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Erzfeind

Man bezeichnet mich oft als Kohlkopf. Ein verletzender Ausdruck. Manchmal nennen sie mich auch hirntot, was ebenso verletzend und vollkommen falsch ist. Also: Meine Gehirnzellen haben nach fünf Minuten ohne Sauerstoff angefangen, sich wie Kamikaze-Flieger in den Tod zu stürzen, was zu einer gravierenden und (angeblich) irreversiblen Verkümmerung im zerebralen Kortex, also der Großhirnrinde, geführt hat. Mein Neurologe, der Dr. (ich verarsche dich nicht) Thinker (lustig, was?) heißt und Buchstabenkombinationen wie MD, FRCPC und PhD auf seinem Namensschild trägt, erklärte Mom und Dad, dass mein Hirn wie ein fauler Apfel sei. Das Kerngehäuse – mein Hirnstamm – ist intakt geblieben und funktioniert normal. Deswegen habe ich nach wie vor gleichmäßige Schlaf-Wach-Zyklen, Blutkreislauf und Sekretion funktionieren (deswegen war keine Tracheostomie notwendig, dem Himmel sei Dank für die kleinen Dinge), und ich kann ohne Hilfe von Maschinen atmen. Darüber hinaus bin ich zu zufälligen, unbeabsichtigten Bewegungen fähig. Der Rest des Apfels ist mürbe und braun. Er ist in meinem Schädel zusammengeschrumpelt. Mit Flüssigkeit gefüllte Blasen haben die verlorene Hirnmasse ersetzt. Kein Apfel, den man gern essen möchte, wie Dr. Thinker meinen Eltern erklärte. Eigentlich zu nichts mehr zu gebrauchen. Dad (Gott segne ihn; er war zu dieser Zeit von Gefühlen überwältigt und versuchte, das Beste aus einer schlechten Situation zu machen) fragte, ob der Apfel gut genug sei, um Apfelkuchen daraus zu machen. Dr. Thinker zog die Stirn in Falten und verneinte. Mom fragte, ob er gut genug sei, um Apfelwein daraus herzustellen. »Welche Art von Apfelwein?«, wollte Dr. Thinker wissen, den die Fragen meiner Eltern offensichtlich verwirrten, und Mom (auch sie meinte es gut), erwiderte: »Na, süßen Wein.«

Hirnschaden? Scheiße, klar. Hirn gefickt? Okay … Kann man so sehen. Aber hirntot? Auf keinen Fall, Alter. Nicht mal annähernd.

Ich lag siebenunddreißig Tage lang im Koma. Die ganze Zeit nur Dunkelheit. Ein epischer Kampf gegen Dr. Quietus. Dann wachte ich endlich auf (zumindest öffnete ich die Augen) und fand mich in einem chromhellen Krankenzimmer mit meinen weinenden Eltern wieder. Die Art, wie Mom meine Hand festhielt, und der Klang ihres Schluchzens verrieten mir, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Der Herzmonitor, die Infusionsschläuche in meinen Händen, die Nasensonde zur künstlichen Ernährung – all das verstärkte das Wissen um meinen üblen Zustand. Ich versuchte meinen Kopf zu bewegen, vermochte es aber nicht. Ich versuchte zu sprechen, wollte Mom sagen, sie müsse nicht weinen, aber ich konnte es nicht. Der Ernst meiner jetzigen Verfassung ging mir auf wie eine verkrüppelte Sonne. Der Blumengeruch war widerlich.

»Westlake?« Mom quetschte meine Hand noch fester zusammen. Meine Knöchel knackten. Ich spürte den Bogen ihres Eherings, die Spitze ihres Fingernagels. »Baby, kannst du mich hören?«

Ja, Mom, sagte ich. Ich kann dich hören.

Stell dir etwas Perfektes vor. Eine Blume. Ein Blatt. Ein Kunstwerk. Nein, nichts Materielles, das ist zu klischeehaft. Es muss ein Gefühl sein. Ein perfektes Gefühl. Wenn du jemanden, den du liebst, nach langer Abwesenheit wiedersiehst oder dich mit so intensiver Klarheit an den süßesten Augenblick deines Lebens erinnerst, dass es ist, als würdest du ihn noch einmal erleben. Ein Gefühl, das funkeln würde, wenn man es sehen könnte. Das glühen würde, wenn man es in Flaschen abfüllen könnte. Und jetzt stell dir vor, dass dir dieses Gefühl genau dann, wenn es am hellsten strahlt, entrissen und durch eine kalte Grube ersetzt würde, die an ein Grab erinnert. Das hilft dir vielleicht nachzuvollziehen, wie ich mich in diesem Moment fühlte. Der Kontrast – vom Flug zum Sturz, vom Himmel in die Hölle – war lähmend, erstickend.

»Blinzle, wenn du mich hören kannst, Baby«, sagte Mom.

Ich konnte es nicht.

In den folgenden Wochen, während mein Körper einer Reihe von Tests und Scans unterzogen wurde und meine Eltern an meinem Bett Wache hielten, wurde ich mir meiner neuen Superkräfte bewusst. Das war nicht gerade ein großer Triumph. Ich riss mir nicht das Hemd vom Leib, um darunter ein schillerndes W zu enthüllen, und ich huschte auch nicht in die nächste Telefonzelle, um mein Cape und meine Stiefel anzuziehen. Ich dachte vielmehr, ich würde träumen. Oder halluzinieren. Eine Nebenwirkung der Flüssigkeiten, die sie unablässig in mich pumpten. Verständlich, wenn man bedenkt, dass ich plötzlich verstand, wovon die Vögel sangen, und in fünftausend verschiedenen Sprachen denken konnte. Es fiel mir leicht, meine Seele vom Körper zu lösen, während ich dem Schnurren und Summen des CT-Scanners lauschte oder das Schluchzen meiner Mutter ertrug. Ich flog hinauf über die Wolken, drehte gefühlsschwere Schleifen und landete auf den Spitzen der neogotischen Wolkenkratzer. Nachdem mir klar geworden war, dass ich weder träumte noch halluzinierte, nahm ich an, dass mein Verstand eine Art Schutzmodus aktiviert hatte. Eine Möglichkeit, das Trauma zu lindern.

Währenddessen warteten meine Eltern darauf, dass ich aus dem vegetativen Dämmerzustand aufwachte. Sie beteten mit verkrampften Händen und bleichen Fingern. Sie wussten, dass der Faktor Zeit entscheidend war und dass meine Chancen auf eine Genesung mit jedem Tag, der verging, weiter schwanden. Mom sagte immer wieder Dinge wie: »Wenn du mich hören kannst, Westlake, bewege deinen Kopf.« Oder: »Gib mir ein Lächeln, falls du mich verstehst.« Und manchmal machte ich eine zufällige, reflexartige Bewegung. Ich stöhnte oder zuckte – aber nicht als Reaktion auf Mom, sondern weil mein Nervensystem zufällig in jenem Moment einen Schalter umlegte und damit den Anschein erweckte, dass mein Bewusstsein noch aktiv war. Das nährte bei meinen Eltern Hoffnung, auch wenn Dr. Thinker ihnen erklärte, dass meine Antworten unwillkürlich und zufällig seien. Aber ein verzweifelter Mensch hält sich an allem fest, und meine Eltern hörten nie auf, daran zu glauben, dass ich es schaffen würde.

Vier Wochen nachdem ich aus dem Koma erwacht war, wurde mein Zustand auch offiziell als »Wachkoma« diagnostiziert. Bei dieser Gelegenheit bezeichnete Dr. Thinker mein Gehirn als faulen Apfel. Er legte Mom und Dad die Ergebnisse meiner CT-Scans vor, zeigte ihnen die dunklen Flüssigkeitsblasen auf den Bildern, das mürbe Obst. Nachdem er ihnen versichert hatte, dass mein Hirn weder für Apfelkuchen noch für Wein gut genug sei (nicht einmal für süßen Wein), eröffnete er ihnen, dass ich keine Chance auf vollständige Genesung hätte und für den Rest meines Lebens nur noch Gemüse sein würde. Immerhin nannte er mich nicht Kohlkopf.

»Das glaube ich nicht«, sagte Mom zu Dr. Thinker. »Mein Baby ist immer noch dadrin. Ich kann ihn sehen. Ich kann ihn spüren.«

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine Superheldenkräfte bereits akzeptiert, und wenn ich nicht gerade damit beschäftigt war, gegen Dr. Quietus zu kämpfen oder mich in einer glückseligen Secondhand-Realität aufzuhalten, suchte ich nach einem Ausweg. Einer Möglichkeit, wieder zu leben. Ich benutzte all meine Kraft, den motorischen Kortex anzuwerfen, meine Zehen einzurollen oder mit den Fingern zu zucken, aber ohne Erfolg. Himmel, ich war schneller als eine abgefeuerte Kugel und stärker als eine Lokomotive, und doch konnte ich nicht einmal mit meinem kleinen Finger wackeln. Ich schnappte mir mein Board und surfte über die universelle Wellenfunktion, denn ich glaubte, ich könnte dort einen Abzweig finden, in die andere Richtung gleiten und dann in einer alternativen Realität die Augen öffnen. Aber das Wasser war spiegelglatt und ich sank mehr, als dass ich surfte. Aus dieser Erfahrung schloss ich, dass das Leben doch nur in der Gegenwart existiert. Die Vergangenheit ist ein fauler Apfel. Zu nichts mehr zu gebrauchen. Nicht einmal für Apfelkuchen.

Ich schrie meinen Körper an, er solle sich bewegen. Meine Augen, sich zu öffnen. Meine Stimme, Gehör zu finden. Ich hob schweres Gerät über meinen Kopf, brach mit voller Wucht durch Betonwände und flog fünfzigtausendmal um die Erde, immer entgegen der Erdrotation. Nichts. Nicht einmal ein Flackern. Erschöpft und meines Lebens beraubt ließ ich meine nutzlose Hülle zurück und glitt über den Ozean, lauschte seinem Herzschlag, während sich meine Tränen mit der Gischt verbanden.

Glaub mir, auch deine Seele kann weinen.

»Sie sollten sich darüber im Klaren sein«, erklärte Dr. Thinker meinen Eltern, »dass Westlake keinerlei Lebensqualität haben wird und dass die Last, die Sie als seine Eltern tragen, Ihnen alles abverlangt.«

»Er ist unser Sohn«, widersprach Dad. »Er wird niemals eine Last sein.«

»Es gibt Programme, die Ihnen helfen können, damit fertigzuwerden«, fuhr Dr. Thinker ungerührt fort. »Ich werde Sie mit den notwendigen Informationen versorgen. Sie sollten auch über häusliche Pflege nachdenken.«

»Alles, was nötig ist«, erwiderte Dad.

Dr. Thinker nickte. »Ich muss Sie außerdem warnen, dass Westlakes Lebenserwartung ungewiss ist. Er ist nicht mehr so kräftig und widerstandsfähig wie früher und daher anfälliger für Infektionen. Er könnte eine Lungenentzündung bekommen, Atemwegsprobleme oder … sich dafür entscheiden, einfach aufzugeben.«

Aufgeben? Niemals. Nicht solange es Wellen gibt, die man surfen kann.

»Wollen Sie uns also sagen«, wollte Mom wissen, »dass er jeden Moment sterben könnte?«

»Er kann auch noch vierzig Jahre in diesem Zustand weiterleben«, erwiderte Dr. Thinker. »Ich möchte Sie lediglich auf das Schlimmste vorbereiten.«

»Er ist eine Kämpfernatur«, widersprach meine Mutter.

»Westlake hat keinerlei kognitive Fähigkeiten«, erklärte der Arzt. »Er kämpft nicht, Mrs. Soul, weil ihm nicht klar ist, dass er in einen Kampf verwickelt ist. Er ist sich dessen nicht bewusst.«

Das war selbstverständlich nicht wahr. Ich klopfte bei Dr. Thinkers Verstand an, um ihm das klarzumachen, aber du wärst überrascht, wie schnell rational denkende Menschen seltsame Stimmen in ihrem Kopf abtun und verdrängen. Das ist nur einer der vielen Gründe, wieso die Kommunikation mit Menschen auf der telepathischen Ebene sich so schwierig gestaltet, selbst für mich.

Recht hatte er allerdings, was meine Lebenserwartung anging. Ich kämpfe häufig mit Dr. Quietus. Meistens sind das kurze, heftige Scharmützel. Er erscheint in vielen Gestalten, immer dunkel und geschmeidig. Sein wahres Gesicht habe ich noch nie gesehen. Er lässt einfach nur seine kalten Hände um mich gleiten. Der ultimative Superschurke. Ich brauche meine gesamte mentale Kraft und Stärke, um ihn abzuschütteln. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ich nach außen so ausdruckslos erscheine, während ich in meinem Innern auf dem Dach einer Seilbahn in der Schweiz mit meinem niederträchtigen Erzfeind ringe oder seinem Todesstrahl ausweiche und durch die flimmernde Skyline Tokios flitze.

Von all unseren Kämpfen war der erste – während mein Körper noch tief im Koma lag – der längste und brutalste. Er griff mich an, kalt und vermummt, erfüllte mich mit solcher Furcht, dass es sich anfühlte, als wäre meine Seele in Teer getaucht und mit einem Hammer zerschlagen worden. Zunächst war es ein Katz-und-Mausspiel. Der Hurensohn hätte mich jederzeit erledigen können. Stattdessen lachte er gackernd und betatschte mich. Ich kroch in eine Ecke und betete um Licht. Es wäre einfacher gewesen, mich zu ergeben, vielleicht ein wenig zu zappeln, mich hoffnungslos aufzubäumen wie ein Fisch an Land – aber Mom hatte recht: Ich bin eine Kämpfernatur. Ich wütete und wehrte mich gegen ihn. Wir wälzten uns auf den Straßen meines Komas, ineinander verknäuelt, teilten wilde Hiebe aus. Und irgendwo in dieser düsteren Weite fand ich meine innere Stärke. Dr. Quietus war ihr nicht gewachsen. Er zog sich zurück, schwor aber, dass er wiederkommen würde, und ich öffnete meine Augen und sah das chromhelle Krankenzimmer und hörte die tiefe Trauer meiner Eltern.

Ich lebe noch.

Aber er ist da … immer da. Bereit zum Angriff.

Mein Erzfeind.

Vor meiner Rückkehr nach Hause (zu dem bunt gestrichenen Zimmer und dem eiförmigen Mork-Sessel) machte ich eine kleine Astralreise, um einer Besprechung meiner Eltern mit Dr. Thinker beizuwohnen. Ich wünschte, das hätte ich nicht getan. Es war frustrierend und besorgniserregend. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich sieben Monate im Krankenhaus gelegen und meine Eltern hatten akzeptiert, dass mein Zustand sich wahrscheinlich nicht verbessern würde.

»Ich bin sicher, Ihnen ist klar, wie anstrengend die dauerhafte Pflege Ihres Sohnes sein wird.«

Mom und Dad nickten. Ich schwebte um sie herum, leichter als ein Atemhauch. Dad zupfte an seinen Nagelhäutchen. Eine nervöse Angewohnheit. Mom fuhr sich mit den Zähnen über die Oberlippe. Dr. Thinkers dicke Brillengläser fingen das Sonnenlicht ein, das durch das Fenster hereinfloss. Wegen der Reflexion waren seine blassen Augen nicht zu erkennen.

»Was mich zu einem heiklen Thema führt«, fuhr er fort. »Vermutlich – sogar ziemlich sicher – werden Sie irgendwann an einen Punkt kommen, an dem Sie ernsthaft über Westlakes Lebensqualität nachdenken. Oder über das Fehlen derselben, um genau zu sein. Wenn Sie alle Aspekte in Betracht ziehen, kommen Sie möglicherweise zu dem Schluss, dass es barmherziger ist, die lebenserhaltenden Maßnahmen einzustellen.«

Moms Augen weiteten sich. »Sie meinen, ihn umzubringen?«

»So würde ich das nicht ausdrücken, Mrs. Soul.«

»Aber Sie meinen, sein Leben zu beenden?«

»Lebenserhaltende Maßnahmen einzustellen.«

»Ja. Sein Leben beenden.«

Dr. Thinker lehnte sich auf seinem Bürostuhl zurück und das Sonnenlicht traf nicht länger auf seine Brillengläser. Jetzt konnte ich seine Augen sehen. Sie waren klein und golden, mit roten Sprenkeln. Haben mich an den Teufel erinnert. Er zupfte an seinem Ohrläppchen – vielleicht seine nervöse Angewohnheit – und nahm einen Stift in die Hand, der auf dem Schreibtisch gelegen hatte. Aber er schrieb nicht damit, er fuhr bloß mit dem Daumen über die vordere Hälfte.

»Ich bin kein Berater oder Beistand; ich kann Ihnen nicht sagen, was für Sie und Ihren Sohn das Richtige ist.« Er versuchte sich an einem mitfühlenden Ausdruck, aber so richtig wollte der ihm nicht gelingen. Vielleicht lag es an den roten Flecken in seinen Augen. »Diese Entscheidung können nur Sie treffen, aber die Erfahrung hat gezeigt, dass Sie sich irgendwann fragen werden, was Westlake wollen würde. Ich möchte Sie lediglich über Ihre Optionen informieren. Das ist alles.«

Dad nickte und Moms Augen füllten sich mit Tränen. Ich huschte aufgewühlt im Raum umher, brachte die Luft zum Schimmern.

»Ich kann mir kaum vorstellen, wie schwer das alles für Sie sein muss.«

Mom fischte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und tupfte sich die Wangen trocken.

»Bitte entschuldigen Sie meine Unwissenheit«, meldete Dad sich zu Wort. »Das Ganze ist so surreal und gefühlsbeladen … Aber wie liefe das denn ab, lebenserhaltende Maßnahmen einzustellen?«

»Seine Magensonde würde entfernt werden«, erklärte Dr. Thinker.

»Richtig. Natürlich.« Dad dachte kurz darüber nach und zog dann die Brauen zusammen. »Damit er verhungert?«

»Nun, er bekäme eben nicht länger die notwendigen Nährstoffe und die Flüssigkeit, die ihn am Leben erhalten.«

»Beschönigen Sie es doch nicht, Doc. Er würde verhungern.« Dad schüttelte den Kopf. »Himmel Herrgott, man legt ja nicht einfach einen Schalter um und das war’s, oder? Wie lange dauert es dann, bis er stirbt?«

»Das kann ich unmöglich sagen.« Dr. Thinker lehnte sich wieder vor und seine Augen verschwanden im blendenden Sonnenlicht. »Es gibt eine Menge Variablen. Das kann Tage, manchmal auch Wochen dauern, abhängig von der Hydration des Patienten.«

»Wochen?«, wiederholte Dad. Seine Stimme ging entsetzt in die Höhe. Wenn er sich aufregt, klingt er wie Micky Maus. Mom fällt es manchmal schwer, ein ernstes Gesicht zu machen, wenn die beiden streiten. »Über welchen Zeitraum reden wir hier … zwei Wochen? Drei?«

»In einigen Fällen kann es durchaus so lange dauern, aber wie gesagt, es gibt viele Variablen, die das beeinflussen.«

»Entschuldigen Sie, aber … Haben Sie vorhin das Wort barmherzig verwendet?«

»Es ist eine Entscheidung, die Sie zu gegebener Zeit treffen werden, abhängig davon, wie es Ihnen nach einer Weile mit der Situation geht und wovon Sie glauben, dass Westlake es wollen würde.«

»Ich bin ziemlich sicher, dass er nicht verhungern möchte.«

»Glauben Sie, wenn er in der Lage wäre, selbst zu denken und seine Situation zu erfassen, würde er es vorziehen, für den Rest seines Lebens im Wachkoma zu liegen?«

Dad zupfte wieder an seinen Nagelhäutchen und blies überfordert die Backen auf. Mom ruinierte ein weiteres Taschentuch. Winzige weiße Fetzen davon blieben auf ihrem Schoß, vorn auf ihrem Pullover. Die Tränen flossen immer weiter. Sie glänzten im Sonnenlicht wie Dr. Thinkers Brillengläser. Ich huschte weiterhin im Raum umher, denn ich war fassungslos, dass dieses Gespräch überhaupt stattfand. Ich fragte mich, ob ich zittern würde, wenn ich jetzt wieder in meinen Körper führe.

»Und es gibt keine schnellere Methode?«, fragte Dad nun.

»Cedar«, mahnte Mom. »Wir werden das nicht …«

»Ich frage doch nur«, beschwichtigte Dad.

»Schneller?«, echote Dr. Thinker. »Was meinen Sie denn damit?«

»Eine Pille oder eine Injektion.«

»Cedar …«

»Sterbehilfe ist in Kanada verboten, Mr. Soul.«

»Einen raschen, gnädigen Tod herbeizuführen ist also illegal«, stellte Dad fest. »Aber jemanden auf unbestimmte Zeit langsam verhungern zu lassen, ist vollkommen in Ordnung?«

»Ich mache die Gesetze nicht, Mr. Soul.« Der knappe Ton verriet mir, dass Dr. Thinker langsam ungeduldig wurde. Seine Wangen bekamen rote Flecken, die denen in seinen Augen ähnelten. »Ich liefere Ihnen Informationen, damit Sie eine sachkundige Entscheidung treffen können, sollten Sie sich in der geschilderten Situation wiederfinden.«

Die Stille legte sich schwer auf den Raum. Ein blauer Himmel ohne Sonnenschein. Eine verwaschene, kühle Leere. Mom durchbrach das Schweigen schließlich mit ihrem kläglichen Versuch, nicht laut aufzuschluchzen. Ein Zischen entfuhr ihr, die Schultern bebten, Taschentuchfusseln klebten ihr tränennass im Gesicht.

»Niemals«, wisperte sie.

Ich flog zu ihr hinüber und hielt sie fest, aber ich wusste, dass sie mich nicht spüren konnte.

Westlake Soul

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