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Hub

Sein voller Name lautet Hubba-Hubba Artful Soul (meine Eltern mal wieder; ehrlich, Mann). Er ist ein Schnudel, eine Kreuzung zwischen Schnauzer und Pudel, was vor allem bedeutet, dass er unfassbar niedlich ist. Goldfarbenes Fell, seine Augen große, flüssig-schwarze Tropfen, dazu die warme Nase. Jetzt, wo ich ja nicht mehr allzu viel von Darryl oder einem der Jungs sehe, würde ich sagen, dass Hub mein bester Freund auf der ganzen Welt ist. Nein, das stimmt nicht, denn Hub war schon immer mein bester Freund auf der ganzen Welt. Nur mussten sich erst die Umstände ändern, damit mir das auch klar wurde. Schnudel (aber nenn’ ihn bloß nicht so, er hört eh nur auf Hub) sind von Natur aus sehr aktiv. Sie lieben es zu spielen, Stöckchen zu holen, Gassi zu gehen. Sie wollen dabei sein, wenn ihre Menschen Twister spielen. Du kennst diese Art Hund sicher: Die rennen aufgeregt um alles herum, die Ohren aufgestellt, und wollen mitmachen. Hub nicht. Es ist nicht so, dass er faul oder so was ist, eher … entspannt. Was soll ich sagen? Der Kerl ist einfach cool.

Wir haben ihn vor vier Jahren aus dem Tierheim geholt. Damals war er acht Monate alt. Ein ungewolltes Weihnachtsgeschenk. Wir hatten schon eine Weile über einen Familienhund nachgedacht, uns über Pflege und Verantwortung schlaugemacht. Namen und Rassen in den Ring geworfen. Nachgelesen, welche Rassen wie viel fressen, wie oft rausmüssen. Schließlich erklärte Dad uns für bereit, und wir erschienen gemeinsam als Familie im Tierheim, hatten aber alle völlig unterschiedliche Vorstellungen davon, mit welcher Art Hund wir den Laden wieder verlassen würden. Dad wollte etwas Zuverlässiges, einen Hund, der uns beschützen konnte, vorzugsweise so groß wie ein Pferd. Mom wollte etwas, das angenehm aus der Schnauze roch und nicht zu viele Haare verlor. Niki war gerade in ihrer Paris-Hilton-Phase und wünschte sich etwas, das sie in ihrer Handtasche aus dem Haus schmuggeln konnte. Ein Hündchen, das in einem Kleidchen von Lady B. Couture eine gute Figur machen würde. Ich wollte einen Hund, dem ich das Surfen beibringen konnte.

Um die Herren Jagger und Richards zu paraphrasieren: Keiner von uns bekam, was er wollte, aber wir alle bekamen, was wir brauchten.

Hubba-Hubba.

Die meisten Hunde drehten völlig durch, als wir den Raum mit den Zwingern betraten. Sie bellten und kläfften, hoben die Pfoten an die Gitter, jagten ihre eigenen, wild wedelnden Schwänze, kämpften um Aufmerksamkeit. Mom hielt sich die Ohren zu, während Niki entzückt quiekte und bereits nach einem Handtaschenhund Ausschau hielt. Dad verdrehte die Augen und trat einen Schritt zurück. Ich sah ihm an, dass er plötzlich gar nicht mehr so sicher war; seine Gedanken waren wie erschrockenes Vieh auf der Weide. Mir fiel einer der wenigen Hunde auf, die nicht bellten. Im Grunde tat er überhaupt nichts. Er lag hinten in seinem Käfig, ein Vorderbein über den Augen, und sah aus wie ein Mann mit Kopfschmerzen. Ich ging langsam hinüber, hockte mich vor die Gitterstäbe und blickte hindurch.

»Na, Kleiner?«

Nichts. Sein rosafarbener Bauch bewegte sich, wenn er atmete, sonst regte er sich nicht.

Ich klopfte an die Gitterstäbe. Er senkte das Vorderbein und öffnete ein Auge. Das brachte mich zum Lachen. Hast du je einen Hund gesehen, der nur ein Auge aufmacht? Das kommt nicht allzu oft vor. Er blickte mich einen Moment lang an, dann schloss er das Auge wieder. Das Vorderbein legte er wieder übers Gesicht.

»Ich glaube, dieser hier hat einen Kater«, stellte ich fest. »Den will ich.«

Mom und Dad gesellten sich zu mir. Ich versuchte den Köter dazu zu bringen, irgendetwas zu tun, womit er sich bei meinen Leuten beliebt machen würde, ganz egal was. Aber er blieb in derselben Position liegen und tat gar nichts, so als wäre er eben erst von einem Wochenende in Amsterdam zurückgekommen.

Der Wärter ratterte die Einzelheiten herunter. Ungewolltes Weihnachtsgeschenk. Schnauzer-Pudel-Mix, auch Schnudel genannt, meine Güte. Treu, intelligent, haart nicht. Mom war bereits überzeugt. Ich glaube, Dad war vor allem wegen des Wortes Schnudel dafür. Niki war alles andere als begeistert, aber drei zu eins überstimmt. Sie schmollte die ganze Rückfahrt und schrieb ihren Freundinnen SMS. Eine davon las ich über ihre Schulter mit: Meine bescheuerte Familie, ey! Ich hasse mein Leben und ich hasse den neuen Köter!

Es dauerte aber nicht lange, ihre Meinung zu ändern. Keine zwei Stunden später sprang Hub (der zu diesem Zeitpunkt allerdings noch keinen Namen hatte – Mom und Dad stritten darüber) neben ihr auf das Sofa und schlief mit dem Kopf auf ihrem Schoß ein. Niki strahlte, die Zahnspange schimmerte, als hätte sich Kanye West neben ihr zusammengerollt und den Kopf in ihren Schoß gelegt.

»Er. Ist. So. Süß«, verkündete sie und schrieb sofort wieder eine Runde SMS an ihre Freundinnen, um sie über diese aufregende Entwicklung zu informieren. Hub wedelte ein paarmal verständig mit dem Schwanz und damit war die Sache erledigt. Der Kerl gehörte zur Familie.

Mein Verhältnis zu Hub war immer ein gutes. Er war der Familienhund und liebte uns alle gleichermaßen, aber ich war derjenige, der lange Spaziergänge mit ihm unternahm (und nicht bloß schnell bis zum Briefkasten, damit er einen Haufen machen konnte). Ich nahm ihn manchmal an einen der Strände Torontos mit, sogar zu den Skateboard-Turnieren. Wir verstanden uns einfach. Und klar, es wäre krass gewesen, ihm ein Toes on the Nose-T-Shirt überzuziehen und ihn auf ein Shortboard zu stellen, aber das hätte er nicht mitgemacht. Der Junge war und ist ein Chiller und ultracool.

Die Dynamik änderte sich natürlich radikal, als ich nach meinem Unfall nach Hause kam. Es würde keine langen Spaziergänge im Sonnenschein oder Runden über die Strandpromenade mehr geben, aber dafür hatte ich jetzt ein Superhirn und konnte auf einer neuen, krassen Ebene mit Hub kommunizieren.

Das Erste, was er zu mir sagte, war: Raus damit … Bist du jetzt auf alles und jeden sauer? Wirst du jetzt ein rücksichtsloses Arschloch?

Alter, wehrte ich ab. Dieser Deal ist nur vorübergehend. Ich garantiere es dir.

Ich hoffe, du hast recht.

Habe ich, also entspann dich.

Alter, sagte er lakonisch, ich bin der Inbegriff von Entspannung.

In Ordnung, also: mit Hunden reden. Ist ein bisschen knifflig und man muss vor allem wissen, dass das nicht wie eine normale Unterhaltung abläuft. Wir reden weder Englisch noch irgendeine andere Sprache, die man so kennt. Es ist eher wie eine Reihe von Symbolen und Gefühlen, wie eine mentale Gebärdensprache mit einer Prise Intuition. Letztere kennen doch eigentlich alle Hundebesitzer. Hast du noch nie deinen Hund angeschaut und gespürt, unerklärlicherweise gewusst, was das Tier denkt? Es gibt diese Verbindung. Hunde funktionieren und kommunizieren praktisch nur auf einer anderen Frequenz, und manchmal gelingt es ihnen eben, die zerebrale Firewall des Menschen zu überwinden.

Das gilt im Grunde für alle Tiere. Man muss nur die richtige Frequenz erkennen, was zugegebenermaßen weitaus leichter ist, wenn die Firewall weg ist. Aber auch hier zieht wieder das Bild von der Feder vor dem Ventilator. Du musst loslassen können.

Vor einigen Tagen kam Hub also in mein grooviges Zimmer stolziert, ließ sich neben dem Mork-Sessel nieder und legte den Kopf flach auf die Vorderpfoten.

Hab mich schon wieder unbeliebt gemacht, verkündete er.

Was hast du angestellt?, wollte ich wissen.

In den Garten geschissen, gab er mit einem Lächeln zu. Na ja, eigentlich auf die Terrasse. Weicher Haufen. Dad … fand das gar nicht lustig. Er hantiert jetzt da draußen mit dem Gartenschlauch herum.

Eklig, befand ich.

Ja, und der Schlauch kriegt das Zeug auch nicht wirklich weg, sondern verteilt die Scheiße nur auf einer größeren Fläche. Ich weiß echt nicht, was er sich dabei denkt. Das wird ihm vielleicht eine Lehre sein. Er ist jetzt seit drei Tagen nicht mehr mit mir spazieren gewesen, Mann.

Himmel, sagte ich. Dann war das also Protestscheiße?

Verdammt, ja. Eine revolutionäre Scheiße. Ich bin der Che Guevara der Hundewelt.

Un chien Guevara, schlug ich mit französischer Betonung vor.

Hub grinste erneut. Che Grrrrrvara.

Wir seufzten beide zufrieden. Hub drehte sich auf die Seite und ließ die Zunge aus dem Maul hängen. Mein Kopf kippte nach rechts weg und die Zunge hing mir leicht aus dem Mund. Beste Freunde, Mann. Ohne Zweifel.

Wenn ich könnte, würde ich dich mit an den Strand nehmen, sagte ich. Dann könnten wir die Chicas abchecken.

Das weiß ich, Bruder, erwiderte Hub. Ich vermisse die alten Zeiten.

Ich auch.

Du hast gesagt, es sei nur vorübergehend. Hubs Schwanz schlug einmal mit Nachdruck auf den Boden. Kein fröhliches Wedeln, sondern eher ein aufgebrachtes. Das war vor achtzehn Monaten, Alter. Was ist los?

Ist ja nicht so, als hätte ich es nicht versucht, sagte ich. Es ist schmerzhaft, wie sehr ich es versucht habe; und wie lange. Meilenweit auf der kortikalen Überholspur, um die Hirnwindungen herum, über die Furchen und Rillen, auf der Suche nach meiner Ausfahrt. Und manchmal fühlt es sich an, als wäre ich nah dran. Manchmal sehe ich eine hell erleuchtete Rampe und halte mit einem Affenzahn darauf zu, nur um kurz danach herauszufinden, dass mich die Straße wieder dahin zurückführt, wo ich bereits gewesen bin. Es ist wie ein verdammtes Bild von M. C. Escher, Mann. Du glaubst, du wärst auf dem Weg nach oben, aber eigentlich geht es schon wieder bergab.

Unsere Gespräche werde ich allerdings vermissen, meinte Hub. Du weißt schon, wenn du wieder der Alte bist.

Ich weiß, stimmte ich ihm zu. Ich werde all meine Superheldenkräfte aufgeben müssen. Das wird wie in Superman II, wenn Kal-El menschlich werden muss, um mit Lois Lane zusammen zu sein.

Wenn du das sagst, Mann. Ich habe Superman II nie gesehen.

Natürlich nicht. Ich zuckte die Achseln. Hast du Schnudelman II gesehen?

Das ist kein bisschen witzig, Arschgesicht.

Ein bisschen schon.

Man sollte doch meinen, dass du mit dem unfassbar krassesten Verstand der Welt in der Lage wärst, wenigstens ab und zu mal einen lustigen Witz zu bringen.

Jedes Mal wenn ich das Wort Schnudel ausspreche, ist das lustig.

Wenn du meinst.

Nein … echt jetzt.

Hub hob sein Vorderbein und zog die Lefzen zurück. Erzähl das der Pfote.

Das brachte mich richtig zum Lachen. Natürlich nur innerlich. Nach außen hin starrte ich nur auf einen schwachen Wasserfleck an der Wand und sabberte. Hub lachte ebenfalls, schnaufte durch die Lefzen, während sein Schwanz schneller als sonst auf den Boden schlug. Wir hatten uns kaum beruhigt, als wir hörten, wie Dad in die Küche stürmte und Hub verfluchte, weil seinetwegen nun eine Pfütze aus Hundescheiße auf der Terrasse war, die sich inzwischen zur Größe von Alaska ausgebreitet hatte. Das brachte uns aufs Neue zum Lachen, und zwar so leidenschaftlich, dass ich spürte, wie ein winziger Muskel in meinem Kiefer zuckte.

Dann hingen wir beide einen Moment lang unseren Tagträumen nach. Hub gähnte und leckte sich die Lippen, ich komponierte ein Arrangement für ein Streichquartett in e-Moll.

Letzte Nacht war ich in deinem Zimmer und wollte dich besuchen, nahm Hub den Faden wieder auf und unterbrach den begeisterten Applaus in meinem Kopf. Die Lichter waren an, aber es war niemand zu Hause. Nein, das stimmt nicht … Die Lichter waren aus. Du warst weg, Bruder.

Erzähl mir was Neues, beschwichtigte ich. Die Stimmung hier war beschissen. Schon seit Tagen. Ich hab die Kurve gekratzt. Bin zu Springsteens Bude geflogen. Er hatte Besuch. Elvis Costello, Tom Morello. Die haben bis vier Uhr morgens gejammt.

Schön für dich, kommentierte Hub.

Dann habe ich mich ans Ufer des Hudson gesetzt und zugesehen, wie die Sonne über der Skyline von Manhattan aufging.

Auch schön, wiederholte Hub. Aber ich glaube, hier ist irgendwas im Busch, Alter. Die Schwingungen sind heftig, und Mom hat geweint. Die ganze Nacht.

Sie ist eben traurig. Das kommt immer mal wieder hoch, sagte ich, aber mein Herz stolperte in der Brust und sandte einen schmerzhaften Stich in meine linke Seite. Sie weint sowieso viel.

Letzte Nacht war es aber anders, beharrte Hub. Er setzte sich auf die Hinterbeine und sah mich an, die Ohren aufgestellt. Dad war auch zu still. So richtig verdrießlich. Kannst du nicht mal eben in ihre Köpfe hüpfen und herausfinden, was da los ist? Eine kleine psychische Untersuchung?

Komm schon, Alter, du weißt doch, dass ich das nicht gern mache. Ein unwillkürliches, beinahe melodisches Stöhnen entfuhr mir. Mein Kopf rollte zur anderen Seite. Mein Blick war jetzt auf das Fenster gerichtet. Ein Rechteck aus grauem Himmel. Ich sehe Dinge, die ich nicht sehen sollte. Auf die ich kein Recht habe. Das ist so was von nicht cool.

Hub ließ sich wieder auf alle vier Pfoten nieder. Ich würde doch nur gern wissen, dass es nichts Ernstes ist. Das ist alles.

Und selbst wenn ich in ihre Gedanken eindringen würde, gab ich zu bedenken. Was würde mir das nützen? Ich kann ihre Entscheidungen nicht beeinflussen.

Das stimmt leider. Meine Fähigkeiten sind begrenzt. Die Tatsache, dass ich Zugang zum Verstand anderer Menschen habe, bedeutet ja nicht, dass ich kontrollieren kann, was sie tun. Ich wünschte verdammt noch mal, dass ich das könnte. Und manchmal wünsche ich mir, ich könnte ihre Köpfe explodieren lassen, wie in Scanners. Das wäre großartig. Aber die Wahrheit ist, dass Menschen nur innerhalb der winzig kleinen Blase ihres bewussten Verstandes funktionieren und agieren. Freud hat die Psyche mit einem Eisberg verglichen, von dem nur zehn Prozent (das Bewusstsein) sichtbar sind. Alles andere (das Ich, das Über-Ich und das Es – mit anderen Worten: all das krasse Zeug) ist unter der Oberfläche verborgen. Der Eisberg ist eine gute Metapher und größtenteils stimmig. Aber ich stelle mir den bewussten Verstand lieber als Mauer vor. Solide und widerstandsfähig; nicht wie eine Gartenmauer, über die man mal eben so hüpfen kann. Eher wie eine Barrikade, schwer bewacht, dazu bestimmt, die Dinge dahinter zu schützen und unerwünschte Dinge davon abzuhalten hineinzugelangen – aber ebenso zu verhindern, dass die wesentlichen Bestandteile abhauen. Das Bewusstsein ähnelt weit mehr der koreanischen entmilitarisierten Zone als der Spitze eines Eisbergs, das kannst du mir glauben.

Ich nenne es die Selbstschutzmauer. Sie definiert dich. Erbaut aus Genen und Erfahrung, und jeder Stein wird von Gefühlen zusammengehalten. Das sind die Dinge, die dich stark machen. Jeder normale, geistig gesunde Mensch hat so eine Mauer, denn die sorgt dafür, dass man den Verstand nicht verliert. Ich kann in deinen Kopf springen und die Mauer sehen. Ich kann sogar mit meinen Fingerknöcheln dagegenklopfen. Aber die einzige Möglichkeit, auf die andere Seite zu gelangen – in dich hinein, wo ich deine Entscheidungen steuern und auf telepathischer Ebene mit dir kommunizieren kann –, besteht darin, dass du mich einlädst. Und das wird nicht passieren. Nicht wenn du bei Verstand bist.

Meine Mauer wurde bei dem Unfall zerstört. Es ist nichts davon übrig. Um erneut Freuds Metapher zu bemühen, für mich ist der Eisberg kopfüber getaucht. Ich existiere seither in den neunzig Prozent, die man nicht sehen kann, und ich habe keinen Zugang zu den übrigen zehn Prozent. Deswegen kann ich weder laufen noch sprechen, aber dafür kann ich jederzeit ins warme Wasser des Lustprinzips eintauchen und mich im Sekundärvorgang austoben. Ich habe Zugang zu meiner psychischen, im Wortsinn übersinnlichen Energie und zu all meinen Erinnerungen. Meine Seele hat Flügel bekommen und mein Hirn läuft auf mehr als nur Hochtouren; es arbeitet mit der Geschwindigkeit von PetaFLOPS, auch wenn Dr. Thinker etwas anderes behauptet.

Es gibt Vorgänge und Situationen, in denen die Mauer schwächer, durchlässiger ist. Im Schlaf steigt das Unterbewusste an die Oberfläche, ebenso wie in Momenten leidenschaftlicher Kreativität. Künstler reden oft davon, vollkommen in ihrer Kunst aufzugehen, im Flow oder von ihrer Muse geküsst worden zu sein. Die Welt da draußen verblasst und sie existieren einen kostbaren, köstlichen Augenblick lang an einem anderen Ort. Im Grunde kann man sagen, dass sie die Wachen von der Mauer abberufen und ein winziges Fenster geöffnet haben, durch das Informationen dringen dürfen. Bei Kreativität geht es vor allem darum, Blockaden zu öffnen und beiseitezuschieben. Himmel, das ist der einzige Grund, wieso du das hier lesen kannst. Irgendwo sitzt ein Autor, der glaubt, dass er sich das alles ausdenkt, während ich ihm in Wirklichkeit die ganze Zeit meine Informationen durch sein kreatives Fensterchen schiebe.

Die Einfallsreichen und Verrückten … die einzigen Menschen, die ihre Mauern niedergerissen haben. Mach daraus, was du willst.

Tiere verfügen ebenfalls über solche Mauern, aber bei ihnen sind sie niedrig und unbewacht, was den Austausch von Informationen erleichtert. Ihre Köpfe sind häufig ziemlich leer, aber manche von ihnen, insbesondere Hunde, sind schlau und aufgeweckt. Hub macht da keine Ausnahme.

Du hast es doch selbst gesagt, Mann, gab er nun zurück, stand auf und ging auf die andere Seite des Bettes, sodass ich ihn sehen konnte. Die Atmosphäre hier im Haus ist beschissen in letzter Zeit und das gefällt mir gar nicht.

Mir doch auch nicht, gab ich zu. Aber das passiert eben von Zeit zu Zeit. Mom und Dad haben sich wahrscheinlich gestritten und sind jetzt noch ein wenig frostig im Umgang miteinander. Das geht vorüber, vertrau mir.

Hoffentlich hast du recht.

Natürlich habe ich recht.

Vereinzelte Regentropfen klopften ans Fenster wie ein kleines Tier, irgendeine Kreatur, die versuchte, aus einer Kiste zu gelangen. Das Grau des Himmels war noch einen Ton dunkler geworden. Meine Seele sehnte sich danach, die Flügel auszubreiten. Ich stellte mir ein helles Sandband vor, dazu die Beach Boys, die Good Vibrations singen, und den erfrischend intensiven Geschmack eines Mojitos. Ich hätte in diesem Moment ganz leicht loslassen können – ich wollte loslassen –, aber ich blieb bei Hub, meinem Kumpel.

Es war eine irre Woche, stellte er mit Nachdruck fest. Die miese Stimmung, dann kündigt Fat Annie und mit mir geht tagelang keiner raus …

Was?, unterbreche ich ihn hastig. Fat Annie hat gekündigt? Ist das dein Ernst?

Alter, hast du das nicht gewusst?

Zur Hölle, nein.

Wofür genau benutzt du dieses Superhirn?

Ich war … Ich unterbrach mich und spürte die Tränen, die in meinen Augen brannten, obwohl diese trocken blieben und nicht einmal blinzelten. Fat Annie war meine Pflegerin, und das jetzt schon seit achtzehn Monaten. Sie war streng (besaß jedoch auch die Neigung, gelegentlich furchtbar lieb zu sein), aber unleugbar effizient, wie Mr. Miyagi. Ich hegte den allergrößten Respekt für sie. Ach was, ich liebte sie. In Anbetracht unserer besonderen Beziehung war es schlicht unmöglich, keine enge Bindung zu ihr zu haben. Sie kam fast jeden Tag für drei Stunden zu uns, überprüfte meine Vitalwerte, kümmerte sich um die PEG-Sonde, die mich mit Nährstoffen versorgte, sowie um meine Toilettengänge (womit ich ausdrücken will, dass sie meine Windeln wechselte und mir den Arsch abwischte). Sie wusch mich mit einem Schwamm und ging dabei so zärtlich vor, dass ich am ganzen Körper vor Wonne erschauerte. Sie massierte meine Glieder, um den Blutkreislauf in Gang zu halten, und exerzierte eine Reihe von schmerzhaften, aber notwendigen Bewegungsübungen mit mir durch, um die Gelenke beweglich zu halten. Außerdem verabreichte sie mir meine Tinzaparin-Spritze, ein blutverdünnendes Mittel, das so unschöne Dinge wie tiefe Venenthrombose und Lungenembolie verhindert. 10.000 Einheiten, die mir in den Unterbauch injiziert werden. Ich habe eine kleine, saubere Stelle am Bauch, die ganz hart ist, weil dort ständig die Nadel hineingeht … Ja, ist ein Riesenspaß, ich zu sein. Wenn das Wetter gut war, hat sie mich manchmal in den Rollstuhl bugsiert und um den Block geschoben, oder bis zur Bücherei, wo es schön ruhig war und der Geruch der Bücher einen zu Tagträumen verleitete. Wenn es draußen zu kalt war, platzierte sie mich in meinen Sessel und las mir etwas vor. Nachdem sie das Bettzeug gewechselt hatte, hob sie mich wieder ins Bett zurück und legte kleine Kissen unter meine Ellbogen und Fersen, um Dekubitusgeschwüre zu vermeiden. Und sie redete die ganze Zeit mit mir während all dieser Tätigkeiten. Normal. Keine Babysprache (du würdest dich wundern, wie viele meiner Besucher automatisch in Babysprache verfallen, wenn sie es mit mir zu tun haben: Hey, Wessy … Geht’s dir gut? Ui, du hast da ein kleines bissi Spucki an deinem Kinnchen). Keine Verblödung oder Unsicherheit bei ihr. Sie sprach so mit mir, wie es sich gehört: als wäre ich ein Mensch.

Ja, ich habe Fat Annie geliebt.

Ihr Name war nicht einmal Annie. Sie hieß Georgina. Hub und ich nannten sie Fat Annie, weil sie wie Kathy Bates in Misery aussah und sich auch genauso anzog. Wir rechneten immer damit, dass sie einen von uns einen Dirty Bird nennen oder mit einem Vorschlaghammer ins Zimmer kommen würde. Das war unser kleiner Insider-Witz und gar nicht böse gemeint. Fat Annie war die Beste. Und nun ist sie nicht mehr da.

Was zur Hölle ist denn bloß los?, fragte ich. Warum hat sie gekündigt?

Hub runzelte die Stirn. Ist es nicht toll, dass das Superhirn dem Hund die Fragen stellt?

Das ist gar nicht gut, Hub. Wie wohl meine neue Pflegerin sein wird?

Ich betrachtete den Regen, der gegen die Scheibe klatschte.

Ich sage es dir doch, Mann, beharrte Hub aufs Neue. Da sind ganz miese Schwingungen in der Luft und mir gefällt das nicht.

Nein, stimmte ich zu. Mir auch nicht.

Dann betrat Dad das Zimmer, sein Gesicht wutverzerrt, seine Augen kleine, harte Perlen. Hub war mit einem Satz auf den Beinen und raste aus dem Raum. Seine Pfoten schlitterten kurz auf dem Parkettboden, wie bei Scooby-Doo, wenn er vor einem Gespenst wegrennt. Dad knurrte und zielte mit dem Fuß auf Hubs Hintern, verfehlte diesen aber.

¡Viva la revolución!, brüllte Hub über seine Schulter, dann war er verschwunden.

Dad hielt einen Moment inne und schaute mich bloß an. Ich sah, wie seine Augen feucht wurden. Er blinzelte, und eine einzelne Träne fiel auf seine Wange und verschwand im Flaum seines Bartes. Dann zog er meine Bettdecke zurück und zog mir schweigend den Pyjama an. Seine Hände waren lange nicht so sanft wie die von Fat Annie. Er hob mich in den Rollstuhl und schob mich ins Wohnzimmer. Dort lief weder der Fernseher noch das Radio. Nur das Geräusch des Regens.

Dad setzte sich aufs Sofa und wir sahen gemeinsam dem Regen beim Fallen zu. Tiefgraue Girlanden rieselten am Fenster hinab wie fleckige Spitzenbordüren. Dann ein Blitz wie ein Kuss.

»Wir lieben dich, Wes«, sagte Dad. »Das weißt du doch, nicht wahr?«

Ich stellte mir vor, wie sich die Regentropfen in meinen starren Augen spiegelten.

»Wir lieben dich so sehr.«

Dann fiel Dad einfach vom Sofa, ließ sich auf die Knie sinken und legte den Kopf in meinen Schoß. Er schlang seine Arme um meine Taille und weinte leise, so als wollte er nicht, dass ich wusste, dass er weinte. Aber ich spürte, wie seine Schultern bebten und seine Hände zitterten. Seine Tränen fühlten sich unangenehm warm an.

Westlake Soul

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