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Nicht anhaften: Des-Identifikation

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Die Wüstenväter und -mütter, die in den ersten Jahrhunderten nach Jesus plötzlich auftauchten, hatten trotz ihrer scheinbaren Primitivität und ihrer radikalen Askese häufig einen erstaunlich klaren Blick für die Verbindung zwischen der sehenden Person und dem Gesehenen – und waren diesbezüglich mit ihrer schlichten Direktheit, ihren Geschichten und Einsichten fast so etwas wie Zen-Buddhisten. Der syrische Diakon Evagrius Ponticus (345–399), der manchmal als Ahnherr dessen bezeichnet wird, was schließlich zum spirituellen typologischen Modell des Enneagramms werden sollte, sagt in der Philokalia: „Wenn die Leidenschaften im nicht-rationalen Teil unserer Natur erregt werden, erlauben sie dem Intellekt nicht, angemessen zu funktionieren“.2 Er und viele andere haben diese Einsicht zur Grundlage ihrer Sicht der Gebetskunst gemacht.

Die Suche nach „Des-Identifikation“ bezog sich für die monastisch lebenden Menschen der frühen Zeit auf jenen Frieden und jene Gelassenheit, die sie durch ihre Tiefenpraxis des sogenannten „Ruhegebets“ entdeckten. Dieses basiert auf Jesu Hinweis, man solle zum Beten in das innere „Kämmerlein“ gehen anstatt „zu plappern wie die Heiden“ (vgl. Matthäus 6,6–8). In dieser frühen Periode verstand man unter „Gebet“ keine irgendwie geartete Verhandlung zwischen Mensch und Gott zum Zweck der Problemlösung. Es ging auch nicht darum, Gott irgendetwas mitzuteilen, sondern darum, „eine andere Denkkappe aufzusetzen“, wie es in meiner Jugend unsere Nonnen auszudrücken pflegten. Anscheinend handelte es sich dabei überhaupt nicht um „Denken“, wie wir das heutzutage verstehen; denn solches Denken ist allzu oft nur eine Reaktion auf den Augenblick oder ein sich ständig wiederholender Kommentar dazu.

Die Wüstenväter und -mütter verstanden Gebet nicht als eine Art Deal, der Gott irgendwie gefallen sollte (jenes funktionalistische problemlösende Verständnis von Gebet, das sich später durchsetzen sollte), sondern als eine Transformation des Bewusstseins der Betenden, das Erwachen eines inneren Dialogs, der von Gottes Seite aus ohnehin niemals aufgehört hatte. Deshalb lädt der Apostel Paulus oft dazu ein, „allezeit“ zu beten (vgl. 1. Thessalonicher 5,17). Einfacher ausgedrückt: Beim Gebet geht es nicht darum, Gottes Auffassung von uns oder irgendeiner anderen Sache zu ändern, sondern Gott zu erlauben, unsere Sicht der direkt vor uns liegenden Realität zu verändern – was wir meist vermeiden oder verwerfen. „Lass dein Opfer vor dem Altar liegen, geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Mitmenschen, und dann komm und bring deine Opfergabe dar!“ (Matthäus 5,24). Brillant! Zu viele von uns unternehmen endlose Versuche, gottgefällig zu beten, während wir immer noch einen Behälter mit abgestandenem Wasser in uns herumschleppen. Doch in diesem alten Sumpf kann nichts Neues oder Gutes passieren.

Die „Des-Identifikation“ von den eigenen Leidenschaften, das „Nicht-Anhaften“, hatte für die Wüstenmütter und -väter den Geschmack von Freiheit und Erlösung – lange Zeit bevor wir zu der Auffassung gelangten, Erlösung bestehe darin, dass wir nach dem Tod in ein Alternativ-Universum versetzt würden. Dabei wird Gott mehr als Partner unseres privaten Evakuierungsplans gesehen – und benutzt – und weniger als Begegnung der Liebe, die den Geist verwandelt und das Herz befreit. Solch Egozentrik zeigt sich in der geringen – falls überhaupt vorhandenen – Sorge vieler Christen um Gerechtigkeit, die Erde oder die Armen. Früchte der Liebe sind bei ihnen oft Fehlanzeige und interessieren viele von ihnen auch nicht sonderlich. So kommt jener „Wahre Gott“, den wir vollmundig proklamieren, in der Schöpfung und in den meisten echten menschlichen Problemen nicht wirklich vor. Meines Erachtens ist diese begrenzte Sicht von Erlösung eine der Hauptursachen von Atheismus, Agnostizismus, der Verachtung organisierter Religion sowie vieler psychischer Erkrankungen in der Gegenwart. Wir haben Gott in Kirchen, Zeremonien und eine kleine furchtgesteuerte Gruppe eingesperrt.

Ich glaube inzwischen, dass das Alternativ-Universum, nach dem wir uns zu Recht sehnen, nicht irgendwo anders oder in der Zukunft liegt, sondern unmittelbar in unseren Herzen und Köpfen! Wenn wir eine völlig andere Geisteshaltung annehmen, dann kümmert sich der Himmel um sich selbst, fängt tatsächlich jetzt an und ist nichts, woran wir „für später“ glauben müssen. Die frühen Mönche und ihre späteren Schwestern und Brüder haben entdeckt, dass wir in die eigenen Herzens- und Hirngespinste verstrickt bleiben, wenn wir uns allzu exklusiv in wortreiche Gebete, Rezitationen und theatralische Liturgien zurückziehen. Wer alles kontrolliert, die Gebetsmühle in Bewegung hält und den Gottesdienst inszeniert, hat sich dadurch noch nicht selbst verändert, und sieht, hört und bietet deshalb auch nichts Neues für die Welt.

Es mag Katholiken und Orthodoxe schockieren, wenn sie entdecken, dass viele der frühen Einsiedler und Mönche die eucharistischen Gebete oder die Psalmen nur zu ganz besonderen Anlässen gemeinsam rezitierten, keinesfalls jedoch täglich. Der tägliche Kampf hingegen, welcher sie wesentlich mehr forderte – wie er auch uns fordert –, war das Loslassen von einer gedanklichen Fixierung auf irgendwelche Ablenkungen und die fortwährende Suche nach Seelenfrieden von den inneren Dramen. Häufiges Thema in alten Texten wie der Philokalia war „die innere Liturgie des Herzens“ oder die „noetische Liturgie des Geistes“. Das war etwas ganz anderes als die spätere Dauerbeschäftigung mit präzisen liturgischen Vorschriften, die mit der Zeit zu Gesetzen und Regeln wurden und die Kleriker von heute noch immer beschäftigen. Solche Anstrengungen relativieren sich umso mehr, wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, dass jede Denomination eine Obsession für andere „wesentliche“ Dinge hat, die sie für göttliche Mandate hält. Schweigegebet und kontemplatives Gebet hingegen, Konzentration auf das „Ganz da“, bieten uns keine Rollen, Rituale, Texte, Kostüme, Genderthemen oder korrekte Formulierungen, über die man streiten könnte. Vielleicht ist genau das der Grund, weshalb diese Praxis so vieldeutig und mysteriös erscheint – und so selten Raum hat.

Ganz da

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