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Leidenschaften und Praxis

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Wenn immer wir einen Exzess an Emotionen wie Wut, Melancholie, Begierde oder Furcht verspüren und meinen, dies sei primär von etwas „da draußen“ verursacht worden, begehen wir einen sehr verbreiteten Fehler. Manchmal gehen wir noch weiter und beschuldigen das Opfer oder spielen das Opfer, was heutzutage gängige Strategien bei vielen Missbrauchs-, Vergewaltigungs- oder sogar Mordfällen sind: „Sie hat mich dazu gebracht, das zu tun!“ oder: „Die Misshandlungen meines Vaters haben aus mir das gemacht, was ich bin!“ Sobald Christen eine tiefe Wertschätzung für das „vollkommene Gesetz der Freiheit“ (Jakobus 1,25) und die eigene Fähigkeit zu freier Wahl verlieren, sind die eigentlichen Grundlagen von Moral – und Würde – zerstört. Gott „hat am Anfang den Menschen geschaffen und ihm die Freiheit gegeben, sich zu entscheiden“ (Jesus Sirach 15,14). Noch drastischer – uns wurde zu Beginn gesagt: „Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen“ (1. Mose/Genesis 2,16). Gott ist offensichtlich höchst risikobereit – und all dies um einer tiefen und echten Liebe willen!

Aber echte spirituelle und emotionale Reife sind die Voraussetzung für die Erkenntnis, dass unsere Reaktion immer und letztendlich von uns selbst kommt – auch wenn es viel einfacher ist, Verantwortung und Schuld andernorts zu suchen, anstatt zu unserer eigenen inneren Freiheit zu finden. Die Projektion unserer dunklen Anteile auf andere befreit uns von einer riesigen Last. Solange unsere Egos die Kontrolle haben, werden wir so gut wie sicher auf diese verbreitete Überlebenstechnik zurückgreifen. Ich beziehe das gesamte Leben auf mich als zentralen Bezugspunkt, und das ist eine viel zu kleine Welt. Jesus würde sagen, solche Leute haben sich nicht selbst verloren – und deshalb können sie sich auch nicht selbst finden. Man lese dies zweimal!

Die meisten spirituellen Zeitgenossen meinen, wir müssten uns nur vor den „negativen“ und hässlichen Leidenschaften wie Wut, Überheblichkeit, Neid, Geiz, Angst und Begierde in Acht nehmen. Aber nach Jahren, in denen ich mich selbst und viele andere, die ich geistlich begleitet habe, beobachten konnte, habe ich immer deutlicher gesehen, dass sogenannte positive Emotionen und Reize in ihrer konkreten Wirkung ebenso verblendend und einengend sein können wie negative. Das ist für die meisten von uns überraschend. (Schon gewusst? Das Wort „Leidenschaften“ bezog sich in der frühen Kirche in der Regel auf etwas, was wir „erleiden“ oder „worunter wir leiden“ im Gegensatz zu Handlungen, die wir bewusst und freiwillig wählen. Leidenschaft bezog sich seinerzeit meist nicht auf Sex wie heute so häufig.) Eine Leidenschaft ähnelt vermutlich vielmehr dem, was wir inzwischen unter Sucht oder unbewussten zwanghaften Verhaltensweisen verstehen. Positive beziehungsweise reizvolle Emotionen sind ebenso bindend und blendend wie negative. Auch wenn es zunächst nicht so scheint, weil wir rasch versuchen, sie durch weitere Ablenkungen oder Unterhaltung abzupolstern. Das ist die westliche Konsumhaltung.

Man denke nur an eine auf Abhängigkeit beruhende Verliebtheit; an aufregende Gelegenheiten, sich zu treffen, einander zu verwöhnen, Sachen in Ordnung zu bringen und „zum Guten“ zu verändern; an einen Tag voller Abenteuer und Spaß; an all die flüchtige Vernarrtheit in irgendetwas; an die glänzende Stimmung nach einem vorübergehenden Erfolg; an Lust auf ein großartiges Essen oder sonst etwas großartiges. Das alles ist gut, und Gott missgönnt uns nicht den Genuss solch guter Dinge. Aber positive Energien können uns auch binden, denn schon bald kann sich das Verlangen nach Wiederholung, Fortsetzung oder Steigerung des momentanen Hochs zu einer Art Zwang entwickeln. Die meisten Abhängigkeiten fangen mit etwas an, was anfangs ganz harmlos war. Inzwischen wissen wir, dass es für diesen Prozess auch eine neurologische Basis gibt, eine Ausschüttung von Hormonen wie Oxitozin und Adrenalin, die wohlige Gefühle produzieren. Wir nennen das einen „Rausch“, und es kann uns in der Tat in illusorische, eigendynamische und letztendlich einsame Gefilde rauschen lassen, wo wir nur noch die schnelle Belohnung wiederholen wollen.

Am Ende eine kleine Beichte: Ich erinnere mich, wie ich mehr als einmal sehr genervt war von einer Zuhörerin oder einem meiner Schüler, die anderer Meinung waren als ich, und zwar unmittelbar nach einem meiner Vorträge, den ich selbst für wahrhaft exzellent und exzeptionell gehalten hatte! In diesem Augenblick war ich so mit mir selbst und meiner „Inspiration“ identifiziert, dass mir mein aufgeblähtes Ego erlaubte, die betreffende Person (vor mir selbst) als lästig oder ignorant abzuwerten. Ein Teil von mir fragte sich: „Warum gratulieren oder danken die mir nicht einfach?“ Ich schäme mich sehr, das zuzugeben. Aber es brachte mich dazu, den verblendenden Charakter des Hochmuts und Dünkels in mir zu entdecken. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass mir „gehuldigt“ wird!

Wir alle sind zeitweise aufgeblasen, solange wir uns im Kraftfeld von etwas Wunderbarem befinden. Und wir werden ungeduldig und sogar grantig, wenn uns irgendetwas in die Quere kommt. Man denke nur an Zeitgenossen in überstimulierenden Ferien oder an die gelangweilten, gereizten Blicke von Leuten, die für Essen, Entertainment oder einen Flug anstehen. Das Verlangen nach „totalem Spaß“ ist eine eigene Art von Falle. Solche „Vergnügungskreuzfahrten“ können gefährlicher sein als elementare Ängste, weil wir eben nicht dafür gewappnet sind, sie als problematisch wahrzunehmen. Sie sind selbstverständlich nicht an und für sich böse oder sündhaft, sondern nur insofern gefährlich, wie sie das Bedürfnis nach „mehr vom Guten“ erzeugen, wodurch wir subtil genarrt werden und eine falsche Spur verfolgen. Ich nehme an, das ist der Grund, weshalb Tapferkeit, Mäßigung, Klugheit und Geduld die vier Kardinaltugenden genannt wurden. Cardo, die Wurzel von „kardinal“, bedeutet im Lateinischen „Türangel“ oder „Scharnier“, und selbst Glaube, Hoffnung und Liebe sind nicht wirksam oder heilend, wenn sie nicht an Tapferkeit, Mäßigung, Klugheit und Geduld gekoppelt sind. Auch hier sehen wir wieder: Unsere Vorfahren waren weiser als es moderne Psychologie angenommen hätte.

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