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Eine Parallelwelt ist in jeder Oper unbedingt wichtig

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Achim Freyer ist unter den heutigen Opernregisseuren wahrscheinlich der bildmächtigste. Das Bildnerische in seinen Operninszenierungen versteht er als eine Parallelwelt, nicht als bloße Illustration der Handlung oder der Musik, aber auch nicht als eine vom Theatralischen unabhängige Sphäre.

Der 1934 geborene Achim Freyer hat Gebrauchsgrafik studiert und als Bühnenbildner angefangen. Auch außerhalb des Theaters ist er ein bedeutender bildender Künstler, der auf der documenta 1977 und 1987 vertreten war. Im Internet begegnet man ihm zunächst über das Kunsthaus Achim Freyer: Das ist seine Berliner Privatvilla, die er zur Galerie und zum Kunstort umfunktioniert hat.

Mit der Oper beschäftigt sich Achim Freyer seit 1968, als er an der Berliner Staatsoper die Bühne und die Kostüme zu Rossinis »Barbier von Sevilla« in der Regie von Ruth Berghaus schuf, eine Produktion, die heute noch im Repertoire ist.

Achim Freyer war Schüler von Bertolt Brecht am Berliner Ensemble in Ost-Berlin, kam 1972 in den Westen und hat seitdem fast jedes Jahr mehrere Operninszenierungen vorgelegt, darunter die berühmt gewordene Trilogie der Opern von Philip Glass in Stuttgart in den Achtzigerjahren, sechs verschiedene Versionen der »Zauberflöte«, die von Salzburg bis Moskau zu sehen waren, zeitgenössisches Musiktheater von Mauricio Kagel bis Heinz Holliger, Barockoper von Cavalieri bis Gluck und den »Ring des Nibelungen« in Los Angeles und am Nationaltheater Mannheim.


Als Sie 2011 bis 2013 den »Ring des Nibelungen« am Nationaltheater Mannheim inszenierten, erklärten Sie, Wagner zu inszenieren, sei nicht schwieriger als Werke von anderen Komponisten. Ich glaube, das hat vor Ihnen noch kein anderer Regisseur geäußert.

Es ist nicht schwieriger, Wagner zu inszenieren, aber es ist mehr Arbeit für das Theater und aufwendiger als Werke anderer Komponisten. Man muss bei Wagner unglaublich zuhören, man kann ihn nicht vollstopfen mit irgendeiner Regieidee, die nicht hundertprozentig aus seinen Werken kommt. Deswegen fällt man ständig auf die Nase, wenn man etwas einmontiert oder etwas besser wissen will. In diesem Werk sind hundert Leitmotive, die man vielleicht nicht so bezeichnen sollte, sondern eher als hundert Ebenen, sei es das Schwert- oder Walhall- oder Entsagungsmotiv oder, oder … Alle sind permanent anwesend, sind permanent im Aufklingen, im Aufscheinen. Die Schwierigkeit besteht darin, zu vermitteln, dass ein Zuschauer diese hundert Dinge gleichzeitig wahrnehmen und aufmerksam erleben und deren Bedeutung erfassen kann.

Ein Leitgedanke Ihrer Arbeit sei, als Regisseur und auch als Bühnenbildner eine Parallelwelt zu erschaffen, also nicht zu illustrieren. Und das bei hundert Bedeutungsebenen?

Eine Parallelwelt ist in jeder Oper unbedingt wichtig, nicht nur bei Wagner. Eine Parallelwelt ist etwas anderes, als wenn ich mich als Regisseur einmische und durch hinzugesetzte Handlungen und irgendwelche Betonungen das steigern will, was in der Musik immer schon gesteigert ist. Damit mache ich die Musik kaputt. Denn das Aufregende ist ja der doppelte Boden, der dreifache, sogar vierfache Boden: Wir haben die Sprache, wir haben den Klang, das Visuelle und eine Art von choreografischem Geschehen. Alle diese Ebenen haben eine Erzählkraft und erzählen jede Figur auf ihre Weise. Entweder verraten sie die Figur oder sie wahren das Geheimnis oder sie treffen daneben. Auf die eine oder andere Weise sind alle Aspekte in einem Werk neu zu erschaffen, parallel zu erdichten.

In dem Wort »parallel« stecken mehrere Anknüpfungspunkte. Einer könnte sein, dass die Bühne synchron läuft. Es könnte aber auch sein, dass eine Gegenwelt erschaffen wird, dass es kontrapunktische Entsprechungen gibt. Zunächst aber denkt man bei dem Begriff »parallel« an einen synchronen Verlauf, und dann ist man ja ganz nahe bei dem Begriff der Illustration, aber das meinen Sie nicht?

Das wäre ganz fatal. Ich denke mehr im Sinne von John Cage, der ja auch bildender Künstler war, im Sinne von Gleichzeitigkeit und Vielschichtigkeit: Ich rede vom Berg und sehe das Meer, und dabei entsteht ein Drittes, vielleicht eine Landschaft mit Bergen im Meer. Es bleibt dabei, dass ich über Berge spreche, aber dass ich im selben Moment auf das Meer schaue, ist eine genauso starke Realität. Das zusammen gibt mir das Abenteuer oder das Erlebnis und die Möglichkeit, meine Reaktionen zu entdecken, die mir neu sind. Genau das soll Theater bewirken, dass wir uns nahekommen, dass wir uns spiegeln in einer Weise des Denkens, nicht des bloß Visuellen.

Nicht illustrativ soll Ihr Theater sein. In Ihrer Inszenierung der »Walküre« am Nationaltheater Mannheim erscheint beim großen Monolog des Wotan im zweiten Aufzug plötzlich wieder die Nibelheim-Welt, die Alberich-Welt mit bizarren, glitzernden, skurrilen Erscheinungen. Man könnte auf den ersten Blick sagen, es werden die Worte von Wotan, wenn er von Alberich spricht, illustriert. Man spürt aber, dass es das nicht ist. Können Sie beschreiben, warum es keine Illustration ist an dieser Stelle?

Wir haben von den hundert Leitmotiven gesprochen. Alberich ist mit seiner Welt eine Bedrohung für Wotan vom ersten Tag an. Der Weiß-Albe fühlt sich von den Schwarz-Alben bedroht, und wenn diese SchwarzAlben den Ring besitzen, ist die Macht Wotans verloren. Jeder hat sein Machtpotenzial, das er bewahren will. Wir identifizieren uns mit der Figur Wotan. Aber Alberich, den wir mit unseren Ängsten verbinden, ist permanent anwesend und ist mal deutlicher, mal beleuchtet, mal unbeleuchtet immer im Bewusstsein von Wotan, im Bewusstsein aller Figuren und im Bewusstsein des Zuschauers als eine Art permanentes Leitmotiv. Und wenn das größer aufblitzt in dem Moment, wo Wotan direkt davon erzählt oder wo in anderen Szenen Sieglinde von dem Vater erzählt und von dem Blick, den sie in Siegmund wiedererkennt, dann ist zufällig Wotan auch anwesend auf der Bühne, der aber auch sonst permanent anwesend ist. Das ist aber keine Illustration, sondern eine Art Göttermaschine, die sich bewegt, aus der nichts verloren geht, nichts stirbt und nichts hinzukommt. Diese Maschine arbeitet mit Fehlern und Unterbrechungen, mit Störungen und Betonungen, mit Beleuchtung und mit Aufmerksamkeiten. Sie stärkt und bestätigt permanent den Gedankengang Wotans und unseren Gedankengang. Es ist eine Theatermaschine, eine Weltmaschine.

Man sieht in der »Walküre« skurrile Maschinen, die über die Bühne geschoben werden, aber gar nicht richtig erkennbar sind in der Mechanik, wie sie gebaut sind. Warum zeigen Sie diese Maschinen nicht in der ganzen Konstruktion und in der skulpturalen Gestalt?

Jede dieser Maschinen ist fast ein kleines Kunstwerk und eine Montage aus Nähmaschinen, weil die Walküren die toten Helden wieder zusammennähen, damit sie für Walhall Wache stehen können. Die bestehen aus Scheren, aus Rollstühlen von kaputten Leuten, aus Kleiderständern, um die fertig geflickten Krieger wieder aufzuhängen und damit zum Leben zu erwecken. Und wir sehen auch die Ergebnisse dieser Flickarbeit, die in Walhall hängen und Wache stehen gegen die Zwerge. Das alles möchte ich gerne sichtbar machen. Ich versuche immer, alles zu zeigen und deutlich zu machen. Wenn man aufmerksam ist, erkennt man im Laufe des Abends auch alle diese Maschinen. Auf ihnen befinden sich die Kriegerreste, die die Walküren aufgesammelt haben. Man sieht, wie sie stereotype Bewegungen des Aufhebens vom Boden machen und des Antreibens ihrer Rosse als Geste usw. Das ist ein kriegerisches Heer, das Wotan gezeugt hat im wahrsten Sinne des Wortes, denn es sind alles Kinder von seinen Liebschaften. Er ist ja einer, der sich die Liebe nicht versagt hat wie Alberich, der dadurch viel gefährlicher ist.

Den »Ring des Nibelungen« haben Sie schon 2010 in Los Angeles inszeniert. In Mannheim präsentieren Sie eine weitere Version und haben gesagt, Sie möchten nicht die phantastische Bilderwelt, wie Sie sie in Los Angeles gebaut haben, auf die Bühne bringen, sondern einen analytischen »Ring« zeigen. Was Sie gerade beschrieben haben, ist aber doch eine phantastische Bilderwelt. Sie haben ganz viel in Bildern gesprochen über Ihre Mannheimer Inszenierung.

Ich glaube, dass Wagners Idee vom Gesamtkunstwerk meint, alle Sinne und alle Ebenen des Menschen anzusprechen. Nichts soll in einer Aufführung verkümmern, genauso wie im Leben des Menschen. Es gibt keine Ebene, die uns nicht befriedigen könnte. In der Natur ist der Duft genauso wichtig wie das, was ich an einer Blume sehe. Und was ich von der Blume begreife, ist eine Sensation des Denkens. Ich glaube, dass Theater eine Parallele zu dem Phänomen des Seins ist und nur dann aufregend, wenn es wirklich alle Aspekte parallel zeigt. Das heißt aber nicht, dass jetzt die Malerei einzieht ins Theater oder die reine Musik oder das reine Ballett oder das visuelle, bewegliche Kunstwerk, sondern alles bleibt Theater, Theater aus allen Aspekten.

Wenn Sie vom Gesamtkunstwerk sprechen, erinnere ich mich an eine Aussage von Ihnen, dass es das Gesamtkunstwerk eigentlich nicht geben kann, weil jede Kunst für sich ihr eigenes Recht beansprucht, die Malerei, der Tanz, die Musik. Trotzdem machen Sie Theater, und Ihr Theater besteht aus Einzelkünsten. Ganz explizit haben Sie einmal gesagt, Sie wollten die Malerei in das Theater bringen. Wie ist das Verhältnis zwischen den Einzelkünsten, die ihr eigenes Recht beanspruchen, und dem Wagner’schen Ausspruch vom Gesamtkunstwerk? Ist das ein Widerspruch in sich?

In den Siebzigerjahren gab es einmal die Multimediakunst. Das war eine Bemühung, bei der das Visuelle, das Akustische und das Inhaltlich-Textliche gemixt wurden, aber keine wirkliche Verbindung eingingen. Meistens arbeiteten auch drei Künstler parallel an einem Werk zusammen. Mich hat das nie überzeugt. Das Gesamtkunstwerk, wie Wagner es meint, sagt ja nicht, dass es verschiedene Medien sein müssen, sondern meint ein Gesamtkunstwerk, das aus allen Ebenen besteht, die sämtliche Sinne beim Betrachter aktivieren. Ich kann die Musik sehen, ich kann den Text vielleicht hören, und ich kann die Gesten lesen, und so überkreuzen sich die für uns zunächst einmal eindeutigen Ebenen – Musik hört man, Malerei sieht man – durch ein Übereinander, weil alles zusammen da ist, aber eben vielleicht in einer Parallelwelt. Es ist wie ein großes Gefäß, das geschaffen ist oder geflochten ist aus all unseren Möglichkeiten, die wir uns künstlerisch aneignen.

Sie beschreiben sehr schön, wie die verschiedenen Künste sich gegenseitig erheben, auch vielleicht, im Hegel’schen Sinne, sich aufheben. Gleichwohl hört man von Ihnen immer wieder, Sie seien im Grunde Ihres Herzens ein Maler. 2007 haben Sie das Buch »Freyer Theater« publiziert. Das ist ein Werk, in dem Ihre Theaterarbeiten abgebildet sind. Wenn man diese drei Bände durchsieht, dann bekommt man den Eindruck, man hat es mit einem farbmächtigen, gestaltungsmächtigen, von überbordender Phantasie strotzenden Maler zu tun. Es ist ein Buch, das den Künstler, den Maler Achim Freyer zeigt, obwohl es ein Theater-Buch ist. Gewinnt sozusagen hinterrücks Ihre Malerei wieder ein Eigengewicht?

Da muss ich ganz privat sagen, ich bin, wenn ich Theater mache, so im Stau, was das Bildnerische betrifft, dass ich in jeder freien Sekunde nachts, wo ich mich dem Theater entziehen kann, die Chance nutze, etwas zu zeichnen oder zu malen. Ich habe mitunter, auch während ich Entwürfe für das Theater mache, manchmal den Schub, mich bildnerisch auszudrücken. Es entstehen Entwürfe, die gleichzeitig Bild sind und dann wieder zum Theater finden. Theater ist ja terminlich gebunden, deswegen kann ich nicht sagen, ich male heute, weil ich heute früh ganz tolle Ideen habe dafür, sondern ich muss dann auf die Bühne und muss proben. Dieser Druck schiebt sich natürlich auch in die Arbeit des Theaters hinein, ohne dass ich das will. Aber generell würde ich sagen, Malerei und Theater haben nichts miteinander zu tun.

Trotzdem ist Ihr Theater ein Theater der Bilder. Es gibt diesen Dreischritt: Malerei, Raum, weil Theater im Raum stattfindet, und Theater selbst, das in der Zeit stattfindet. Gibt es da eine Methode, wie Sie den Widerspruch oder diese verschiedenen, eigentlich nicht vermittelbaren Ebenen zusammenführen? Malerei ist zweidimensional, Raum ist dreidimensional und Theater zeitlich.

Vielleicht ist mir das mit einigen Arbeiten gelungen, zum Beispiel bei »Eugen Onegin«, den ich an der Staatsoper Berlin 2008 inszeniert habe. Ich hatte da einen szenischen Loop entdeckt, der genau von Tschaikowsky komponiert wurde. Ohne das vorher zu ahnen, habe ich versucht zu erzählen, wie unser Alltag, ob auf dem Dorf oder in der Stadt, im Luxus oder in der Armut, am Abend immer mit einer Sehnsucht und Hoffnung für den nächsten Tag endet und der nächste Tag wieder die gleiche Enttäuschung bringt. Das Hoffen, Vorwärtsgehen gibt uns die Kraft und lässt uns aufstehen, und die leichte Resignation zieht uns in den Schlaf. Diesen Loop, dieses Einatmen oder Ausatmen, habe ich bei dieser Inszenierung so konsequent verfolgt, dass ich sagen kann, eigentlich ist mit Tschaikowsky und seinem Werk etwas passiert, was man auch Bildende Kunst nennen kann, nämlich, wie Sie sagen, ein visuelles Geschehen, das auf der Fläche stattfindet, einen Raum schafft und in der Zeit abläuft. Denn in der Malerei, die ja nur eine Fläche hat, finden die Zeit und der Raum hundertprozentig statt, eine flächige Malerei ohne Raum ist ein Plakat, ist dekorativ, und ein räumliches Geschehen ohne Zeit ist undenkbar, auch wenn nur das Auge diese Zeit herstellt, indem es im Raum wandert und eine Dramaturgie hat. Ich muss das für mich entscheiden, wie weit ich mich meiner Leidenschaft und meiner Sehnsucht für das Bildnerische überlasse, ob ich abends schlafen gehe und habe doch nur Theater gemacht, oder morgens wieder die Hoffnung habe, mit dem Theater etwas ganz Visuelles und Sinnliches zu erreichen. Das wird dann verwechselt mit Bildertheater, mit Opulenz. In Mannheim beim »Ring des Nibelungen« habe ich nur einen leeren, kahlen Raum, in dem sich einige Teile und Requisiten, die ganz an Figuren gebunden sind und sie vergrößern oder verlängern, verlängerte Arme haben, finden. Und mit diesen Auftritten und dem Licht entsteht Bewegung, und die Musik fängt an, noch einmal neu hörbar zu werden.

Plakatkunst oder Plakate als reine Dekoration? Sie haben in Ost-Berlin in den Fünfzigerjahren Gebrauchsgrafik studiert, sind zu Bertolt Brecht gegangen, haben Theaterplakate gemalt. Ihre Zeit als Gebrauchsgrafiker war doch sicher nicht nur eine Verlegenheitslösung?

Doch, das würde ich sagen. Ich bin zu Heinrich Kilger, dem Bühnenbildchef am Deutschen Theater, gegangen und habe ihm meine Leidenschaft für das Theater vermittelt und auch meine Leidenschaft für Malerei und gesagt, ich hätte mich dummerweise für Gebrauchsgrafik an einer Fachschule beworben. Er hat mir geantwortet, das sei doch wunderbar: »Egal, was du machst, mache es gut, dann kannst du alles.« Das hat mich sehr beeindruckt, und ich habe dann auch leidenschaftlich Gebrauchsgrafik gemacht. Das liebe ich heute noch. Ich gehe heute noch an jeder Litfaßsäule neugierig vorbei. Der Unterschied zur Malerei besteht darin, dass die Malerei niemals werben würde. Malerei kann nur für sich selbst da sein und muss alles beinhalten, den Puls des Menschen, den Puls der Zeit und die philosophische und politische Haltung des Künstlers erzählen. Wenn ich ein Plakat mache, muss ich mich da sehr zurückhalten. Ob ich ein Kommunist bin oder ein Vertreter einer rechtsradikalen Gruppe, solche Anschauungen wird man wahrscheinlich im Plakat nicht gebrauchen können.

Erstaunlich fand ich Ihre Äußerung, Richard Wagner und Bertolt Brecht verbinde sehr viel, nämlich der Aspekt der Modernität. Stehen beide nicht eher im Gegensatz zueinander, hier der romantische Künstler, der das überbordende zeitlose Kunstwerk mit mythologischen Wurzeln schafft, von 14 Stunden Spieldauer beim »Ring des Nibelungen«, dort der politische Künstler Brecht, der das epische Theater erfindet und mit Verfremdung arbeitet? Wagner will ja auf den ersten Blick das Gegenteil von Verfremdung. Er will den Zuschauer vollkommen in das Bühnengeschehen hineinziehen. Was verbindet denn Brecht und Wagner?

Von Brecht kann man sicher sagen, dass er ein Revolutionär war im gesellschaftlichen Sinne und gleichzeitig ein Hasser konventioneller Kunst. Er wollte mit aller Gewalt einen neuen Weg gehen und in aufklärerischer Haltung Dinge ansprechen, die brachlagen. Wenn Sie sagen, Brecht sucht Verfremdung und Wagner Zeitlosigkeit, was ist denn Zeitlosigkeit anderes als Verfremdung? Wir schieben ein Theatergeschehen in eine fremde Zeit sehr weit weg von uns, um ganz nah dran zu sein und uns darin zu entdecken. In diesem Zusammenhang habe ich Schwierigkeiten damit, wenn ich sehe, wie manche Kollegen versuchen, Wagner in die Gegenwart zu setzen und zu erklären, welches Kaliber Wotan hat und wer Alberich ist, und ein kapitalistisches Gefüge aufbauen, in dem die Zwerge das Proletariat sind und die Götter die herrschende Klasse. Das sind alles sehr banale Dinge, die man auch so bemerkt. Das muss man ja nicht noch einmal erzählen und damit alle Figuren klein machen und denunzieren.

Ich komme noch einmal zu Brecht. Waren Sie im ideellen oder auch im tatsächlichen Sinne ein Schüler von Brecht, war er ihr Vorbild, und wie war er als Person? Es gibt ja nicht mehr so viele Brecht-Schüler, die noch heute am Theater wirken.

Als ich bei Brecht war, war ich überrascht, wie schüchtern dieser Mann ist, wie freundlich, wie menschlich, auch im Sinne von Verführbarkeit, was Erotik betrifft. Er lief mit seinem maßgeschneiderten, einfachen Anzug, der keine Revers hatte, sondern nur einen Kragen, über den Hof, als gerade ein Müllmann kam und die Tonnen abholte. Als Brecht etwas im Wege stand, sagte der Müllmann: »Kannst du mal anfassen hier, bitte?« Er hatte nicht bemerkt, dass dieser Anzug aus besonderem Stoff war, Brecht war für ihn einer von ihnen. Diese Koketterie, auch mit seiner Mütze, die auch so etwas Proletarisches hatte, auf andere Weise als Beuys seinen Hut getragen hat, hat diesen Mann mir sehr vertraut gemacht, obwohl wir uns nicht so oft sehen konnten und ich mich auch nicht traute, ihn, außer es wäre etwas Wichtiges, anzusprechen und zu stören. Leider ist er eineinhalb Jahre, nachdem wir uns kennengelernt hatten, gestorben. Ich bin dann auch nach kürzester Zeit vom Berliner Ensemble weggegangen, um eigene Theaterarbeiten zu machen, und dachte, ich habe mich von diesem Meister sehr beeindrucken lassen und auch sehr viel gelernt. Später habe ich die Bühne und die Kostüme für den »Guten Menschen von Sezuan« an der Volksbühne entworfen mit Benno Besson als Regisseur, der auch ein Mitarbeiter von Brecht gewesen war. Ich dachte, dass ich da wirklich etwas völlig Neues mache, und habe Benno Besson und dem Ensemble, um meine Arbeit zu verteidigen, genau begründet, warum das so und so ist, warum die Linien, die die Zeit symbolisieren sollen, und die Störungen als Senkrechte, die das Individuum sind usw. Meine Frau, die noch studierte, hatte Brecht gründlich gelesen, was ich nie tat, außer seine Stücke natürlich. Ich kannte ihn ja und kam nie auf die Idee, seine Schriften zu lesen. Plötzlich wurde ich total blass, als ich von ihr erfuhr, dass ich Thesen erzählt habe, die von Brecht waren. Das waren gar nicht meine, aber man sieht daran, wie stark der Einfluss eines guten Lehrers ist.

Jetzt mache ich einen Sprung, vielleicht gibt es aber doch eine Verbindungslinie. Ich meine Ihre Inszenierung des »Freischütz« 1980 an der Staatsoper Stuttgart. Das ist Volkstheater, oder Sie spielen mit Volkstheater. Da wird sehr virtuos mit den Versatzstücken, auch den Bewegungsmustern des Volkstheaters gearbeitet. Brecht verfolgte dagegen aufklärerisches, revolutionäres Theater. Gibt es aber trotzdem eine Verbindung zwischen diesem aufklärerischen Theater und dem Volkstheater?

Ich habe das Volkstheater benutzt. Ich habe die mich sehr beeindruckenden Kostüme, die teilweise historisch und richtig echt waren, auf die Bühne gebracht, um eine Gesellschaft zu zeigen, die sich mit ihrer Kultur verschließt gegen alles Neue, gegen alles Andere, gegen jeden Fremden. Die Wolfsschlucht, Kaspar und Samiel sind Figuren, die diese Gesellschaft fürchtet und in Spuk verwandelt. Und diese heile Volkswelt, die mit wunderschönen naiven Landschaften bemalt ist, die vier Wände, in denen wir leben, fangen an zu schwanken, öffnen sich, durch die Ritzen kriecht das Unheimliche, das Neue, das Fremde. Insofern war mein Ansatz ein sehr politischer.

Aber Sie gehen ja nicht sarkastisch damit um, sondern Sie gehen mit dieser Art von Theater sehr liebevoll um.

Das muss ja sein. Wenn ich meine Feinde nicht ernst nehme, dann werde ich im Kampf gegen sie verlieren. Man muss alles, was man zeigt, liebevoll durchschaubar und sichtbar machen.

Den »Freischütz«, hatten Sie überlegt, wollten Sie durchaus noch einmal inszenieren, dann aber als Puppentheater und mit Akkordeon, also noch mehr dieses Volkstümliche hervorkehren. Übrigens, die »Zauberflöte«, auch so ein volkstümliches Stück, haben Sie sechsmal inszeniert.

Ich war als Kind vom Kasperletheater immer sehr beeindruckt und auch etwas mit Angst besetzt, wenn der Teufel, der Tod und der Höllenhund auftraten. Ich habe an die Verwandlung wirklich geglaubt, obwohl ich genau gesehen habe, dass dahinter jemand steht, der das alles macht. Wir sind als Erwachsene immer noch diese Kinder, die so etwas lieber und bewusster wahrnehmen können, als einen Horrorfilm anzuschauen.

Sie haben sich, wenn man alles zusammenrechnet, sechs Jahre lang mit dem »Ring des Nibelungen« beschäftigt, vier Jahre in Los Angeles, dann noch einmal zwei Jahre in Mannheim für die zweite Version. Dabei handelt es sich um Richard Wagner, und Sie haben vorher erklärt, wie komplex dieses Werk ist. Dagegen ein Komponist wie Philip Glass, der ja von manchen als ein Komponist der Simplizität betrachtet wird: Es ist Minimal Music, ein ständiges Repetieren, es hat nicht diese Tiefendimension, auch nicht diese strukturelle Dimension wie bei anderen Komponisten. Trotzdem waren die Opern von Philip Glass viele Jahre Gegenstand Ihrer Beschäftigung, erst an der Stuttgarter Staatoper in den Achtzigerjahren mit den drei Opern »Satyagraha«, »Echnaton« und »Einstein on the Beach«, und noch einmal in Potsdam 2009 mit »The Fall of the House of Usher«. Was fasziniert Sie an diesem Komponisten?

Wenn ich sagen sollte, welcher für mich der bedeutendste und Lieblingskünstler in meiner Zeit wäre, würde ich Andy Warhol nennen, der mit all diesen Fragen von Simplizität, Wiederholung, Künstler-Sein für eine Minute usw. umgegangen ist und das auch wirklich künstlerisch realisiert hat. Es gibt dann immer Varianten und Fortsetzungen, was etwas sehr Fruchtbares und auch Normales ist. Dazu gehört auch Philip Glass in bestimmter Hinsicht. Als diese Musik das erste Mal in mein Ohr drang, da war ich, glaube ich, in Paris und umgeben von einem wahnsinnigen Motorrad- und Autoverkehr. Ich hörte diese Klaviermusik und dachte, unglaublich, das ist genau der neue Schritt in unsere Zeit: radikale Wiederholung, minimalistisch und gewaltig und mit den Suggestionen der Steigerung und der Dynamisierung eines Motives arbeitend. Nachdem ich dann drei Werke von Glass auf die Bühne gebracht hatte, war ich damit erst einmal fertig. Besonders schwer war es, für »Einstein on the Beach« ein neues Konzept zu entwickeln, weil dieses Werk bei der Uraufführung von Robert Wilson schon sehr stark geprägt war. Er hatte auch Rechte daran, weil er Miterfinder dieser Oper war. Aber ich bin ja mit Wilson sehr sympathisch bekannt. Und es hat ihm immer alles gefallen, was ich gemacht habe, und auch, was ich mit seinem Werk veranstaltet habe.

Viele sagen, dass Sie etwas, auch künstlerisch, mit Robert Wilson verbindet. Ich bin nicht so sicher, ob Sie dem zustimmen würden.

In der großen Theaterlandschaft sind wir zwei einsame Brüder, das ist sicher richtig, da kommt Christoph Marthaler noch dazu und einige andere, Anne Teresa De Keersmaeker zum Beispiel, Pina Bausch schon nicht mehr, das ist eine andere Welt. Aber diese Bruderschaft besteht nur in der Einsamkeit, in dieser riesigen Landschaft eigene Wege zu gehen. Ich bin ein schmuddeliger und sinnlicher Künstler, der die Fehler sehr liebt, die passieren, und mit ihnen wieder zu neuen Dimensionen kommt. Wilson ist unglaublich ästhetisch und streng und farblich kalkuliert. Ich bin mitunter überbordend mit allen Mitteln und der Unsauberkeit, der Ausgefranztheit, der Rauheit, sonst wäre meine Kunst süß und gefährdet.

Schmuddeligkeit, Gebrauchtheit, Vielgestaltigkeit: Vorher haben wir von den edlen Stoffen gesprochen, aus denen sich Bertolt Brecht seinen Anzug hat schneidern lassen. Das erinnert mich an den Begriff »DDR-Rokoko«. Ich rede jetzt von der »Clavigo«-Inszenierung 1971 am Deutschen Theater mit Adolf Dresen als Regisseur. Erklären Sie uns, was »DDR-Rokoko« ist.

Mich hat interessiert, die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen im »Clavigo«, also den Hof und die bürgerliche Gesellschaft, genau über die wenigen Stoffe, die es in der DDR gab, zu kennzeichnen, Stoffe, die allen bekannt waren, die die Regierung gekauft hat als Vorhänge, als Gardinen und als Tischdecken, die Stoffe, die der einfache Mann sich leisten konnte. Die waren in der DDR alle im Muster bekannt, als ich daraus Bühne und Kostüme gebaut und geschneidert habe. Es gab dann sehr deutliche rote und grüne Farbkontraste. Das hielt man für Hippie- und Popkunst und hat gesagt, das sei eine konvergierende Bildsprache mit dem Westen, das müssen wir sofort verbieten. Tatsächlich kam es nach der ersten Aufführung auch zu einem Verbot, obwohl alle Limousinen der Regierung vor der Tür standen und deren Insassen die Premiere gesehen hatten und keiner Anstoß daran nahm. Der aufgeregte Intendant hat die Inszenierung danach hektisch verboten und mir Hausverbot erteilt. Ich habe gegen das Theater prozessiert. Heiner Müller riet mir, ich solle die Finger davon lassen, das habe doch keinen Sinn. Aber es wurde für mich entschieden, und man hat mich gefragt, ob ich den »Clavigo« noch einmal machen wolle. Da habe ich gesagt, gut, aber nur noch einmal mit der gleichen Bezahlung, so einen Hass hatte ich auf diese Leitung. Es hieß dann noch, aber bitte keine Blumen und keine bunten Farben und keine roten Socken. Nein, habe ich gesagt, nur schwarz-weiß. Ich habe dann radikal Kostüme aus dem Fundus gesucht, schwarz oder weiß angestrichen, Versatzstücke von der Bühne, ein Fenster, das zur Tür wurde, eine Tür, die zum Fenster wurde, und das war’s. Und das war natürlich noch einmal ein guter Schritt. Da habe ich gelernt, ein Stück zweimal zu machen, ganz verschieden.

Hat man diese bunten DDR-Stoffe für die Hippiekultur der Blumenkinder gehalten, oder war es eher eine Vorführung der trostlosen Warenwelt in der DDR?

Das Erstere war der Fall. Ich hatte überhaupt nicht einberechnet, dass man diese Stoffe gar nicht mehr wiedererkennen würde und sich getroffen fühlte. Man hat gesehen, dass mit Phantasie buntes Zeug zusammengenäht worden ist, und das so interpretiert, dass der Jugend ein neuer Weg gezeigt werden soll, wie sie sich kleiden könnte, wie sie auftritt, wie die Welt aussehen sollte. Das wurde sehr missverstanden.

Man hat Sie in der DDR nach dem Skandal mit der »Clavigo«-Inszenierung zwar rehabilitiert, aber ein Jahr später, 1972, sind Sie in den Westen gegangen. War diese Erfahrung nur der Auslöser dafür?

Zu dem Zeitpunkt meiner Rehabilitation war ich in Florenz, wo wir mit dem »Guten Menschen von Sezuan« gastierten. Meine Kinder waren gerade geboren worden. Man nahm an, dass ich auf jeden Fall zurückkommen würde, deswegen durfte ich fahren. In Italien habe ich wunderbare Szenen erlebt, wie zum Beispiel Professoren mit ihren Studenten lauthals im Restaurant diskutierten. Wir haben in der DDR immer sehr leise gesprochen, und jeder Gedanke, der wichtig war, musste eigentlich fast verschwiegen werden. Diese Freiheit des Denkens und des sich Bewegens hat mich so beeindruckt, noch dazu das südliche Temperament, dass ich dachte, ich verkümmere in meinem Land. Ich litt auch die ganze Zeit an Rückenschmerzen, die keine körperliche, sondern eine psychische Ursache hatten und mit einem Schlag, als ich im Westen war, weg waren. Später, 1982, als ich noch einmal in Berlin an der Staatsoper »Orfeo ed Euridice« inszenierte und die Berliner Sprache wieder hörte, war ich unterbewusst wieder im Osten, und da war wieder ein Hexenschuss, aber sonst bin ich frei davon geblieben, Gott sei Dank.

Mögen Sie erzählen, wie es gelungen ist, die Familie nachzuholen?

Das war sehr abenteuerlich und kompliziert. Mein Pass war merkwürdigerweise für länger ausgestellt, als für das Gastspiel nötig gewesen wäre. Darum konnte ich legitimiert sagen, ich will einmal Joseph Beuys treffen, ich möchte den Grünewald-Altar besuchen, und sagte, ich käme dann wieder, nachdem ich etwas unfair meinen Koffer mit lauter Telefonbüchern aus den Hotelzimmern, die schon frei waren, bepackt in den Bus brachte und meinen wirklichen Koffer mit meinen Sachen für die Flucht in ein Schließfach geschlossen hatte. Ich bin dann im Westen geblieben, nur die Telefonbücher sind bei meiner Frau angekommen, die vergeblich nach irgendwelchen Schlüsselnachrichten in diesen Büchern suchte. Ich habe dann für sie Fluchthelfer gefunden, ehe ich hätte wieder zurück sein müssen, die sehr zuversichtlich und überzeugend wirkten, die ich aber nie persönlich kennen gelernt hatte. Für ein sehr großes Geld ist nach einem halben Jahr die Flucht gelungen. Das war eine sehr harte Zeit, weil ich natürlich meine Familie einer Gefährdung aussetzte. Meine Frau hat, wenn sie aus dem Haus ging und zurückkam, so einen merkwürdig anderen menschlichen Geruch gespürt, bis sie dachte, hier war doch jemand. Sie hat Mehl auf den Flur gestreut, ganz fein geblasen mit dem Mund, und ist wieder weggegangen, und dann waren im Mehl Fußspuren zu sehen. Von den Freunden und Bekannten, die kamen, wusste man von keinem, ob er von der Stasi war und meine Frau gerade ausfragt. Sie konnte tatsächlich auch nicht sagen, dass ich mit ihr abgesprochen hätte, dass ich gehen würde, und konnte und musste immer so tun, dass sie mit einer Tatsache konfrontiert ist, die sie nicht ahnte. Nur über dieses ganz strenge Verschweigen, das erinnert mich wieder an Wotan und Wagner, hat das Ganze funktioniert.

Sie haben gerade sehr eindringlich die Repressionen, nicht nur die künstlerischen, in der DDR geschildert. Sie haben auch die Nazi-Zeit miterlebt und haben einmal gesagt, dadurch bin ich zu einem wütenden Menschen geworden, aber ich bin ein sehr leiser Regisseur. Wie passt das zusammen: diese Wut und dieses bedächtige, dieses leise Agieren und Formulieren, das ich bei Ihnen im Gespräch spüre?

Das Leise, wie ich schon sagte, kommt aus der DDR, weil man nie gelernt hat, laut zu sprechen. Italien ist so phantastisch. Die Kinder sitzen nachts noch mit am Tisch, und man hört ihnen zu. Die Erwachsenen freuen sich, wenn die kleinen Kinder etwas sagen. Wann hat mir je jemand zugehört? Mein Mut, laut zu sprechen, wurde mehr und mehr gebrochen in meinem Leben, und die Stimme und alles stellt sich darauf ein, das kriegt man nicht mehr weg. Das heißt aber nicht, dass meine Wut und meine Enttäuschung oder meine Aggressionen klein sind. In der leisen Stimme hört man genau die Vibration der Erregung. Das kann die gleiche Wirkung haben wie Schreien, vielleicht sogar eine größere, aber auf Wirkungen gehe ich da nicht aus. Ich bin so, wie ich bin.

Abschließend möchte ich noch auf Ihre erste Arbeit für das Operntheater zu sprechen kommen, den »Barbier von Sevilla« an der Berliner Staatsoper 1968. Regie führte Ruth Berghaus. Sie haben die Bühne gestaltet. Es ist eine Inszenierung, die heute noch im Repertoire ist. Ich habe die 341. Vorstellung gesehen. Wie erklären Sie sich, dass diese Produktion noch heute im Repertoire gespielt wird?

Das ist ja mein Prinzip, dass ich, wenn ich künstlerisch arbeite, und Theater ist ja eine künstlerische Arbeit, etwas Zeitloses schaffen möchte. Das habe ich schon vor meiner Beschäftigung mit Wagner immer vertreten. Ein van Gogh ist immer noch ein aufregendes Bild und immer noch neu, ein Velázquez auch, ein Holbein, ein Cranach oder Hieronymus Bosch. Denn wer hat diese Maler wirklich ergründet? So muss Theater auch sein. Vielleicht hat das damit zu tun, dass die Leute den »Barbier« heute als eine neue Inszenierung erleben. Ruth Berghaus ist lange tot. Mir hätte es auch schon passieren können. Ich habe aber das Glück gehabt, noch einmal mit Daniel Barenboim eine Wiederaufnahme zu machen und das Stück neu einzuleuchten. Ich hatte damals 24 Lichtstimmungen für zweieinhalb Stunden Theater, heute brauche ich 350 Stimmungen für die »Walküre«. Wie einfach man war und wie modern eigentlich. Moderner als jetzt.

Diese Inszenierung ist ein Commedia-dell’arte-Theater, da gibt es nicht viel mehr als wehende Vorhänge und Stoffbahnen. Das ist eigentlich, wenn man es vom Material anschaut und von den Requisiten, sehr simpel.

Ja, es ist simpel. Mich hat interessiert zu erzählen, wie in demselben Raum sich Verwandlungen ereignen können, wie ein Außenraum entsteht und wieder zu einem engen Innenraum wird, ohne dass der Gesamtraum sich verändert. Ich habe mit perspektivischen Linien eine Straße geschaffen, die auf diese Weise eine große Tiefe bekam, und dann mit antiperspektivischen Linien auf den gleichen Vorhängen einen Innenraum, sodass er ganz nah wirkte und die Figuren ganz groß machte und umgekehrt auf der Straße die Figuren klein. Dazu kam die Leichtigkeit des Spiels wie ein Abheben vom Boden. Das Stück ist so einfach und leicht und spielerisch, dass wir über diese Freiheit ganz viel Phantasie entwickeln können, was unsere eigene Verfassung betrifft.

Mannheim, März 2012

Oper - aber wie!?

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