dem gnädigen Herrn aber doch geholfen werden,“ sagte der Cerberus und flüsterte einem Assistenten auf der andern Seite der Grenze ein paar Worte zu. In der nächsten Minute stand mir der Schaffner unsres Berliner Zuges auf der deutschen Seite des Grenzgitters gegenüber.
„Wenn Sie mir den Gegenstand beschreiben wollen, so werde ich ihn suchen und Ihnen nach Petersburg nachschicken,“ sagte der Schaffner höflich.
Nun blieb mir keine andre Wahl — ich musste weiter lügen. Nachdem ich dem Schaffner den verlorenen Gegenstand beschrieben, ihm meine Petersburger Adresse angegeben und einen deutschen Thaler in die Hand gedrückt hatte, schlenderte ich langsam nach dem Speisesaal zurück. Nun musste ich mich wohl oder übel wieder neben meine Mitschuldige setzen und die Komödie bis zum guten oder schlimmen Ende weiter spielen.
In diesem Augenblick überkam mich die entsetzliche Vorahnung eines schlimmen Endes mit aller Macht, denn der erste Reiz des Abenteuerlichen war vorüber, und nun begann sich das Gewissen zu rühren und kniff mich ganz gehörig.
Was würde mein einziges, geliebtes Weib in Paris wohl sagen, wenn ihr diese Geschichte je zu Ohren käme? Wie würden ihre ehrlichen blauen Augen vor Entrüstung blitzen und flammen, wenn sie wüsste, dass ich irgend einem andern Weib gestattete, sich ihren Namen und ihre Stellung anzumassen, dass ein andres Weib ihren Platz an meiner Seite ohne ein Wort des Widerspruchs von mir einnehmen durfte? Und doch hatte mein übereiltes Vorgehen dies alles meiner Sicherheit wegen notwendig gemacht. Ach Gott! noch zum Abschied hatte sie gesagt: „Nimm mir dein empfängliches Herz hübsch in acht, du lieber, alter Arthur, lass dich durch deine militärische Ritterlichkeit in keine Schlingen locken und sei hauptsächlich vor schlauen Weibern auf der Hut. Denke dran, wie du bei unsrer letzten Spritzfahrt nach New York auf einem transatlantischen Dampfer beinahe wegen Schmuggels verhaftet wurdest, bloss weil du zu höflich warst, um einer niedlichen französischen Putzmacherin, die dir ein Paket zu tragen gab, deinen Arm und deinen Schutz auf dem Gang über die Fallreepstreppe zu verweigern. Denke daran, was damals die Zeitungen alles über dich brachten!“
Und nun befand ich mich hier in einer noch viel schlimmeren Lage, denn in den Vereinigten Staaten trifft den Schmuggler nur eine leichte Busse, während die Strafe, die in Russland auf einem falschen Pass steht, sehr schwer ist.
Mit einem unterdrückten Fluch kehrte ich zu meiner Mahlzeit zurück. Als ich eintrat, bemerkte ich gleich, dass Helene ängstlich nach dem Eingang blickte und offenbar, trotz ihres lebhaften Gespräches mit dem Oberst, an mich gedacht hatte, wenigstens atmete sie erleichtert auf, als ich mich neben sie setzte.
Wohl war meine Esslust verschwunden, aber die Angst hatte mich durstig gemacht, und so machte ich mich, den Burgunder beiseite schiebend, über den Cognac her.
Das Benehmen meiner sogenannten Frau war geradezu vollkommen. Mit ganz selbstverständlicher Zärtlichkeit fragte sie: „Nun, lieber Arthur, was für eine dumme Eisenbahnangelegenheit hat dich denn mir und deinem Essen entzogen?“
„Das Gepäck und die Sorge, eine eigne Wagenabteilung zu bekommen, liebes Herz,“ erwiderte ich, indem ich eine Zärtlichkeit zur Schau zu tragen suchte, die ich durchaus nicht fühlte, denn durch ihre einschmeichelnden Reize hatte sie mich sowohl meiner Frau in Paris als auch der russischen Polizei gegenüber in eine sehr peinliche Lage gebracht.
Der ritterliche Offizier an Helenes Seite beugte sich nun mit der den gebildeten Russen eignen höflichen Gewandtheit vor und sagte, ich möchte mir doch über unsre Bequemlichkeit im Zug keine Sorge machen. Er werde das Glück haben, auf einer Inspektionsreise noch ein Stück des Weges mitzufahren, und nehme es auf sich, mir und meiner Gattin das beste Coupé zu verschaffen; ein Wort von ihm sichere uns jede denkbare Rücksichtnahme.
Dann neckte er uns mit der sichtlichen Angst der gnädigen Frau um mich und berichtete, sie habe ihm von dem Augenblick an, wo ich vom Tisch aufgestanden sei, nur noch mit halbem Ohr zugehört und sei mehr als einmal auf dem Punkt gewesen, mir nachzulaufen. Dann fragte er noch, während er der gnädigen Frau zutrank, lachend: „Vermutlich befinden sich die Herrschaften auf der Hochzeitsreise?“
Errötend lächelte sie mich an und rief ihm mit kindlicher Unschuld in vorwurfsvollem Tone zu: „O, Herr Oberst, wir sind ja schon eine ganze Ewigkeit verheiratet!“
„Meinen Glückwunsch Ihrem Herrn Gemahl,“ erwiderte der Russe, „bei ihm hat der Ehemann den Liebhaber noch nicht verdrängt.“ Dazu seufzte der schwarzbraune Riese; allem Anschein nach beneidete er mich um den Besitz dieses reizenden Wesens, das seine Gedanken erriet und dadurch so in Verlegenheit gebracht wurde, dass er ausrief: „Sie machen sich über mich lustig; ein solches Erröten sieht man nur auf dem Gesicht einer Neuvermählten! Vermutlich,“ fuhr er zu meiner grössten Verlegenheit fort, „begeben Sie sich zur Saison nach St. Petersburg, und ich hoffe, Sie diesen Winter dort zu treffen.“
Mein Schützling antwortete darauf nur mit Blicken, und ich stöhnte innerlich.
Grosser Gott! Wenn nun der Oberst im Zug blieb! Ein kalter Schauer überlief mich bei dem blossen Gedanken daran, denn dann konnte ich die Dame in Wilna nicht verlassen!
Jetzt wurde das erste Zeichen gegeben, und unser neuer Freund entfernte sich mit höflicher Verbeugung. Offenbar hatte die gesellschaftliche Eleganz meiner Frau Eindruck auf ihn gemacht; übrigens hatte auch ich für dies kurze entrée in der russischen Hofgesellschaft mein Möglichstes gethan.
Nun wendete ich mich streng zu ihr und flüsterte: „Meine liebe, junge Dame, Sie vermehren die Schwierigkeiten unsrer Lage! Sie haben diesen Mann auf den Glauben gebracht, wir gingen nach St. Petersburg.“
„Ich habe ihm nur nicht widersprochen,“ entgegnete sie vorwurfsvoll, „weil ich wusste, dass er Ihre Fahrkarte nach der Hauptstadt gesehen hatte. Hätte ich denn diesem Oberst, der mich für Ihre Frau hält, sagen können, ich gehe nach Wilna? Meine Angst während der Zeit, wo Sie ferne von mir waren, hat ihn ohnehin auf den Glauben gebracht, ich hänge noch mit romantischer Liebe an Ihnen.“
„Ihre Angst, während ich fern von Ihnen war?“ wiederholte ich in seltsamer Erregung, halb von ungestümer Freude, halb von thörichtem Kummer bewegt, denn ihre traurigen, vorwurfsvollen Augen waren so schön wie die einer aus den Fluten auftauchenden Najade.
„Ja,“ unterbrach sie mich, „denn ich wusste, dass Sie versuchen würden, über die Grenze zurückzukommen, und wagte doch nicht, Ihnen zu folgen, um Sie umzustimmen, weil dies den Verdacht des Obersten hätte erregen können. Aber wäre es Ihnen durch ein Wunder Gottes gelungen, nach Deutschland hinüberzukommen, so hätten Sie mich in die tödlichste Verlegenheit gebracht, in der sich je eine Dame befunden hat. Ich wäre ohne Pass in Russland zurückgeblieben und als ‚declassée‘ von dem ersten besten Polizisten verhaftet und eingesperrt worden. Sie sind drauf und dran gewesen, mich in diesem fremden Land im Stich zu lassen und den Pass mitzunehmen, auf dem sowohl Ihre eigne als auch meine Sicherheit beruht. Während Sie ungefährdet nach Berlin zurückgefahren wären, hätte man mich in einen russischen Kerker geworfen.“ Dann fügte sie traurig hinzu: „Was glauben Sie, was Dick Gaines dazu sagen würde, dass Sie seine Frau in dieser Weise behandeln?“
„Dick Gaines!“ stammelte ich.
„Ja,“ erwiderte sie, „Dick Gaines, Ihr alter Stubenkamerad von West-Point im Jahr 65. Mein Mann hat mir stundenlang von Ihnen erzählt, Arthur Bainbridge Lenox! Als Sie mir vorhin Ihren Familiennamen nannten, fiel mir alles wieder ein, was Dick von Ihnen berichtet hat, aber ich wollte Ihnen erst verraten, wer ich bin, wenn ich in Wilna Ihre Hand in die Dicks legen konnte. Da Sie aber durch die Bemerkung des Obersten über falsche Pässe in solche Angst versetzt worden sind, halte ich es für meine Pflicht, Sie darüber zu beruhigen, dass Sie kaum in ernstliche Verlegenheiten geraten können, wenn Sie Ihrem alten Stubenkameraden seine Frau nach Wilna bringen.“
Wohl spendeten mir diese Worte Trost und Erleichterung, aber sie beschämten mich auch. Wie hatte ich nur wagen können, an diesem unschuldigen Geschöpf zu zweifeln! Dick Gaines war mein alter Stubenkamerad aus der Kadettenzeit, und obgleich ich ihn seit etlichen Jahren aus dem Gesicht verloren hatte, war mir doch bekannt, dass er bei irgend einer Petroleumbohrung in Baku beteiligt war, was mir seine Anwesenheit in Russland ganz natürlich erscheinen liess.
Möglicherweise hatte die Dame meine Selbstvorwürfe auf meinem Gesicht gelesen, wenigstens sagte sie mit lachender Stimme und lachendem Auge: „Für was haben Sie mich denn eigentlich gehalten? Für eine Abenteuerin? Für eine Nihilistin? Schnell, gestehen Sie — was haben Sie gedacht, dass Dick Gaines’ Weib eigentlich sei?“
„Das kann ich am besten dadurch erklären, dass ich Ihnen sage, ich halte Dick Gaines für den glücklichsten Mann unter der Sonne,“ rief ich nun völlig unbefangen und vertrauensvoll.
Nun war es natürlich leicht für mich, meiner Frau zu erklären, dass ich der Gattin meines Stubenkameraden Dick Gaines aus einer Verlegenheit geholfen habe, und wohlgefällig ruhten meine Augen auf ihr, als sie mir plötzlich ein reizendes kleines Taschenbuch gab und sagte: „Bitte, lösen Sie mir eine Karte nach St. Petersburg.“
„Aber Sie bleiben ja in Wilna,“ stammelte ich.
„Gewiss, ich bleibe in Wilna, aber der Oberst muss doch denken, ich reise mit Ihnen nach der Hauptstadt, denn er hält mich ja für Ihre Frau. Ich habe nämlich nicht gewagt, den Oberst in betreff von Dick Gaines in mein Vertrauen zu ziehen,“ sagte meine schlagfertige Gefährtin mit spitzbübischem Lächeln.
So ging ich also hinaus und erwarb meiner hübschen Schutzbefohlenen eine Fahrkarte um ihr eigenes Geld, denn das mir übergebene Taschenbuch war mit Hundertrubelscheinen angefüllt; gleichzeitig sandte ich ein Telegramm an meine Frau. Obgleich ich nun über Dick Gaines’ Gattin völlig beruhigt war, getraute ich mir doch nicht, meiner eignen Hausehre mehr zu telegraphieren als: „Eydtkuhnen. Glücklich angekommen.“
Die Adresse lautete: „Lenox per Adresse Drexel, Harjes & Co., Paris.“
Das Blut stieg mir in die Wangen bei dem Gedanken, dass ich es nicht wagen durfte, einen Brief an mein eignes Weib zu richten, bis ich mich aus der merkwürdigen Verwickelung herausgewunden haben würde, die die russische Polizei zu der Annahme berechtigte, ich habe im Reiche des Zaren eine andre Frau.
Dann telegraphierte ich auch an die Weletsky in Petersburg: „Ankunft morgen abend, sieben Uhr.“
Völlig ruhig in meinem Gemüte, steckte ich mir eine Cigarre an, schlenderte in den Speisesaal zurück und geleitete meine untergeschobene Ehehälfte sorgsam und liebevoll nach dem Zug, wo schon der galante russische Würdenträger auf sie wartete und Sorge trug, dass sie entsprechend empfangen und ihr der beste Raum in einem der breiten, geräumigen Wagen angewiesen wurde.
Mit einer wahren Flitterwochenbeflissenheit hüllte ich ihre reizende Gestalt in warme Decken und rief lustig: „Was würde Dick Gaines dazu sagen?“
Darauf brach sie in ein unbezähmbares, kindliches Gelächter aus, was mir riesig gefiel, denn welcher Veteran freut sich nicht, wenn seine Spässe Anklang finden?