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Merkwürdige Geschichten erzählen in merkwürdigen Räumen
ОглавлениеAndrea Breth holt die Theaterstoffe in einen heutigen Erzählrahmen und zeigt drastische Bilder. Eine Irrenanstalt, ein Edelbordell, ein Schrottplatz, eine Designervilla sind Schauplätze, die sie genau auf die agierenden Menschen auf der Bühne bezieht. Als »psychologischer Realismus« ist ihr Stil bezeichnet worden.
Andrea Breth ist eine der bekanntesten Schauspielregisseurinnen unserer Zeit. Sie war auf den deutschsprachigen Bühnen eine der ersten Regisseurinnen überhaupt. Schon im Alter von 32 Jahren wurde sie 1985 Regisseurin des Jahres. 2015 ist sie mit dem Schillerpreis und mit dem Theaterpreis »Der Faust« ausgezeichnet worden.
Sie war künstlerische Leiterin der Berliner Schaubühne und inszeniert seit 1990 am Burgtheater Wien. In ihren weit über 50 Inszenierungen hat sich Andrea Breth vor allem als Regisseurin von Theaterklassikern einen Namen gemacht, von Stücken von Lessing, Kleist, Schiller oder Shakespeare und von russischen Autoren wie Tschechow und Gorki.
Seit 2000 arbeitet sie auch für die Oper und hat seitdem zwölf Produktionen betreut, darunter »Orpheus und Eurydike« von Gluck, »Eugen Onegin« von Tschaikowsky, »La traviata« und »Macbeth« von Verdi, »Jakob Lenz« von Rihm und zuletzt »Herzog Blaubarts Burg« von Bartók.
Andrea Breth sagt von sich, ihre Zugangsweise zur Musik und auch zu einem Theaterstück sei bildlich. Auf der anderen Seite ist sie für ihre überaus intensive Lektüre- und Recherchearbeit bekannt, wobei sie ihre Inszenierungen gerade nicht mit dramaturgischen Details überfrachtet, sondern auf der Probe entwickelt.
Was verstehen Sie unter einem bildlichen Zugang?
Damit meine ich zunächst den Theaterraum. Ich bin sehr abhängig davon, in welchen Räumen etwas stattfindet. Theater ist immer ein Raum. Auch wenn der Raum völlig schwarz ist, ist es trotzdem ein Raum. In den Räumen beginne ich zu phantasieren. Ich bin niemand, der am Schreibtisch schon alles ganz klar hat. Manchmal ist es auch ein eigenwilliger Satz, der meine Beschäftigung mit einem Stück auslöst. Als ich vor vielen Jahren an der Schaubühne von Arthur Schnitzler »Der einsame Weg« inszenierte, fragte mich Botho Strauß, warum ich mich mit diesem Stück beschäftige. Mir war es ein bisschen peinlich, diese Frage zu beantworten. Ich sagte ihm, das war wegen des Satzes von Schnitzler: »Über allem liegt ein Schleier.« Solche auslösenden Dinge mögen für Außenstehende höchst merkwürdig sein. Aber für mich entstehen daraus Bilder, die sich konkretisieren können oder entschwinden, die psychologische Implikationen haben können oder auch gar nicht. Man könnte sagen, das ist bezogen auf die Oper die Phase des »Vor-sich-hin-Delirierens« beim Hören der Musik.
Bei Ihrer Inszenierung von »Herzog Blaubarts Burg« von Béla Bartók für die Wiener Festwochen 2015 ist Kent Nagano der Dirigent, dem man nachsagt, er würde die Partituren analytisch behandeln. Haben Sie auch einen analytischen Zugang zur Musik?
Nein, ich glaube nicht. Ich habe einen ziemlich sinnlichen Zugang und analysiere Musik überhaupt nicht. Wenn ich die Musik ertragen kann, löst sie in mir konkrete Empfindungen und starke Emotionen aus. Aber ich bin ja auch kein Dirigent.
Ich möchte über Ihre Inszenierungen der Opern von Alban Berg an der Staatsoper Berlin sprechen, 2011 »Wozzeck« und 2012 »Lulu«. Dirigent war jeweils Daniel Barenboim. Über »Wozzeck« sagten Sie, die Oper von Alban Berg sei Ihnen viel lieber als das Theaterstück von Georg Büchner.
Ich finde, dass Alban Berg die beste Fassung aus Büchners Fragment gemacht hat. Als ich die Oper zum ersten Mal hörte, konnte ich mir das Theaterstück überhaupt nicht mehr vorstellen. Ich habe übrigens noch nie eine gute »Woyzeck«-Aufführung im Schauspiel gesehen. Für mich ist die Musik von Alban Berg diesem Stoff kongenial.
»Wozzeck« von Berg ist von der Dramaturgie her ein sehr konzises Stück. Die Szenen sind klar gegliedert, Berg hat jede Szene sogar mit einem klassischen musikalischen Formmodell überschrieben, was man im Theater natürlich so nicht wahrnimmt. Es gibt aber klare dramatische Verläufe, ganz anders als in »Lulu«. Sie sagen auch, »Wozzeck« sei Ihnen leicht gefallen.
Mir war sehr schnell klar, dass ich die Zwischenspiele schwarz und uninszeniert sein lassen würde, damit deutlich wird, dass es sich um eine Abfolge von Stationen handelt. Diese Abfolge »Bild – schwarz – Bild – schwarz« verdeutlicht die entsetzliche Enge, in der sich Wozzeck befindet, ein geschundener Mensch, der aufgrund seiner Ernährung krank und impotent geworden ist. Er darf nicht bei seiner Frau schlafen, sondern muss nachts in die Kaserne. Wenn Marie sich von ihm abwendet, ist das nur Ausdruck ihrer ganz normalen Bedürfnisse. Sie ist also keine furchtbare Frau. Und dann ist da noch dieses uneheliche Kind. Also insgesamt eine sehr harte Geschichte. Um das zu verdeutlichen, haben Martin Zehetgruber, der Bühnenbildner, und ich uns entschieden, die Situationen möglichst hart und auf engem Raum darzustellen.
Sie sagten, Musik löse bei Ihnen konkrete Empfindungen aus. Was Sie gerade beschrieben haben – Wozzeck muss in der Kaserne schlafen, Marie hat ein ganz normales Begehren als Frau usw. –, das sind aber doch erst einmal literarisch-dramaturgische Gedanken.
Ja, aber ich trenne das überhaupt nicht. Ich arbeite zum Beispiel mehr mit der CD als mit dem Klavierauszug. Auch auf der Probe im Musiktheater schaue ich nicht in den Klavierauszug, sondern ständig auf die Bühne. Dabei kann es vorkommen, dass für mich die ganze Situation so intuitiv ist, dass ich im Moment gar nicht bemerke, dass auf Tschechisch oder in sonst welchen Sprachen, die kein Mensch lernen kann, gesungen wird. Aber ich weiß, was die Darsteller singen, und ich mache dann das, was ich auch im Schauspiel mache: Ich inszeniere Situationen und versuche, den Figuren einen Subtext zu geben, also zusammen mit den Darstellern herauszufinden, was das für ein Mensch ist. Mit großen dramaturgischen Überhöhungen kann ich nichts anfangen, das meine ich auch nicht, wenn ich von bildlichen Zugängen spreche.
Und wie war es bei »Lulu« an der Berliner Staatsoper mit dieser speziellen Fassung ohne die Paris-Szene im dritten Akt und ohne den Prolog im Zirkus?
Wenn Sie schon von »Lulu« reden, muss ich sagen, dass ich überhaupt kein Freund von »Lulu« bin. Ich mag die Oper nicht. Ich war sehr dankbar, dass Daniel Barenboim sich darauf eingelassen hat, diese Paris-Szene, die ich für unsäglich halte, rauszuschmeißen, und dass ich die Chance hatte, das Stück sozusagen rückwärts zu erzählen. Deswegen gibt es ja auch diesen hinzugefügten Text von Kierkegaard am Anfang über das Erinnern. Aber dass es überhaupt zu dieser Produktion kam, ging auf einen Deal mit Barenboim zurück. Nach »Eugen Onegin« bei den Salzburger Festspielen durfte ich mir was wünschen. Das war »Wozzeck«, wohl wissend, dass Barenboim das schon ganz häufig dirigiert hat. Er war einverstanden, und ich bin mit großer Freude nach Berlin gegangen. Es dauerte aber nicht lange, bis das Telefon klingelte und er sagte: »Du, ich habe dir was geschenkt. Jetzt schenkst du mir was.« – »Ja, was denn?« – »Lulu!« Da dachte ich: »Nee, um Gottes willen!« Also ich wäre nie selber auf die Idee gekommen, »Lulu« zu inszenieren, denn ich finde, es ist im Vergleich zu »Wozzeck« das schwächere Stück.
Verschiedentlich ist bemerkt worden, dass das Libretto von »Lulu« aus einer Ansammlung von surrealistischen, geradezu irrsinnigen Dialogen besteht. Es gibt eigentlich keine Handlung. Handlung findet nur in den Szenenbeschreibungen statt. Die Dialoge sind, platt gesagt, Nonsens. Ist dies auch ein Grund dafür, dass Sie das Stück nicht mögen?
Das weiß ich nicht, ob sie Nonsens sind. Für mich ist es so, dass ich an den Autor Wedekind nicht glaube. Ich beziehe mich da auch auf einen interessanten Satz von Alban Berg, der geäußert hat, er wisse nicht, ob Wedekind ein großer Dichter sei. Jetzt sagen mir andere Leute, ich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank, so über »Lulu« zu reden. Aber ich bleibe dabei, für mich hat das keinen literarischen Wert. Ich habe einfach ein Problem damit, wenn ich in einem Libretto von einer Dummbeutelei auf die nächste stoße: Ständig wird jemand umgebracht, dann diese verqueren, neurotischen Liebesbeziehungen oder die Losung, dass die Frau als Frau gesehen werden möchte und nicht, wie sagt man, als Projektion. Das ist doch alles bekannt und in zehn Minuten gesagt. Dafür muss ich nicht stundenlang in der Oper sitzen.
Und deswegen haben Sie für »Lulu« eine Art choreografisches Theater erfunden, etwas ganz Eigenes, haben Sie gesagt, etwas Bildliches, etwas, was auch eine neue Theaterqualität hat?
Deswegen, weil ich mir das realistische Erzählen mit diesem Text und mit dieser Musik überhaupt nicht vorstellen konnte. Wir haben die verschiedenen Erzählstränge ineinander verwoben. Die Geschwitz ist in dieser Aufführung sehr viel früher auf der Bühne, und es werden Sachen erzählt, die eigentlich viel später stattfinden. Dann gibt es eine Figur, die wie durch ein Museum geht und sich den ganzen Wahnsinn anschaut. Die Alwa-Figur verwandelt sich in einen Kameramann. Das bezieht sich auf den Film »Die Büchse der Pandora« von Georg Wilhelm Pabst, von dem Ausschnitte auf einer Autoscheibe zu sehen sind. Dieser Blick, wo die Augen immer auf- und zugehen, das ist direkt aus dem Film genommen. Dann gibt es verschiedene andere Dinge in dieser Aufführung, die alle mit dem zu tun haben, was in dieser Zeit um diese Lulu-Figur herumgegeistert ist – als eine Art Rätselraten oder Puzzlespiel.
Ist es nicht eine Art choreografisches Theater, eine Art Bewegungstheater, in dem man eigentlich einzelne Geschichten nicht mehr erkennt und auch keine Personen? Selbst die Lulu habe ich nicht mehr als Person wahrgenommen, sondern als eine leblose Madonna.
Das ist sie ja auch. Es gibt aber schon Geschichten, die wir erzählen, sie sind nur sehr formal. Es gibt ja auch Filme, die sehr formal sind. Ich denke zum Beispiel an typische Szenen aus dem Film-noir-Genre: Ein Mann steht unter einer Laterne, man sieht den Schatten, und es taucht von irgendwoher eine Frau auf. Da kann ich hineinlesen, was ich will. Unsere Bilder aber waren dagegen sehr konkret. Der Doktor Schön liest in der Zeitung die Börsenberichte usw. Man muss es nur entschlüsseln.
Wie sind Sie auf dieses Bühnenbild gekommen, auf diesen Raum? Auf der linken Seite sieht man übereinandergestapelte Schrottautos, auf der rechten Seite Stahlskelette. In einer Szene wird das Stahlskelett sogar zur Kreuzigungsstätte. Lulu wird wie eine Christus-Figur gekreuzigt.
Ich mag es eigentlich nicht, meine Inszenierungen selbst zu entschlüsseln. Aber am Anfang, wenn Lulu mit dem Maler zusammen ist, formt er sie in demselben Rahmen, der auch ein Bilderrahmen sein könnte, in dem sie später gekreuzigt und dann vernichtet wird durch ein Feuer. Was den Raum betrifft, dachten wir an kaputte Städte, in denen gar nichts mehr ist oder höchstens seltsame Sachen passieren. Wir haben uns Fabrikhallen angeschaut, wie sie in Detroit stehen. Detroit ist ja eine völlig tote Stadt. Für mich sind Lulu und die anderen Figuren auch tote oder künstliche Figuren. Sie verkörpern seltsame Klischees und laufen durch eine seltsame Welt.
Sie gelten als eine Regisseurin, die die Stücke unverändert lässt und mit dem vorgegebenen Text arbeitet. Das war bei »Lulu« nicht so. Sie haben im dritten Akt die Paris-Szene weggelassen, ebenso den Prolog mit der Zirkusszene. Bei »Lulu« war für Sie die überlieferte Werkgestalt also nicht integral und nicht unbedingt zu erhalten?
Ich bin schon der Meinung, dass ich viele Dinge erhalten habe, aber ich habe sie in andere Beziehungen gesetzt, zum Beispiel die Zirkusszene: Man sieht in unserer Inszenierung einen Athleten ganz weit entfernt bei einer Art von Hanteltraining und beim Balancieren auf einem Seil. Später kommt er in den Vordergrund, und dann erkennt man ihn als Athleten wieder. Ich habe mir die Freiheit genommen, solche Fragmente hineinzunehmen. Es gibt ja auch mehrere Lulus, unendlich viele Lulus, die im Schubkarren zu Tode gefahren werden von Jack the Ripper, der nicht nur eine Frau umgebracht hat, sondern eine ganze Sammlung an Opfern besaß. Aber Sie haben recht, ich habe »Lulu« nicht auf die Art und Weise erzählt, wie ich sonst Stücke erzähle.
Ich höre Ihren Unwillen gegenüber dem Stück, der zu einem bestimmten Umgang damit geführt hat. Das bringt mich zur Barockoper. Barockopern sind ja auch wie Versatzstücke aufgebaut, bieten aber viele Möglichkeiten für den Regisseur, Neues hinzuzudenken, zu arrangieren, auch zu choreografieren und zu inszenieren. Sie haben bisher keine Barockopern inszeniert. Ihr frühestes Stück war Glucks »Orpheus und Eurydike« für die Oper Leipzig.
Das war sogar meine erste Arbeit für die Oper. Es ist auch keine Barockoper mehr, ein Genre, das mich nicht interessiert. Bei Gluck fand ich die Geschichte grandios. Natürlich muss man eine Form dafür finden, wie man sich einen Orkus vorstellen kann und wie ein Elysium. Entstanden ist eine relativ abstrakte Inszenierung, wobei die Sänger, die Orpheus und Eurydike gesungen haben, einen genauen innerlichen Ablauf hatten und genau wussten, wer sie sind. Eurydike habe ich als seine Muse gesehen. Orpheus wäre also nicht in der Lage gewesen, irgendetwas als Künstler zustande zu bringen, solange sie verstorben ist. Erst wenn er sie zurückholt, kann er eine der schönsten Arien überhaupt schreiben. Aber die Frau spielt dabei nur die Rolle, ihn wieder zu seinem künstlerischen Dasein zu erwecken. Wenn man den Figuren, eigentlich mag ich das Wort nicht, ich meine: den Menschen, eine solche Bestimmung gibt, kann man auch die Räume um sie herum gestalten. Genauso habe ich es bei »Lulu« gemacht.
Noch einmal zu »Wozzeck«. Was in Ihrer Inszenierung unmittelbar auffällt, ist die Körperlichkeit der Figuren, insbesondere Wozzecks und auch des Tambourmajors, den zeigen Sie als unförmigen Muskelprotz. Mit fast gorillahaften Bewegungen tapst er über die Bühne. Warum rücken Sie diese wuchtige Körperlichkeit derart ins Bild?
Das ist eine schwere Frage. Ich weiß ich gar nicht, warum ich das gemacht habe. Also, ich denke mal, dass Menschen, die einen eher niedrigen IQ haben, sich immer körperlicher ausdrücken als etwa Intellektuelle. Das kann man beobachten. Im »Wozzeck« werden Prototypen gezeigt. Der Tambourmajor ist einfach ein Muskelprotz, damit gibt er ja auch an. Das ist im Text verankert. Was die Titelrolle betrifft, sprechen Sie von der Wiederaufnahme mit Michael Volle. Ursprünglich hatte das Roman Trekel gesungen, der ein ganz hagerer Mensch ist. Auf seinen Typ war das aufgebaut. Michael Volle ist ein wunderbarer Sänger, aber ein völlig anderer Typ von Mann.
Kommen wir zu »Jakob Lenz« von Wolfgang Rihm. Das Stück haben Sie für die Staatsoper Stuttgart inszeniert. »Jakob Lenz« könnte man einerseits als eine Art Historiendrama bezeichnen, aber es beinhaltet andererseits auch die Krankheitsgeschichte der Hauptperson. Im Programmbuch steht ein interessanter Artikel, in dem darüber spekuliert wird, unter welcher Krankheit Lenz leidet: Handelt es sich um Schizophrenie, oder ist es eine durch gesellschaftlichen Druck erzeugte psychische Erkrankung? Haben solche Überlegungen bei Ihrer Arbeit eine Rolle gespielt?
Nein, eigentlich nicht. Dass Lenz krank ist, das ist schon richtig. Mich hat aber nicht interessiert, ob er nun schizophren oder manisch-depressiv ist. Lenz war krank an der Welt. Das ist das Wichtige. Er war mit seinem Schreiben seiner Zeit weit voraus, wurde deswegen geächtet, vor allem aus dem Goethe-Kreis, und hatte keine Existenzgrundlage mehr. Dann erst ist die Krankheit ausgebrochen.
Also eine durch gesellschaftliche Umstände erzeugte Krankheit?
Ja, denn zwischendurch ist er komplett klar. In der langen Szene in der Mitte des Stückes, in der Auseinandersetzung mit Kaufmann, der auch Literat war, nicht nur Apotheker, geht es um die Frage der Weltsicht. Lenz wirft Kaufmann vor, dass er nicht den Menschen als solchen sieht, sondern nur das ewig Schöngeistige und das Idealistische, was ihn nicht interessiert. Lenz ist ja der Autor der »Soldaten«. Niemand in Weimar hätte Menschen, die nur Soldaten sind, auf die Bühne gebracht. Das galt als geschmacklos, jedenfalls nicht als Gegenstand der Literatur. Lenz war sicher der Typus eines Künstlers, der seiner Zeit voraus war.
Das hat ja auch mit Ihrer Lebensgeschichte zu tun. Sie hatten an einer Depression gelitten und ganz offen darüber gesprochen, auch Zeitungsinterviews dazu gegeben.
Mir ging es darum, bewusst zu machen, dass es sich um eine ernst zu nehmende Krankheit handelt, über die viel zu wenig informiert wird, höchstens dann, wenn ein berühmter Fußballer unter dieser Krankheit gelitten hat. Mein Plädoyer ist eigentlich, dass nicht die Kranken darüber sprechen müssen, sondern die Ärzte: dass es sich um eine Krankheit handelt, die man bekommen kann wie eine Grippe, wenn man nicht in guter Behandlung ist. Mir hat einmal jemand gesagt, wenn er sich in einer Straßenbahn umschaute, würde er einen Wagen voll mit Menschen sehen, die diese Krankheit haben und versuchen, sie zu verbergen.
Ihre eigenen Krankheitserfahrungen spielen aber für Ihre künstlerische Arbeit keine Rolle?
Nein, überhaupt nicht. Ich bringe ja nichts Privates auf die Bühne. Wenn ich das wollte, würde ich etwas schreiben oder malen. Mich interessieren die Stoffe, die Dramen, die Opern. Das hat mit meinen privaten Befindlichkeiten gar nichts zu tun.
Wir sprachen gerade über eine zentrale Szene in »Jakob Lenz« von Wolfgang Rihm, in der der Diskurs zwischen Kaufmann und Lenz stattfindet, die Kunstdebatte. Sie haben aber, das war meine Wahrnehmung, dieses Stück nicht als eine Art Diskussionsstück angelegt, sondern Lenz als Kreatur gezeigt, zum Beispiel im Schlussbild, wo er in der Irrenanstalt ist und kotbeschmiert Ekel erregt, auch bei seinen Betreuern Oberlin und Kaufmann.
Es geht wirklich nur um diese eine Szene mit Kaufmann. An dieser Stelle wollte ich zeigen, dass Lenz seiner geistigen Kraft vollkommen inne ist. Trotzdem ist der reale Lenz ins Irrenhaus gekommen. Und in der Novelle von Büchner heißt es so schön und so schlimm: »Und so ging es dahin.« In Wolfgang Rihms Oper ist das in die unablässig am Schluss wiederholte Formel »konsequent, konsequent …« übertragen worden. Der reale Lenz ist ganz erbärmlich auf einer Straße in Moskau gestorben. Diese Tragödie hat mich interessiert, genauso wie mich der Dichter Lenz interessiert hat. Und ich finde, dass Rihm, obwohl er es als Kammeroper bezeichnet, eine ganz großartige Oper daraus gemacht hat, kein Operchen!
Und deswegen haben Sie darauf bestanden, dass die Aufführung im Großen Haus in Stuttgart und nicht im Kammertheater stattfindet?
Das war mit Jossi Wieler und Sergio Morabito, den Verantwortlichen in Stuttgart, überhaupt keine Debatte. Die haben das sofort verstanden. Die Aufführungen waren ausverkauft. Zum Schluss gab es sogar eine Liveübertragung ins Stuttgarter Kammertheater für diejenigen, die keine Karten bekommen haben. Also von wegen Operchen!
Ich möchte noch einmal auf Ihre Bildsprache zurückkommen. Man sieht in Ihren Inszenierungen oft drastische Bilder, zum Beispiel wenn Sie Jakob Lenz in einer Irrenanstalt zeigen oder wenn er eingezwängt in einem Regalfach liegt wie in einer Asservatenkammer. Drastische Bilder gab es auch bei »Wozzeck« in der Wirtshausszene, wo uriniert wird, wo gekotzt wird, oder in »La traviata« an der Brüsseler Oper, wo Frauen in Containern angeschleppt werden und auf der Bühne sexuelle Praktiken angedeutet werden, die so weit gingen, dass der Intendant Peter de Caluwe Zettel verteilen musste, auf denen er um Verständnis warb und auf die Kunstfreiheit hinwies. Wie entstehen solche drastischen Bilder?
Sie sind nichts anderes als die Wirklichkeit. Man kann nicht so tun, als gäbe es das nicht. Als Verdi »La traviata« schrieb, war es ein Skandal, dass eine Hure auf der Bühne singt. Diese Situation muss ich doch heute wieder einholen. Dass Frauen in Containern verschleppt werden, ist ein Fakt. Aber wenn man das im Zusammenhang mit einer Oper von Verdi zeigt, sind alle empört. Wir müssen heute die Wahrheit erzählen und nicht das Ganze in ein Plüschzimmer stopfen und nur zuhören, wie schön gesungen wird. Trotzdem hört man diese hinreißende Musik, nur in anderen Situationen, die ich mir ja nicht aus den Fingern sauge. Wir wissen doch von angesehenen Mitgliedern der Gesellschaft, die sich nachts peitschen lassen und am nächsten Tag Menschen anklagen, die genau das tun. Und das nennt sich dann moralisch.
Sie wollen die Wahrheit erzählen, Sie machen aber kein politisches Theater?
Ich denke schon, dass mein Theater politisch ist. Dafür muss ja nicht die SPD erscheinen. Politisch ist es insofern, als es die Gesellschaft betrachtet. Eine ganz andere Frage ist, ob man etwas verändern kann oder zumindest Vorschläge dazu hat. Diesen Mangel könnte man beklagen. Da muss ich gestehen: Ich habe keine Ahnung. Ich glaube, der Mensch ist nicht zu verändern.
Aber wenn ich die richtigen Schlüsse aus der Beobachtung Ihrer Arbeit gezogen habe, geht es Ihnen ja nicht um irgendeine Form von Veränderungstheater, Agitationstheater, Brecht’schem Theater usw., sondern um eine künstlerische Zeichnung dessen, was Sie Wahrheit genannt haben. Ist das eine Art von choreografischer Arbeit, choreografisch im Sinne von gedacht und gebaut?
Das ist ja immer so. Wenn man inszeniert, muss man eine Situation inszenieren. Ich würde das aber nicht als Choreografie bezeichnen. Ich inszeniere auch keine Bilder, sondern Vorgänge. Ein Video einzuspielen und davor irgendwelche Leute zu platzieren, diese Art von Theater mache ich nicht, sondern eher etwas ganz Einfaches: Ich versuche, Geschichten zu erzählen. Ich habe selber auch das Bedürfnis nach Geschichten und gehe dafür gerne ins Kino. Interessanterweise gehen viel mehr Leute ins Kino als ins Theater. Das ist ja auch mal zu befragen, warum das so ist. Weil vielleicht auf der Bühne nicht mehr so viele Geschichten erzählt werden.
Keine Inszenierung von Bildern, trotzdem haben Ihre Inszenierungen eine starke Bildlichkeit. Sie zeigen Brutalität und menschliche Kreatürlichkeit ungeschminkt. In »La traviata« liegt Violetta in der Schlussszene unter einer Plastikplane, und der Arzt untersucht die Sterbende erst, nachdem er von Annina oral befriedigt wurde. Solche Szenen wirken auf dem Theater anders und stärker als im Fernsehen oder im Kino. Weil das Theater direkter ist?
Das stimmt. Es gibt keine Trennwand. Man sitzt nah dran und will solche Szenen nicht sehen. In dem Stück »Motortown« von Simon Stephens, das ich am Wiener Akademietheater inszeniert habe, läuft ein ehemaliger Irakkämpfer Amok, schnappt sich ein junges Mädchen, geht mit ihm auf ein Militärgelände und erschießt das Mädchen. Ich hatte einen Spezialisten engagiert, der diese Tötungsszene so erscheinen ließ, als wäre es ein Durchschuss. Danach bekam ich viele Briefe, in denen mir gesagt wurde, wir hätten von Ihnen nicht erwartet, dass Sie so etwas auf die Bühne bringen. Es waren keine unintelligenten Briefe und auch keine Beschimpfungen. Ich habe dann zurückgeschrieben und gefragt, warum man solche Szenen ohne Weiteres akzeptiert, wenn sie in einer historisch-klassischen Situation gezeigt werden, was anders wäre bei Shakespeare, wo ununterbrochen gemordet wird. Der Unterschied ist, dass ein Stück wie »Motortown« so wirkt, als zeige es die Realität. Wenn wir aber im Fernsehen solche Bilder sehen, wirken sie nicht wie die Realität, obwohl sie wirkliches Geschehen dokumentieren. Wir schauen sie uns an wie einen Film, die Flüchtlinge in den Booten, die Opfer eines Terrorangriffs. Es kommt einem immer vor wie Kino.
Sie wollen Geschichten erzählen. Das ist vielleicht das, was man »psychologischen Realismus« genannt hat, der viele Ihrer Inszenierungen auszeichne. Wie verhält sich das bei Ihrer Inszenierung von »Eugen Onegin« bei den Salzburger Festspielen 2007? Das war ein sehr stringenter Erzählstrang. Sie haben aber gesagt, was Sie gezeigt hätten, sei an vielen Stellen surreal.
Ja, zum Beispiel die Szene mit den Beerenpflückerinnen im ersten Akt. Da stellt sich die Frage, wie man das ins Heute holt. Der geschichtliche Hintergrund ist: Die Frauen mussten singen, damit sie die Beeren beim Pflücken nicht essen. Das kann man aber auf der Bühne nicht erzählen. Wir haben dann Fotos von chinesischen Nähfabriken betrachtet. Unten schlafen die Frauen, oben wird genäht. Dann wird gewechselt. Die Näherinnen gehen also gar nicht mehr nach Hause. Das war sozusagen das Substitut für die Situation der Beerenpflückerinnen, denn kein Mensch weiß heute mehr, was diese Szene bedeutet und warum sie immer singen. Oder Larina, die Mutter von Tatjana: Sie ist eine Gutsbesitzerin, die die Leute auf gnadenlose Weise ausbeutet. Da haben wir gezeigt, wie allen Arbeitern, um sie zu entlausen, die Haare geschoren werden. Eigentlich ein ganz normaler Vorgang, den man aber sonst in der Oper nicht sieht. Ich wollte den Unterschied zwischen Angestellten oder Unterdrückten und dieser satten, herrschenden Klasse, die sich da durch die Gegend langweilt, verdeutlichen. Es geht immer darum, zu erzählen, was der Kern einer Situation ist, ohne mit dem Zeigefinger darauf zu zeigen.
Ein Unterschied zwischen Schauspielregie und Opernregie ist die Arbeit mit dem Chor. Das findet im Schauspiel praktisch nicht statt. »Eugen Onegin« ist über weite Strecken eine Choroper.
Mir macht es unheimlichen Spaß, mit dem Chor zu arbeiten. Wenn die Damen und Herren vom Chor eine Aufgabe haben und sich als Individuen fühlen, dann passieren ganz tolle Sachen. Ich erinnere mich an eine Situation, als ich von Prokofjew »Der Spieler« in Amsterdam inszenierte. Bei der Probe der Casinoszene fragte ich eine Choristin: »Was haben Sie denn in Ihrer Handtasche?« Sie antwortete: »Ja nichts!« Und ich: »Wieso? Sie sind doch im Casino, da nehmen Sie doch irgendwas mit!« Am nächsten Tag hatte sie die Handtasche voll mit ganz vielen Dingen, mit denen ganz konkrete Geschichten verbunden waren. Auf diese Weise sind die Chorsänger förmlich aufgeblüht, denn sie mussten Biografien verkörpern. Jeder Mensch will auch auf der Bühne als Mensch angesehen werden und nicht nur als Teil einer toten Gruppe im Hintergrund, von der nur erwartet wird, dass schön gesungen wird.
Wenn Sie 75 Choristen haben, wie können Sie dann – rein handwerklich – 75 Einzelgeschichten inszenieren?
Indem ich wie ein Hamster oder wie ein Karnickel umherrenne und mit den Chorsängern alles hin- und herschiebe. Vielleicht ist das eine Begabung von mir. Das geht schon, ist aber auf jeden Fall eine sehr sportliche Angelegenheit.
In Ihrer Probenarbeit, haben Sie gesagt, stellten Sie in erster Linie Fragen bis zum Schluss. Wie war das bei »Eugen Onegin«, welche Fragen haben Sie dem Darsteller des Eugen Onegin gestellt?
Das mache ich mit Schauspielern. In der Oper läuft die Arbeit anders. Im speziellen Fall mit Peter Mattei, der den Onegin dargestellt hat, war es wieder ein bisschen anders, weil Peter Mattei ein unglaublicher Schauspieler ist, abgesehen davon, dass er eine wunderbare Stimme hat. Das ging alles sehr schnell. Dann gab es diese russische Sängerin Emma Sarkissian, die die Amme Filipjewna gesungen hat. Die konnte weder Deutsch noch Englisch, nur Russisch. Man hatte extra einen Übersetzer engagiert, der völlig überflüssig war, weil sie mich auch so verstanden hat. Sie hat meinen Augenausdruck verstanden, ich habe ein bisschen geredet oder ihre Hand genommen und sie irgendwo hingezogen, es war alles kein Problem. Sie hat gespürt, was ich wollte. Aber grundsätzlich arbeite ich mit Schauspielern anders als mit Sängern.
Wie unterscheidet sich die Arbeit mit Sängern von der mit Schauspielern?
Wenn man den Sängern vertraut, und ich hatte nie Anlass, ihnen nicht zu vertrauen, sage ich von Anfang an, wenn ein Vorschlag von mir körperlich oder musikalisch nicht umzusetzen ist, bin ich bereit, das zu verändern. Ich habe viel zu viel Respekt vor dem Singen. Das würde ich im Schauspiel nicht unbedingt machen. Die meisten Sänger heute nehmen die schauspielerische Seite ernst. Nur muss man bei der Oper relativ rasch wissen, was man will. Man kann nicht so lange herumdoktern. Es ist eher umgekehrt: Die Schauspieler leiden darunter, dass sie nicht singen können. Natürlich spreche ich mit den Sängern darüber, was der Kern einer Figur oder einer Situation ist. Dann gibt es Dinge, die schon durch die Musik erzählt werden. Darauf kann der Sänger direkt reagieren und eine bestimmte Farbe in seine Phrase geben. Was das Schauspielerische anbelangt, habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich den Sängern meist relativ schnell vermitteln kann, worum es geht. Aber nicht alle können das schauspielerisch umsetzen. Das heißt, in der Oper mache ich sehr viel vor, was ich im Schauspiel überhaupt nicht tue, auch deswegen, weil die Musik immer einen bestimmten Rhythmus hat und der Sänger im Gehen und Spielen automatisch in den Rhythmus der Musik verfällt. Es ist harte Arbeit, jemandem beizubringen, dass er völlig normal geht und dabei singt.
Und wie arbeiten Sie im Schauspiel?
Mit den Schauspielern arbeite ich in Schichten. Es wird bei einer Probe nur ein Aspekt untersucht, bei der nächsten Probe etwas vollkommen anderes, vielleicht genau das Gegenteil. Das ist wie ein Schichtkäse, ganz am Schluss kann man alles zusammendrücken, und dann ist die Figur da.
Zu dem geschützten Raum der Probe gehöre, so eine Äußerung von Ihnen, dass sich die Schauspieler blamieren dürfen und sich auch blamieren sollen.
Es ist ganz wichtig, auch etwas auszuprobieren, was grottenfalsch ist. Das gilt genauso für die Sänger, weil man sonst nichts herausfindet. Auch ich als Regisseurin möchte und darf mich blamieren.
Sie haben Regie nie studiert, sondern sogar einmal erklärt: »Ich bin in dieser Hinsicht eigentlich Laie.« Das war aber kokettierend gemeint, oder?
Überhaupt nicht. Ich bin Autodidaktin. Man konnte doch gar nicht Regie studieren in Westdeutschland. Ein Regiestudium hätte man nur in der ehemaligen DDR belegen können. Das hatte ich mir durchaus überlegt, aber die Konsequenzen waren mir dann doch unheimlich. In der DDR haben im Übrigen auch Frauen inszeniert. Im Westen war ich die erste. Nach wie vor glaube ich nicht, dass man Regie studieren kann. Was soll man denn da studieren? Am Anfang hatte ich mit Regisseuren zu tun, deren Arbeit ich überhaupt nicht schätzte. Aber das hat meine Phantasie in Bewegung gehalten, weil ich mir ständig überlegte, wie ich das machen würde. Das ist eigentlich die beste Ausbildung. Natürlich muss man über handwerkliche Dinge Bescheid wissen, aber dafür brauche ich keine Universität. Und Lesen und Recherchieren, das lernt man relativ rasch, dafür muss man nicht studieren.
Was ist das für eine Art von Lesen?
Erst einmal geht es darum, den Text zu lesen. Viele lesen den Text nicht genau, das merke ich immer bei den Leseproben. Dazu kommt die wissenschaftliche Sekundärliteratur. Dabei ärgere ich mich aber oft. Das bringt mir meist gar nichts, es ist langweilig, aber ich lese es trotzdem, weil ich denke, vielleicht finde ich einen Satz, der zu irgendeiner Erhellung führt. Das dient eigentlich nur meiner Beruhigung, dass ich nichts vergessen habe. Dann schaue ich auch Bilder an und Filme. Diese Vorgänge folgen aber nicht unbedingt immer einer Logik.
Werden Sie nicht nervös, wenn entweder die Materialfülle immer größer wird oder eben zu nichts führt? Als Regisseurin muss man ja irgendwann zum Punkt kommen.
Ich komme schon immer zum Punkt, habe aber trotzdem Angst, wenn ich in eine Arbeit reingehe. Dann habe ich das Gefühl, ich hätte noch nie etwas inszeniert und meine Schularbeiten nicht gemacht. Wenn ich dann anfange, mit Schauspielern oder mit Sängern praktisch zu proben, komme ich langsam rein. Dann läuft es. Aber das ist rein intuitiv und hat mit Denken nichts mehr zu tun. Im Gegenteil, wenn ich anfange zu denken während der Probe, ist es besser, nach Hause zu gehen.
Passiert Ihnen das gelegentlich?
Gott sei Dank nicht!
Aber Sie haben auch gesagt, Sie müssten, wenn Sie auf eine Probe gehen, im Prinzip ein Inszenierungskonzept im Kopf haben, ohne das dann zu exekutieren.
Ja, das habe ich schon. Aber zunächst bin ich neugierig, was die Darsteller auf der Bühne machen. Wenn das in Sackgassen führt, bin ich in der Lage, sie wieder aus der Sackgasse rauszuholen. Man darf sich aber nicht in sein Konzept verbeißen, dann kann man auf der Probe, die immer auch eine Reise ist, nichts mehr entdecken. Dann ist die Konzentration weg, die Lust und das Abenteuer, was das Wichtigste ist für alle Beteiligten. Man könnte sagen, es geht darum, auf der Probe sich das Kindliche zu bewahren. Wir spielen ja, wir dürfen doch alles. Wir dürfen umbringen, ohne dass die Polizei kommt. Wir dürfen merkwürdige Geschichten erzählen in merkwürdigen Räumen. Aber irgendwann ist Genauigkeit gefragt, in dem Sinne, dass es nicht allgemein ist, sondern wirklich etwas mit dem Stück zu tun hat.
Das Inszenierungskonzept einerseits und andererseits die Offenheit für das, was auf der Probe passiert: Wie vermitteln Sie beides, zum Beispiel in Ihrer Inszenierung von Verdis »Macbeth« in Amsterdam? Im dritten Akt findet ja die erneute Anrufung der Hexen statt, die bei Ihnen im Keller einer Villa angesiedelt ist. Es werden die Visionen des Macbeth gezeigt, acht Könige und ein junges Kind treten auf, Banquo marschiert noch einmal vorbei. Es ist ein phantasievolles Panoptikum, fast wie eine Geisterbahn. Wie erarbeiten Sie eine solche Szene?
Diese Szene war schon vor Probenbeginn klar. Hier ging es um eine szenische Übersetzung dessen, was eine Hexe bedeutet. Diese Hexen wissen alles. Deswegen ist der Keller vollgestopft mit Akten wie in einem Stasi-Büro. Macbeth ist zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon erledigt. Das wissen die Hexen auch und befassen sich schon mit dem nächsten Fall und sind dabei ganz hektisch. Dann wollten wir auch eine Art Inquisitionsritual zeigen. Und wenn ein totgeborenes Kind hineingetragen wird, hat das mit dem großen Thema zu tun, dass Lady Macbeth und Macbeth keine Kinder bekommen können, was ja bei ihr ein fast manischer Zug ist. Diese Szene hat verschiedene Ebenen, die alle dramaturgisch belegbar sind und nicht nur reine Phantasiegebilde.
Mit welchem Interesse sind Sie an diese Oper herangegangen?
Ich finde, dass man das alles sieht. Man hat eine Geschichte erzählt, sie ist übergeben an das Publikum. Deswegen fällt es mir schwer, im Nachhinein meine Arbeit zu erklären.
Dann beschreibe ich einmal, was ich gesehen habe, und Sie können widersprechen oder bestätigen: Sie haben die Lady Macbeth und Macbeth, der ja später ein König wird, klein gemacht. Ich sehe keinen von Gewissensbissen zerfurchten potenziellen Herrscher, sondern jemanden, der unter der Fuchtel einer Dame steht, die sich als Emporkömmling benimmt. Macbeth ist möglicherweise impotent, jedenfalls ein Schwächling und ein Jammerlappen, ein kleiner Mensch.
Ja, beide sind kleine Figuren, haben ein neureiches Gebaren. Aber man muss sich ja nur einmal umschauen, welche Kleingeister heute an der Macht sind. Macbeth ist sicher ein großartiger Militär und insofern kein Jammerlappen, wobei die Lady noch forcierender und viel kälter als er ist. In der Brindisi-Szene im zweiten Akt ist für ihn quasi schon alles vorbei. Das ist die Haltung, dass ich alles erreicht habe, Direktor oder Herrscher bin, über ein milliardenschweres Vermögen verfüge, Unternehmen fusionieren kann und am Schluss merke, dass das alles gar nichts ist. Das halte ich auch für eine gewisse Art von Wahrheit.
Haben Sie sich bei »Macbeth« mehr an Shakespeare orientiert oder mehr an dem Libretto der Oper?
Ich muss mich natürlich an das Libretto der Oper halten, weil das mit dem »Macbeth« von Shakespeare wirklich nicht sehr viel zu tun hat. Wobei ich Ihnen sagen muss, dass ich viel größere Nöte hätte, Shakespeares »Macbeth« zu inszenieren als die Oper von Verdi.
»Mit der Musik von Verdi kann ich sehr viel anfangen, aber überhaupt nichts mit den Libretti«. Wie soll man diese Äußerung verstehen?
Das habe ich wahrscheinlich gesagt, bevor ich Verdi inszeniert habe. Mittlerweile sehe ich das anders. Nur wenn man mit Verdi unkundig ist, sieht es so aus, als wäre alles gleich, was natürlich überhaupt nicht stimmt.
Mit Wiederaufnahmen Ihrer Inszenierungen sind Sie nicht immer glücklich. Das habe ich auch herausgehört, als wir vorher über »Wozzeck« sprachen.
Äußerlich bleiben die Wiederaufnahmen meistens richtig. Aber die inneren Abläufe oder die Spannung, die zwischen den Figuren sein muss oder das Atmosphärische, das man manchmal gar nicht benennen kann, ist bei einer Wiederaufnahme oft weg, und dann ist für mich alles verloren. Ich langweile mich dann gnadenlos. Deswegen habe ich meine Schwierigkeiten mit dem Repertoiretheater. Mir ist es lieber, wenn die Produktion wie im Stagione-Betrieb in ihrer ursprünglichen Konzeption erhalten bleibt.
Ist das nicht auch eine Qualität – das ist jetzt eine kulturpolitische Fragestellung –, wenn ein Haus wie die Staatsoper Berlin den »Wozzeck« noch einmal auf den Spielplan setzt? Ich habe die Wiederaufnahme überhaupt nicht als defizitär empfunden. Haben Sie als eine bekanntermaßen sehr sorgfältig arbeitende Regisseurin nicht Anker eingebaut, die eine Wiederaufnahme ermöglichen?
Die Aufführung ist schon sehr genau ausgearbeitet worden, aber sie hat sehr lange gelegen. Als es zu der Wiederaufnahme kam, hatte ich Proben in Amsterdam für »Macbeth«. In Berlin hat das dann jemand anderes einstudiert. Ich kann ja meine ursprüngliche Konzeption nicht vergessen. Ich hatte sie, wie gesagt, auf Roman Trekel zugeschnitten. Er ist eine völlig andere Erscheinung als Michael Volle. Damit ergibt sich auch eine andere Tragik in dem Stück. Sie haben die Ursprungsversion nicht gesehen. Gott sei Dank hat es Ihnen mit Michael Volle trotzdem gefallen, aber für mich ist das ein Problem, auch grundsätzlicher Art. Die Staatsoper hat zwar ein Ensemble, aber ständig werden irgendwelche teuren Gäste geholt, vielleicht, weil man es muss. Das Publikum geht natürlich hin, wenn Frau Netrebko singt, Plácido Domingo oder Rolando Villazón. Ich finde es schade, wenn es gar keine Ensemblepflege mehr gibt und die Sänger, die dort sind, natürlich traurig sind, wenn sie solche Partien plötzlich nicht singen können, sondern jemand anderes kommt. Nun muss ich aber gestehen, dass ich sowieso ein schwieriges Verhältnis zu den Aufführungen meiner eigenen Inszenierungen habe. Sowie die Premiere oder die erste Aufführungsserie vorbei ist, möchte ich die Inszenierung möglichst nicht mehr sehen und vergesse sie auch. Deswegen muss ich manchmal lange nachdenken, wie das überhaupt war und wo es stattgefunden hat. Es geht mir immer nur um die nächste Arbeit. Wenn ich mit dem, was ich abgeliefert habe, zufrieden wäre, dann hätte ich wohl keinen Antrieb mehr, etwas Neues zu beginnen.
»Ich muss inszenieren, das ist eine Obsession.«
Ja. Es nimmt, Gott sei Dank, ein bisschen ab, aber es ist so. Vergangenheit ist Vergangenheit, es geht mir immer nur um das Nächste.
Haben Sie nicht den Wunsch, das, was Sie in Ihren Inszenierungen erarbeitet haben, irgendwie aufzubewahren?
Nein, diesen Wunsch habe ich nicht. Theater ist etwas Flüchtiges. Nach der Aufführung ist es weg. Sicherlich gibt es manchmal Produktionen, wo man denkt, die wurden so wenig gespielt – zum Beispiel »Jakob Lenz« in Stuttgart –, dass es gut wäre, eine Aufzeichnung zu haben. Aber dabei verliert man ja auch so viel. Das Theater findet nun einmal in einem Raum statt, ist kein Film und kein Fernsehen. Theater ist immer die Totale, und jede Art von Ausschnitt ist falsch.
»Als Regisseurin fühle ich mich eigentlich gar nicht als Künstlerin.« Wie kommen Sie zu so einer Aussage, die wahrscheinlich die wenigsten Ihrer Kollegen teilen würden?
Regie führen ist eine Sekundärkunst. Wir bekommen einen Stoff, und der Auftrag besteht darin, den Stoff zu versinnbildlichen, und mehr ist es nicht.
Da muss ich aber noch einmal an Ihre Inszenierung von Alban Bergs »Lulu« erinnern. Man könnte auch zeitgenössisches experimentelles Musiktheater nehmen, bei dem die Frage, welche Rolle der Regisseur hat, noch eine ganz andere ist, oder die Debatte um das sogenannte Regietheater. Dort begreifen sich viele Regisseure nicht nur als Ausführende, sondern als eine Art zweiter Autor.
Ja, das ist ja schön, sollen sie doch Autoren sein.
Sie reizt das gar nicht? Sie sind ja einmal Autorin gewesen bei Dostojewskis »Verbrechen und Strafe«. Den Roman haben Sie dramatisiert.
Nein, da bin ich eben gerade nicht Autorin gewesen. Alle Dialoge sind original Dostojewski. Es ist kein einziger Satz von mir drin. Und insofern war ich auch dort keine Autorin.
Wien, April 2015