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Einleitung

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Muss man über Oper reden? »Ich finde, dass man das alles sieht. Man hat eine Geschichte erzählt, sie ist übergeben an das Publikum. Deswegen fällt es mir schwer, im Nachhinein meine Arbeit zu erklären.« Das sagt in diesem Buch die Regisseurin Andrea Breth, die nicht dafür bekannt ist, sich dem Diskurs über ihre Arbeit zu verweigern. Andrea Breth hat natürlich recht, wenn sie meint, das Gelingen einer Theateraufführung hänge nicht davon ab, dass sie in ein Stützkorsett dramaturgischer Erklärungen gezwängt wird.

In den hier versammelten 16 Operngesprächen, die auf Sendungen im Kulturradio WDR 3 zurückgehen, wird ein anderer Ton angeschlagen. Man darf es Neugier nennen. Es ist allemal interessant, den Menschen, die Oper machen – Sängern, Dirigenten, Regisseuren und Komponisten –, zuzuhören, etwas zu erfahren über ihre künstlerischen Anschauungen, musikalischen Vorlieben, Arbeitsweisen und persönlichen Erlebnisse. Wir schauen ihnen aber nicht aus der Schlüssellochperspektive zu, um allzu Privates zu erhaschen, und lauschen auch keinen Anekdoten. Allen Opernkünstlern ist der hohe Grad an Nachdenklichkeit gemeinsam, mit dem sie Rechenschaft über ihr individuelles künstlerisches Tun ablegen. Nachdenklichkeit heißt aber nicht, dass in dieser Kunstform alles durchkalkuliert ist. Das könnte man glauben, wenn man die elaborierten Programmbücher in der Hand hält, auf die kein Opernhaus heute verzichten mag (übrigens im Gegensatz zum Sprechtheater, wo man sich häufig mit Faltblättern begnügt). Vielmehr gilt manchmal fast sogar das Gegenteil. Andrea Breth bekennt: »Es geht darum, sich auf der Probe das Kindliche zu bewahren. Wie spielen ja, wir dürfen doch alles.« Und ihr Kollege Christof Loy erklärt, auf der Probe müsse der Sänger größten Mut haben, Fehler zu machen oder ungeschickt zu wirken. Hans Neuenfels, angesprochen auf die Rattenkostüme, in die er den Chor in seiner »Lohengrin«-Inszenierung bei den Bayreuther Festspielen gesteckt hatte, bekennt, es habe sich einfach eingeschlichen, dass immer so viele Tiere auf seinen Bühnen zu sehen sind, das sei kein Kalkül. Thomas Hampson schildert, wie in der Inszenierung von »La traviata« 2005 bei den Salzburger Festspiele die Szene, in der er als Germont seinen Sohn Alfredo (Rolando Villazón) ohrfeigt, entstanden ist: als Ergebnis einer Diskussion mit dem Regisseur Willy Decker auf der Probe, der eigentlich die Cabaletta »No, non udrai rimproveri« an dieser Stelle streichen wollte. Solche Begebenheiten zeigen, dass das, was dem Publikum und dem Kritiker als Plan und Absicht erscheint, oft mehr mit der Theaterpraxis zu tun hat und die Kunst darin besteht, die Spontaneität der Probe in den gestalteten Kosmos einer Aufführung zu überführen. Spontaneität oder Unmittelbarkeit nehmen manchmal auch die Komponisten für sich in Anspruch, die eigentlich alles aufschreiben müssen. Zum Beispiel Wolfgang Rihm, wenn er von der Arbeit an seiner Oper »Dionysos« berichtet, deren Textursprung auf die »Dionysos-Dithyramben« von Nietzsche zurückgeht: »Ich hatte das praktisch als Substanz in mir und konnte so immer weiter in mir unbekannte Bereiche vorstoßen. Womit ich arbeite, das war mir klar, aber was dabei herauskam, das konnte ich immer wieder neu beobachten, und es war auch immer wieder neu.«

Die hier versammelten Operngespräche präsentieren eine Auswahl unterschiedlichster Sichtweisen auf die Oper und das Handwerk des Oper-Machens. So ist zum Beispiel Andrea Breth eine Regisseurin, die die Welt auf die Bühne holt, Christof Loy dagegen arbeitet eher introspektiv. Die Beerenpflückerinnen in »Eugen Onegin« erscheinen bei Breth als chinesische Näherinnen. Die Beerenpflückerinnen auf den realen russischen Gutshöfen mussten singen, damit sie die Früchte nicht essen. Diese Zwangssituation wird übersetzt in das Bild der Näherinnen, die von vornherein in Fabrik und Schlafstätte eingesperrt sind. Durch ein neues, der heutigen Wirklichkeit entnommenes Bild versteht man die Szene in Tschaikowskys Oper besser. Bei Loy gab es eine Zeit lang nur reduzierte Bühnenbilder fast ohne Requisiten. Der dritte Akt von »Arabella« spielt bei ihm in einem kahlen, leeren Raum. »Ich wollte wissen, wie die Figuren reagieren, wenn sie auf engem Raum zusammengeschlossen sind wie in einem Gefängnis, das sie sich selbst gebaut haben.« Achim Freyer wiederum kommt von ganz woanders her: »Auf die eine oder andere Weise sind alle Aspekte in einem Werk neu zu erschaffen, parallel zu erdichten«, sagt er, der auch und vor allem ein bildender Künstler ist.

Unterschiedliche Vorgehensweisen auch bei den Dirigenten: Christian Thielemann macht in seine Partituren keine Einzeichnungen. Er kalkuliert bewusst damit, was sich im Moment der Aufführung ergibt. Nikolaus Harnoncourt dagegen, der auf seine Weise nicht weniger impulsiv war, hatte zum Beispiel bei Mozarts »Le nozze di Figaro« durch das Studium der Quellen und durch musikalische Analyse im Voraus ein ganz neues Geflecht der Temporelationen entworfen.

Es gibt natürlich auch Gemeinsamkeiten. Nicht selten treten die Akteure des heutigen Musiktheaters in diesem Buch in eine Art imaginären Dialog miteinander: Christian Gerhaher mit Christof Loy, Christine Schäfer mit Nikolaus Harnoncourt und Aribert Reimann, Andrea Breth mit Wolfgang Rihm oder Michael Gielen mit Hans Neuenfels. Gemeinsam ist ihnen das Interesse an den Opern von Richard Wagner. In der einen oder anderen Weise scheint Wagner so etwas wie ein Referenzpunkt für die Opernschaffenden zu sein, für die Belcanto-Sängerin Cecilia Bartoli genauso wie für den Komponisten Manfred Trojahn, für Christian Thielemann sowieso und für den Regisseur Hans Neuenfels auch. Einhellig interessieren sich die Sänger für historische Aufnahmen, am ausgeprägtesten Thomas Hampson: »Ich habe nie verstanden, warum Gesangslehrer ihren jungen Schülern sagen, sie sollen diese Aufnahmen nicht anhören, aus Angst, sie könnten sie imitieren. Zu imitieren, das ist ein ganz anderes Problem, als die Ohren zu öffnen und die Phantasie zu erwecken.«

Gemeinsam schließlich ist den Opernkomponisten von heute das Bekenntnis zum Gesang, was zunächst nicht verwunderlich erscheint. Hätte man aber mit Komponisten vor 30 oder 40 Jahren gesprochen, hätte man womöglich anderes gehört. Manfred Trojahn erinnert sich, dass Komponisten in den Siebzigerjahren wenig Ehrgeiz hatten, Opern zu komponieren (gemeint sind Stücke, in denen es um Bühnengesang geht). Bei Aribert Reimann war das immer anders. Er trat viele Jahre als Liedbegleiter auf und hatte eine Professur nicht etwa für Komposition, sondern für Zeitgenössisches Lied inne. Das heißt bei ihm aber nicht, dass er die Opernpartien darauf anlegt, dass sie einfach zu singen sind. Als ihn Marlis Petersen, die in der Uraufführung seiner Oper »Medea« die Titelpartie übernommen hatte, darum bat, eine gewisse Stelle zu vereinfachen, musste er einwenden: »Was du da singst, ist aus diesen Akkorden entstanden, und die sind jetzt nicht mehr vertikal, sondern horizontal. Da kann ich keinen Ton ändern.« Wolfgang Rihm komponiert – zumal in seinem Musiktheater »Die Eroberung von Mexico« – scheinbar ohne Rücksicht auf einen Sängerdarsteller, der eine bestimmte Figur zu verkörpern hat, aber eben nur scheinbar. Er beharrt darauf: »Selbstverständlich sind sowohl Montezuma als auch Cortez psychologisch interpretierbare Protagonisten. Das sind nicht nur Klangskulpturen, nein, um Himmels willen. Das sind handelnde Menschen mit ihren kulturellen Kontexten, aus denen sie stammen.« Handelnde Menschen sind in der Oper immer singende Menschen.

Wie selbstverständlich äußern sich die Opernschaffenden, vor allem natürlich die Regisseure, zum Thema des Politischen auf der Opernbühne. Den Typus des Opernregisseurs aber, der historische Opern mit tagespolitischen Aktualisierungen garniert, trifft man – zumindest in diesem Buch – nicht an. Für Peter Konwitschny ist Oper unterhaltend und politisch zugleich. »Oper muss klüger machen« und zugleich »amüsant« sein. Aribert Reimanns Oper »Melusine«, 1971 uraufgeführt, hat man als Öko-Oper bezeichnet, knapp zehn Jahre vor der Gründung der »Grünen«. Reimann wählt seine Stoffe und setzt seine Themen aber nicht aus politisch motiviertem Kalkül. »Wenn ich mit einem Stoff umgehe, fasziniert mich, was morgen ist, und nicht, was gestern war«, ist seine Erklärung dafür, dass »Medea« aus dem Jahr 2010 mit dem Thema Migration zu tun hat und die Brutalität in der 1978 uraufgeführten Oper »Lear« zu Zeiten des RAF-Terrorismus einen Nerv traf, aber eben nicht als platte Politisierung und Aktualisierung.

Ein anderer Aspekt betrifft die Kulturpolitik und die Herausforderungen und Zwänge des Opernbetriebs. Andrea Breth ist zum Beispiel skeptisch, was das künstlerische Gelingen von Wiederaufnahmen anbelangt, die ein funktionierendes Repertoire- und Ensembletheater zur Voraussetzung haben. Manfred Trojahn glaubt, dass kleine und mittlere Opernhäuser sich nicht nachhaltig um zeitgenössisches Musiktheater kümmern, sondern zu sehr auf den mit der Uraufführung eines neuen Werkes verbundenen Imagegewinn spekulieren. Für Nikolaus Harnoncourt war der Konzertbetrieb in den Fünfzigerjahren, den er als versteinert empfand, überhaupt der Anstoß, so etwas wie historische Aufführungspraxis zu wagen. Bei Achim Freyer betrafen die politischen Repressionen, denen er sich in der DDR ausgesetzt sah, ganz unmittelbar seine persönliche künstlerische Existenz.

Dass Politisierung der Oper überhaupt ein diskutiertes Thema ist, hat mit dem sogenannten Regietheater zu tun. Es steht im Gegensatz zum Ausstattungs- und Repräsentationstheater. Seine Merkmale sind Politisierung, Psychologisierung und Soziologisierung der Stoffe. Als Erfinder des Regietheaters in diesem Sinne gilt Hans Neuenfels. Spätestens mit seiner Inszenierung von Verdis »Aida« 1981 an der Frankfurter Oper hatte er einen neuen Theaterstil und neue Ansprüche an die Opernregie formuliert. Michael Gielen war in Frankfurt Neuenfels’ Intendant und Dirigent zugleich: »Inhaltstheater statt Repräsentationstheater« lautet seine Formel dafür. Seit dieser Zeit hat sich die Oper immer mehr zu einer modernen Theaterform entwickelt und wurde in ihrer gesellschaftlichen Relevanz dem Schauspiel ebenbürtig.

Weil das Regietheater immer die Aktualität eines Stoffes aufzuspüren versucht, müssen die Regisseure eine Haltung zur Frage der Werktreue entwickeln. Peter Konwitschny betont, Werktreue könne sich nur auf den Sinn eines Werkes beziehen, nicht auf die Konventionen, die sich in der Interpretationsgeschichte herausgebildet haben. Die Regisseure, die hier zu Wort kommen, getrauen sich, in die überlieferte Werkgestalt einzugreifen und dadurch das Stück neu zu befragen. Andrea Breth streicht in »Lulu« den Prolog und die erste Szene des dritten Akts, Christof Loy baut die »Fledermaus« komplett um, Peter Konwitschny unterbricht die »Meistersinger von Nürnberg« vor der Schlussansprache des Sachs und Hans Neuenfels kombiniert Mozarts »La finta giardiniera« mit neuen dramatischen Texten. Das Ziel solcher Umbauarbeiten besteht immer darin, unsichtbare Inhalte oder Aspekte eines Werkes freizulegen. Man muss bei diesen Regisseuren mit solchen Eingriffen rechnen, sie sind aber keineswegs ein fixes stilistisches Prinzip, allenfalls vielleicht bei Peter Konwitschny. Auch Achim Freyer geht es um die Vielfalt von Zugangsweisen zu einem Stück, die er aber nicht durch einen Eingriff in die Werkgestalt vollzieht, sondern mittels seiner Bilderwelten, die er »Theatermaschine« nennt bzw. »Theater aus allen Aspekten«.

Mittlerweile ist der Begriff »Regietheater« schon fast wieder verpönt: Christof Loy weist ihn ebenso zurück, wenn damit nur platte Aktualisierungen konnotiert sind, wie Andrea Breth, wenn Regisseure sich zu Koautoren der Komponisten erheben: »Regie führen ist eine Sekundärkunst.« Thomas Hampson ist sicher ein dem zeitgenössischen Theater sehr aufgeschlossener Künstler, wehrt sich aber dagegen, wenn die Regie sich in einen Gegensatz zur Musik begibt: »Alles, was in einem Opernabend vorkommt, auch in theatralischer Hinsicht, ist vom Komponisten in der Partitur bereits angelegt worden. Das zur Geltung zu bringen, hat eine viel größere Wirkung auf der Bühne als alle obergescheiten Zutaten der Dramaturgie und Regie, wie wir sie manchmal erleben.« Michael Gielen differenziert: »Ich sehe da einen großen Unterschied zu dem, was Leute wie Berghaus und Neuenfels in Frankfurt gemacht haben. Sie haben die Inhalte gesucht, gefunden und auf die Bühne gestellt und nicht etwas dem Stück Fremdes oder nur Peripheres zur Hauptsache erklärt.« Allerdings hat er später, als er nicht mehr Chef eines Opernhauses war, sondern Gastdirigent, eine Dominanz der Szene vor der Musik erlebt, die ihn dazu gebracht hat, überhaupt keine Opern mehr zu dirigieren.

Das heißt aber doch, dass die alte Debatte in der Oper »prima la musica, poi le parole« oder vice versa offenbar heute in anderer Form weitergeführt wird: Szene oder Musik – mal als Ansporn, mal als Konflikt.

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Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Opernredaktion von WDR 3 für ihre tatkräftigen Hilfen bei den Interviews und der Lektorin des Bärenreiter-Verlags, Dr. Jutta Schmoll-Barthel, die das Buch möglich gemacht und sein Entstehen mit Enthusiasmus und Geduld begleitet hat.

Richard Lorber, im März 2016

Oper - aber wie!?

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