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Loslassen
Der Ozean ist 621,2 Kilometer weit entfernt, aber ich kann ihn sehen, wann immer ich will. Ich muss lediglich meine Seele nach außen projizieren, was ohne die Ablenkungen des bewussten Verstandes ganz einfach ist. Stell dir vor, du hältst eine Feder vor einen elektrischen Ventilator und lässt sie dann los. Wenn du dich auf die Feder konzentrierst, oder auf den Luftstrom des Ventilators, dann wird das nichts. Wenn du dich auf das Loslassen konzentrierst – auf den exakten Moment des Ausklinkens –, dann schaffst du es.
Ich werde dir eine ganze Menge cooler Sachen zeigen.
Komm mit mir …
Das aufgewirbelte blaue Meer und Gischt, die wie ein Lächeln flimmert. Der Ozeangeruch, der dich einhüllt, der wiederkehrende Refrain sich brechender Wellen, und Möwen, die sich mit ihren Flügeln in die Thermik legen. Ein Katamaran gleitet über das Blau, die Segel voller Leben, und weiter draußen – meilenweit draußen, denn ich kann meine Seele so weit ausstrecken, wie ich will – taucht ein Buckelwal auf. Sein narbiger, muskulöser Leib dreht sich in der Luft. Umschlinge die Finnen auf seinem Rücken und reite mit mir. Spüre es, sei es. Das bist du. Kein Mensch, kein Gas, kein Licht. Du bist dieser Moment des Loslassens, verbunden mit dem Leben. Das Wasser rauscht durch dich hindurch und der Körper des Wals singt. Du drehst dich in einer Spirale abwärts und tauchst. Sein Herzschlag bringt dich zum Leuchten.
Was sollte ich sonst machen? Die verfluchte Decke über mir anstarren? Den Kopf zur Seite rollen und die verfluchte Wand anstarren?
Also bitte.
Okay, das ist nicht ganz fair. Meine Eltern haben ihr Bestes getan, mein Zimmer cool und gemütlich zu machen. Richtig groovy, meinte meine Mom, als sie mit der Umgestaltung fertig waren. So weit würde ich nicht gehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Earth, Wind & Fire hier lange würden abhängen wollen. Das Dekor soll anregend wirken. Es gibt eine Menge fröhlicher Farben. Ein Gelbton von Benjamin Moore, der »Little Angels« heißt. Die Decke ist in »Surf City«-Blau gestrichen. In der Ecke steht ein eiförmiger Sessel, der an den erinnert, in dem Mork immer saß, wenn er Orson anrief. Ein paar Sitzsäcke. Bilder von mir an den Wänden, beim Surfen, beim Eishockeyspielen und als ich Patrick Swayze traf. Ein Fenster mit Blick auf den rückwärtigen Garten. Regalbretter, auf denen all meine Surftrophäen stehen. Eine Yuccapalme in der anderen Ecke, die mich mit ihren saftigen, gesunden Blättern verhöhnt.
Ich will gar nicht zynisch klingen. Ich bin aufrichtig dankbar für die Liebe und Fürsorge, die mir zuteilwird, aber ich weiß eben auch, dass diese groovy Rundumerneuerung weit mehr für meine Eltern gedacht war als für mich. Sie redeten sich ein, dass die Farben und Trophäen dabei helfen könnten, mich aufzuwecken, dabei glaubten sie selbst keine Sekunde daran. Sie haben diese verrückte Vorstellung – und verdammt, die haben alle außer Hub –, dass ich weder Schmerzen noch Gefühle habe, weil ich nicht auf Stimulationen reagiere. Warum sich also die Mühe machen, die Decke blau zu streichen oder Bilder von mir aufzuhängen, auf denen ich durch Wellentunnel gleite? Scheiße, man braucht kein Superhirn, um diese Frage zu beantworten. Das haben sie gemacht, weil es deprimierend ist, mit mir zusammenzuleben. Geradezu herzzerreißend. Es macht keine Freude, mir den Sabber vom Kinn zu wischen und mich grunzen zu hören. Die Farben heben die Stimmung. So einfach ist das.
Ich habe auch einen Rollstuhl. Der ist mit Polstern ausgestattet, die dafür sorgen, dass mein Kopf nicht allzu sehr herumwackelt. Dass er nicht in die Rinne rollt, nennt mein Dad das. Wie beim Bowling, wenn die Kugel von der Bahn abkommt. In der Regel werde ich einmal am Tag ins Wohnzimmer geschoben. Nur für eine Stunde oder so, dann geht es zurück in meine groovige Buchte. Wenn das Wetter schön ist, bringen sie mich raus auf die hintere Terrasse. Ich weiß nicht genau, wieso, wo sie mich doch für empfindungslos halten. Eigentlich weiß ich genau, wieso. Es soll helfen, ihre Schuldgefühle zu lindern. Sie schämen sich nicht ganz so sehr, sich zu amüsieren, wenn ich mit zu viel Sonnencreme auf meinen Armen draußen an der frischen Luft sitze. Ich weiß, auch das klingt zynisch, aber so ist es einfach.
Im letzten Sommer hatten sie sich an einem Tag sogar so sehr amüsiert, dass sie mich vollkommen vergessen haben – mich fast die ganze Nacht auf der verdammten Terrasse stehen ließen. Dad hat sich mit billigem Bier betrunken, Mom war auf Crown Royal. Sie saßen im Wohnzimmer und schauten sich Müll im Fernsehen an, während meine Schwester in ihrem Zimmer war und jemandem über Skype ihre Möpse zeigte. Ich wartete … und wartete. Meine Schwester schaltete ihre Webcam ab und ging ins Bett mit ihrem iPod, aus dem Lil Wayne dröhnte. Mom bekam Frühlingsgefühle und zerrte Dad mit sich ins Schlafzimmer. Jetzt stand ich vor einem Dilemma: Sollte ich warten, ob ihnen irgendwann wieder einfiel, dass sie mich auf der Terrasse gelassen haben, oder sollte ich lieber versuchen, ihnen ein telepathisches Memorandum zu senden? In beide Möglichkeiten setzte ich nicht allzu viel Hoffnung; ich bin nicht gerade ein Ass in diesem Professor-X-Ding – also Gedankenkontrolle (gehört nicht zu meinen Superkräften) –, und obwohl ich in ihre Köpfe springen kann, wann immer ich will, tue ich das überhaupt nicht gern. Ihre Gedanken sind mir zu nah, zu persönlich. Haben deine Mom oder dein Dad je mit dir über Sex geredet? Ihren Sex, meine ich. Dein Vater hatte diesen Pontiac Catalina und wir mussten es damals immer auf dem Rücksitz des Wagens treiben. Oder: Deine Mutter war früher ein richtiges kleines Luder, weißt du das? Igitt, richtig? Das willst du nicht hören, richtig? Tja, ungefähr so ist das, nur tausendmal schlimmer.
Also habe ich Hub aufgeweckt. Ich sagte ihm, er solle bellen wie Lassie oder so was. Das hat er gemacht. Er kratzte sogar an der Schlafzimmertür meiner Eltern. Aber der Lohn für seine Mühe war ein Arschtritt meines alten Herrn.
Das lief nicht wie geplant, sagte Hub zu mir.
Die Mücken waren inzwischen in Heerscharen unterwegs. Ich hatte sogar einige von ihnen in meinem Mund. Also streckte ich die Hand aus und klopfte bei Dads Verstand an. Nur ganz kurz, dann rannte ich davon, bevor ich sehen konnte, woran er dachte. Dad war zu diesem Zeitpunkt dabei, es Mom zu besorgen. Ein dümmlicher Ausdruck auf seinem Gesicht, Schweißtropfen im Bart. Dann hörte er praktisch mitten im Stoß auf.
»Was ist los?«, fragte Mom.
»Ich bin nicht sicher«, keuchte Dad mit glasigem Blick.
»Bist du schon gekommen?«
»Nein … Hast du den Herd ausgeschaltet?«
»Was?«
»Vergiss es«, beruhigte Dad sie und fuhr mit der Rammelei fort.
Ich war ziemlich angepisst, wie du dir vorstellen kannst. Nicht weil ich draußen gelassen worden war und die Mücken feierten, als wären sie mitten im verdammten Karneval, sondern weil sie mich vergessen hatten. Und mit einem Mal wollte ich gar nicht mehr, dass ich ihnen wieder einfiel. Ich wollte, dass sie am kommenden Morgen aufwachten und mich mit Tau auf den Lidern und einer Raupe im Mund fanden – dass die Schuldgefühle wie ein Tsunami über sie hereinbrechen, sie erdrücken und in die Tiefe hinabzerren würden und sie sich noch wochenlang richtig beschissen fühlten. Nicht weniger, als sie verdienten.
Hub fragte, ob er es noch einmal mit Bellen versuchen sollte. Nein, wehrte ich ab. Scheiß auf sie. Und dann ließ ich los … Ich flog davon. Ich flog zum Ozean und schwamm im Mondlicht mit Delfinen.
Jedenfalls fing Hub doch wieder an zu bellen. Mir sagte er, dass er einfach noch mal zum Pinkeln rausmüsse, aber das kaufte ich ihm nicht ab. Der Junge passte auf mich auf. Dad fluchte und stand auf, ließ den Hund raus und bemerkte endlich, dass ich auf der Terrasse saß.
»O Gott Scheiße«, stieß er hervor. »Scheiße, Gott.« Er schob mich zurück nach drinnen. »Es tut mir leid, Wes. Wir haben einfach …«
Ja. Ihr habt mich vergessen. Ich weiß. Arschloch.
Sie haben mich nur ein einziges Mal vergessen, aber es gab noch einen anderen peinlichen Moment dort draußen. Auch da saß ich auf der Terrasse und dachte über die Schlichtheit der Riemann-Hypothese nach (was man eben so macht), als ein Vogel auf meinem Kopf landete. Es war zu allem Überfluss ein Goldzeisig. Das sind die arrogantesten Vögel von allen.
Was zur Hölle soll das?, fragte ich. Entschuldigung … Vogel … würdest du wieder verschwinden?
Der Zeisig plusterte die gelben Federn auf. Entspann dich, Alter, sagte er. Ich muss nur kurz verschnaufen. Bin den ganzen Tag geflogen, kein Grund, rot anzulaufen.
Äußerlich zeigte ich keinerlei Reaktion, aber innerlich blieb mir der Mund offen stehen.
Entschuldige mal, erwiderte ich. Hast du mir wirklich gerade einen Reim um die Ohren gehauen?
Ein himmelweiter Unterschied zwischen Reimen und Gesang. Ich dachte, du wärst klug, aber das war wohl mein voreiliger Überschwang.
Ich diskutiere jetzt sicher nicht die Grundlagen der Lyrik mit dir, empörte ich mich. Verpiss dich einfach von meinem Kopf.
In diesem Moment kam meine Schwester Niki (die Kurzform von Phereniki – meinen Eltern haben sie ins Gehirn geschissen) aus dem Haus. Sie laberte ins Handy und versuchte, amerikanisch zu klingen, obwohl sie aus einer Kleinstadt in Ontario stammt.
»Und ich so: echt jetzt?«, ereiferte sie sich und verdrehte dabei die Augen. »Und er so: echt jetzt?« Sie warf mir einen Blick zu und stockte wie die Figuren in einem Comic, wenn sie zweimal hinsehen müssen.
»Omeingott«, hauchte sie. Es war ein Wort. In der Denkblase über ihrem Kopf stand OMG. Im nächsten Bild stand dort LMFAO, denn sie fing an, brüllend zu lachen. »Westlake hat wirklich, also in echt einen Vogel auf dem Kopf.«
Und ich so: echt jetzt?
»Kein Witz, ich schwöre«, sagte sie. »Ich mache ein Foto und schicke es dir in echt gleich per E-Mail.«
Sie machte in echt ein Foto und schickte es ihrer Freundin per E-Mail. Dann machte sie noch eins und postete es in echt auf ihrem Facebook-Profil.
»Mom … Dad«, kreischte sie. »Kommt schnell. Westlake hat einen Vogel auf dem Kopf.«
Also kamen Mom und Dad aus dem Haus und fingen ebenfalls zu lachen an.
Bist du jetzt zufrieden?, fragte ich den Zeisig.
Sei nicht so ein Spießer, erwiderte der Vogel. Das hat doch gepasst. Ist schon lange her, dass du sie zum Lachen gebracht hast.
»Kann man mit dem Ding Videos aufnehmen?«, wollte Dad wissen und zeigte auf Nikis Handy.
»Aber klar doch«, erwiderte sie und begann zu filmen.
»Unbezahlbar«, fand Dad.
Mom schlug Dad spielerisch tadelnd auf die Schulter, wischte sich die Lachtränen aus den Augen und tat dann endlich das, was anständige Menschen tun würden. Sie scheuchte den Vogel weg.
Verschwinde, du kleiner Zwitscherarsch, sagte ich. Verpiss dich endlich.
Er flog als gelbes Flattern davon und schimpfte mich in Reimen aus wie eine Vogelversion von Dr. Seuss.
Ist doch kein Wunder, dass ich loslasse. In meinem Körper bin ich gefangen, nicht aber in meinem Geist. Das fühlt sich an wie ein Rennpferd hinter einem Starttor, schnaubend und tänzelnd, und ich muss lediglich das Gatter öffnen. Dann stürmt das Pferd davon. Nichts kann es aufhalten. Zum Meer. In die Berge. Wohin auch immer. Es ist wild, stark und schnell.
Wenn ich loslasse, begebe ich mich nicht immer an exotische Orte. Manchmal hänge ich mit meinen alten Kumpels ab, die durch Hallow Falls cruisen oder in Klubs gehen. Allerdings macht mich das traurig, weil ich nicht körperlich bei ihnen bin. Und obwohl meine Familie ein Haufen liebenswerter Nervensägen ist, gehe ich auch häufig ins Zimmer nebenan … sitze neben Dad, wenn er sich illegal Musik runterlädt oder World of Warcraft spielt. Oder ich sehe Mom dabei zu, wie sie liest oder die Pflanzen gießt. Sie singt für sie, ganz leise, und das gefällt mir.
Aber was mir noch mehr gefällt, ist die Tatsache, dass sie sich natürlich verhalten. Es gibt keine falschen Hoffnungen. Sie sind an Orten, an denen sie nicht über mich nachdenken, weil sie nicht über mich nachdenken müssen. Genau so sehe ich sie am liebsten. Das wärmt mir das Herz. Das ist so wunderschön.
Und dann der Ozean. Die Emotionen der Welt. Manchmal ruhig. Manchmal wütend. Immer tief. Wo es begann – das Leben auf der Erde. Wo es enden wird. Dort gehe ich hin, wenn mein Zimmer einfach nicht groovy genug ist. Ich stürze mich in seine trüben Tiefen und erinnere mich daran, wie es sich angefühlt hat, ihn zu reiten. Das Leben unter meinem Board zu spüren. Aquamarinblau in meiner Lunge. Salz in meinen Haaren. Der Wellenkamm, der über mir einen perfekten Bogen beschreibt, mich umfängt wie der Flügel Gottes.