Читать книгу Die Leiche im Paradies / Tod auf der Rennbahn / Mord im Grand-Hotel - Drei Romane in einem Band - Rita Hampp - Страница 15
SIEBEN
ОглавлениеZum zehnten Mal fragte sich Lea in der rumpelnden Straßenbahn zum Leipziger Südfriedhof, warum sie am Vorabend nicht einfach Mineralwasser getrunken hatte. Guinness schmeckte ihr doch gar nicht. Warum hatte sie trotzdem ein drittes und viertes bestellt, obwohl sie erstens schon viel erfahren hatte und zweitens genau wusste, dass sie aus ihrem Zechkumpanen nichts Vernünftiges mehr herausbekommen würde? War es Mitleid mit ihm gewesen?
Innerlich fluchend betastete sie ihre dröhnenden Schläfen. Nein, sie konnte sich nicht erklären, warum der Abend so aus dem Ruder gelaufen war, und sie musste sich jetzt zusammenreißen. Gleich würde es darauf ankommen, einen halbwegs klaren Kopf zu haben.
Dabei hatte alles so gut angefangen. Sie war gestern am späten Nachmittag in Leipzig angekommen und hatte ihr fürstliches Zimmer im Renaissance-Hotel bezogen. Dienstreisen waren gar nicht so schlecht, hatte sie noch gedacht, dieses Hotel hätte sie sich privat niemals geleistet. Aber viel hatte sie von ihrer Bleibe nicht gehabt, denn sie hatte nur schnell ihre Tasche abgestellt, sich an der Rezeption einen Stadtplan besorgt und war sofort losgezogen, brennend vor Tatendrang.
Am Tag zuvor hatte sie in Baden-Baden letzte Informationen für ihren Leipzigtrip gesammelt. Sie hatte Franz zweimal zum Arbeitsamt schicken müssen, um herauszufinden, dass Trixi Völker verheiratet gewesen war. Bei der Nachrecherche hatte sie erfahren, dass der Ehemann Uli Völker hieß, achtunddreißig Jahre alt und arbeitslos war und in Leipzig am Körnerplatz lebte. Mit dem Namen Wiesinger war sie allerdings auf die Schnelle nicht weitergekommen. Es gab vier Einträge mit diesem Namen im örtlichen Telefonbuch, und sie konnte nicht einmal sicher sein, ob die Büdding einen Wiesinger aus Baden-Baden gemeint hatte und nicht einen aus Rastatt, Bühl oder Sinzheim.
Den Körnerplatz zu finden, war nicht schwer gewesen. Sie hatte die klapprige Straßenbahn genommen und sich neugierig über den Augustusplatz am Opernhaus und neuen Gewandhaus vorbei über das neue Rathaus, das aussah wie ein altes Schloss, zur Karl-Liebknecht-Straße schaukeln lassen, über deren trendiges studentisches Treiben sie ebenso staunte wie über die kleinen, exotischen bis stilvollen Geschäfte und Lokale. Sie musste zugeben, dass die Stadt bei weitem nicht so trist war, wie sie erwartet hatte. An der nächsten Haltestelle stieg sie aus und bog zum Körnerplatz ab.
Viele der Wohnblocks um den Platz herum waren bereits saniert. An den meisten hingen allerdings Transparente, auf denen Mieter oder Eigentümer gesucht wurden. Nur der Block, in dem laut Anschrift Uli Völker wohnte, war immer noch schäbig. Das Holz der Haustür war teilweise abgesplittert, der Rest wüst zerkratzt. Völkers Name war per Hand auf eines der verrosteten Klingelschilder geschrieben. Sie drückte den Klingelknopf, aber nichts tat sich. Sie versuchte es mehrmals.
Dann trat sie einen Schritt zurück. Im ersten Stock bewegte sich eine Gardine, dann wurde das Fenster geöffnet. Eine Frau mit Lockenwicklern und grell geschminktem Mund beugte sich vor.
»Zu wem wollen Sie?«
»Uli Völker.«
»Da müssen Sie früher kommen. Um die Uhrzeit ist er weg.«
»Was heißt weg? Wissen Sie, wo?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Ich bin – äh, eine Freundin seiner Frau.«
»Dann wissen Sie doch, wo Sie ihn finden.« Die Frau machte Anstalten, das Fenster wieder zu schließen.
»Warten Sie. Haben Sie Trixi Völker gekannt?«
»Klar doch.«
»Ich bin von der Zeitung. Trixi Völker ist ermordet worden, und ich recherchiere hier, um herauszufinden, wer sie umgebracht haben könnte.«
»Was? Ermordet? Kommen Sie rauf.«
Der Türsummer ging. Lea stieg eine knarrende, dunkle Holztreppe hoch. Es roch nach Sauerkraut und überhitztem Fett.
»Dögnitz« stand an der Tür.
»Ermordet, sagen Sie?« Die Frau hielt ihr die Tür auf und ging in die Küche vor. »Die lebt ja schon ewig nicht mehr hier.« Ein blauer Emailletopf dampfte auf dem Kohleherd, auf dem Fensterbrett stand eine Batterie von kleinen Zinnfiguren. Auf dem Küchentisch lag eine angebrochene Schachtel Zigaretten. Lea beherrschte sich.
»Wann ist sie denn ausgezogen?«
»Ausgezogen direkt ist sie nicht. Sie war einfach irgendwann nicht mehr da. Das ist über ein Jahr her. Weihnachten habe ich sie noch gesehen, aber Silvester ist Uli schon bös abgestürzt. Hat uns morgens rausgeklingelt und irgendwas gebrabbelt, von wegen Trixi ist weg. Mann, der kam die Treppe nicht mehr allein hoch.«
»Was hat er noch gesagt?«
»Uli redet nicht viel. Aber es ist ihm ganz schön an die Nieren gegangen. – Wo war sie überhaupt?«
»Sie ist nach Baden-Baden gegangen.«
Die Frau schnaubte. »In den Westen, klar.«
»Kannten Sie sie gut?«
»Wie man Nachbarn so kennt.«
»Wo hat sie gearbeitet? Hatte sie Freunde?«
»Sie stellen vielleicht Fragen. Gearbeitet? Zeigen Sie mir einen hier, der Arbeit hat. Jetzt sagen Sie schon, wie ist sie umgekommen?« Es war klar, dass die Frau nur ihre Neugierde stillen wollte. Sensationelle Enthüllungen waren von ihr vermutlich nicht zu bekommen.
Lea setzte sich erst gar nicht. »Frau Dögnitz, noch mal. Wissen Sie überhaupt etwas über Trixi?«
»Sie war eigentlich ganz nett.«
»Wissen Sie, ob und wo sie früher gearbeitet hat?«
»Keine Ahnung. Zum Schluss waren sie jedenfalls beide stempeln.«
»Seit wann?«
»Also, da müssen Sie Uli schon selbst fragen.«
»Aber wo finde ich ihn?«
»Im Killiwilly in der Karl-Liebknecht-Straße, vorne an der Ecke, über die Straße. Die Stammkneipe von den beiden. Da ist er jeden Tag, seit Trixi weg ist. Aber ich glaube, um diese Uhrzeit können Sie nicht mehr vernünftig mit ihm reden. Kommen Sie lieber morgen früh wieder.«
Morgen früh würde die Beerdigung sein, ein noch schlechterer Zeitpunkt für ein Gespräch mit dem Witwer.
Lea verabschiedete sich schnell und machte sich auf den Weg.
Das Killiwilly war ein gemütlicher irischer Pub. Es war erst kurz nach sechs, aber es war kaum mehr ein Platz frei in dem Lokal. Lea blieb einen Moment in der Tür stehen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Es war so verräuchert hier, dass ihr jede Lust auf Nikotin verging. Am liebsten hätte sie sofort kehrt gemacht.
Lea schüttelte ihren Brummkopf. Wäre sie nur gegangen! Sie hätte sich das Gewandhaus, die berühmte Nikolaikirche oder die Altstadt mit der »Mädler-Passage« und »Auerbachs Keller« ansehen sollen, statt ihren Abend zu ertränken.
Eine schnippische blonde Bedienung hatte ihr mit einer gelangweilten Kopfbewegung gezeigt, welcher der Thekenspechte Uli Völker war. Sein Bierdeckel trug bereits einige Striche. Er aber stand aufrecht und war gut ansprechbar.
Sie hatte ihn sich anders vorgestellt, flippiger, passend eben zu einer drahtigen rothaarigen Enddreißigerin mit gepiercter Nase. Aber Völker sah hier in diesem studentischen Publikum des Pubs beinahe schon rührend solide aus. Er war sehr groß und schlaksig. Sein weißes Oberhemd war sauber, aber schlecht gebügelt, an der Manschette fehlte ein Knopf. Wenn er redete, hüpfte sein Adamsapfel in dem zu weiten Kragen auf und ab.
»Wer sind Sie? Presse?« Er lachte ungläubig. »Piet, noch ein Bier, und für die Dame hier auch.«
Der Typ hinter dem Tresen mit tätowierten Unterarmen und einer Schmalzlockenfrisur aus den Fünfzigern tauschte wortlos Völkers leeres Glas gegen ein volles aus und schob Lea ebenfalls einen Humpen mit schwarzer, schaumloser Flüssigkeit zu.
Völker versuchte, sich eine Zigarette von der falschen Seite anzuzünden, und kicherte, weil es ihm nicht gelang. »Presse! Trixi hätte sich krumm gelacht.« Dann wurde er schlagartig ernst. Seine Hand zitterte. »Morgen ist die Beerdigung.«
»Ich weiß.«
»Klar, deswegen sind Sie ja hier, oder? Fotos vom trauernden Witwer, was?«
»Ich würde gerne mehr über Trixi erfahren.«
»Wirklich?« Er starrte in sein Glas, dann lächelte er schief. »Trixi. Sie war süß, temperamentvoll, lieb, unzuverlässig, ungerecht, unehrlich, aber sie konnte tanzen und lachen, dass einem das Herz aufging. Und trotzdem ...« Völker sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen, doch dann wischte er sich ärgerlich über die Augen. »Sie war ein richtiges Luder. Noch ein Bier?«
Und dann hatte er geredet und gar nicht mehr aufgehört.
Lea blickte auf. Rechts vor ihr tauchten auf einem Hügel die schwarzen massigen Mauern des Völkerschlachtdenkmals auf. Noch eine Station bis zum Südfriedhof. Sie war eine halbe Stunde vor der Zeit, und deshalb beschloss sie, den restlichen Weg zu Fuß zurückzulegen, in der Hoffnung, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Es war ein wunderschöner Vormittag, klare Luft, keine Wolke am Himmel. Ein kräftiger kühler Wind machte die Hitze, die sich in der Innenstadt bereits staute, hier draußen erträglich. Sie bummelte auf das imposante Denkmal mit dem großen Wasserbecken zu und ließ noch einmal Revue passieren, was sie erfahren hatte.
Trixi Völker war 1965 in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern geboren, die Mutter hatte die Familie bald nach der Geburt verlassen, der Vater, bei Trixis Geburt über fünfzig, versuchte sein Bestes, aber er starb, als sie acht war, bei einem Unfall. Sie kam in mehrere Heime, dann holte ihre Mutter sie zu sich und ihrem neuen Mann nach Leipzig, doch das ging nicht gut. Trixi habe darüber nie viel erzählt, hatte Uli Völker gebrummt, aber es sei »irgendwas vorgefallen«. Danach ging Trixi freiwillig in ein Heim, hatte aber große Schwierigkeiten. »Sie wollte immer nur in die Natur, wie sie es als Kind gewohnt war. Und da ist sie manchmal eben heimlich ausgebüchst«, berichtete Völker. Trotz aller disziplinarischen Schwierigkeiten sei sie aber eine gute Schülerin gewesen und habe später das Studium mit Auszeichnung geschafft.
Als sie zwanzig war, hatte sie Uli Völker kennen gelernt, mit zweiundzwanzig hatte sie ihn geheiratet und eine Stelle in der Leipziger Stadtbibliothek angetreten. Er hatte sein Geld als Bauingenieur verdient. Bis nach der Wende war es ihnen gut gegangen, hatte Lea aus dem Gestammel herausgehört, das immer unverständlicher wurde, je weiter der Abend fortschritt. Danach waren sie beide arbeitslos geworden und hatten versucht, sich mit Aushilfsjobs über Wasser zu halten. Welche Jobs das waren, hatte Lea nicht mehr herausfinden können, denn Uli Völker hatte begonnen, dumpf in sein Glas zu stieren, die Lippen lautlos zu bewegen und den Kopf zu schütteln. Über Mennicke, Nowak oder Wiesinger hatte sie nicht mehr mit ihm sprechen können.
Sie hörte eine Kirchturmuhr schlagen und schrak aus ihren Gedanken. Die Trauerfeier fing gleich an, und sie war immer noch auf dem Gelände des Völkerschlachtdenkmals. Im Dauerlauf umrundete sie das Monument, doch es führte kein direkter Weg zum Friedhof. Sie musste umkehren und den Weg zurücklaufen, um an der Straße entlang zum Eingangsportal des Friedhofs zu gelangen. Als sie den breiten Weg auf die mächtige Kirchenanlage zutrabte, kamen die wenigen Trauergäste bereits aus dem Portal und bogen nach rechts ab. Große alte Bäume säumten den breiten Weg und tauchten den Friedhof in eine angenehme Kühle, aber Lea schwitzte, als sie das kleine Grüppchen endlich erreichte.
Es war nur eine Hand voll Menschen, die hinter dem Sarg und dem Pfarrer gingen, an der Spitze Uli Völker, der einen schwarzen Wintermantel mit Pelzkragen trug, gefolgt von Piet aus dem Killiwilly, und der Nachbarin Frau Dögnitz. Den Mann, der mit etwas Abstand folgte, kannte Lea allzu gut. Sie glitt an seine Seite.
»Suchen Sie hier den Mörder?«, flüsterte sie Kriminalhauptkommissar Gottlieb zu.
Der blitzte sie an. »Ihnen ist wohl nichts heilig«, zischte er.
»Und was ist mit Ihnen? Verhör des Witwers am offenen Grab?«
Er schüttelte ärgerlich den Kopf. »Und Sie? Ein paar nette Fotos vom weinenden Angehörigen?«
Das hatte Lea nicht vor. Sie hasste genau diese Bilder von Beerdigungen, und wenn es nach ihr ginge, würden sie niemals in der Zeitung landen. Sie fand sie pietätlos. Sie würde später zurückkommen, wenn alle gegangen waren und das Grab zugeschüttet und mit dem Holzkreuz versehen war, das schon bereitlag. Darüber thronte das mächtige Völkerschlachtdenkmal – das konnte sie sich als Motiv gerade noch gestatten. Da es nicht so aussah, als würde Uli Völker die Trauergäste im Anschluss an die Beerdigung zum Imbiss einladen, würde sie ihn in ein Café bitten und das Gespräch von gestern nüchtern fortsetzen.
Als hätte Gottlieb ihre Absichten erraten, puffte er sie in die Seite. »Zu spät, Verehrteste«, flüsterte er, »ich nehme Völker mit, gleich anschließend.«
Sie setzte ihr liebenswürdigstes Lächeln auf. »Ich hoffe, Sie haben eine solide Leber.«
Mehr konnten sie nicht reden, denn der Pfarrer murmelte ein paar Worte und hielt dann dem Witwer eine Schaufel hin. Völker schüttelte den Kopf und blieb reglos stehen.
Nach ein paar endlosen Minuten nahm Gottlieb ihn schließlich fast freundschaftlich am Arm und bugsierte ihn zum Ausgang des Friedhofs, wo ein unauffälliger Wagen wartete.
Frau Dögnitz und Piet blieben mit Lea zurück. »Kann ich Sie zu einem Kaffee einladen?«
Beide schüttelten wortlos den Kopf.
»Ich muss gleich wieder los«, meinte Piet. »Man sieht sich, oder?«
Lea nickte.
Frau Dögnitz scharrte mit dem Fuß.
»Sie hätten mir ruhig sagen können, dass heute Beerdigung ist«, sagte sie.
»Woher haben Sie es erfahren?«
»Hier. Können Sie behalten.« Die Frau zog eine zusammengefaltete Zeitungsseite aus der Tasche ihres schwarzen Kostüms.
Eine Todesanzeige. Links, anstelle eines Kreuzes, war ein kleines gemaltes Porträt der Toten abgedruckt. Daneben stand: »Wer? Warum? – Trixi Völker geb. Bruske, geboren 24. Februar 1965 in Boltenhagen, ermordet am 7. Mai 2004 in Baden-Baden. Beerdigung heute, 11 Uhr, Südfriedhof. Meine Liebe war dir nicht genug, aber sie wird niemals enden. Uli«
Schweigend steckte Lea die Seite ein. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Wortlos gingen sie zusammen zum Ausgang.
»Wann sind die Völkers eigentlich eingezogen?«, fragte Lea, um das Schweigen aufzubrechen.
»Vor vier Jahren, glaube ich. Die haben eine Weile auf Mieter gewartet, ehe sie selbst eingezogen sind. Mein Mann und ich sind die einzigen Mieter in dem Haus. Alle anderen sind Eigentümer. Auch Völkers.«
»Das sind Eigentumswohnungen in dem Haus?« Lea konnte es nicht glauben. Dieses Gebäude hatte eher so ausgesehen, als sei es ein Sanierungsfall.
»Schön blöd, für so einen Schrott noch einen Haufen Geld bezahlen, was? Also, unser Vermieter gibt uns die Wohnung ohne Miete, wir müssen nur die Nebenkosten zahlen. Ist immer noch besser, als wenn sie leer stünde, sagt er. Ist ein Wessi mit Geld. – Ich glaube, jeder versucht, seinen Anteil wieder loszuschlagen. Aber wer will denn so was kaufen? Die Völkers sind wohl richtig reingelegt worden. Ab und zu kommen Leute und sehen sich alles an, Gutachter, dann welche von der Bank, einmal sogar ein Bauunternehmer.«
Plötzlich schoss Lea eine Idee durch den Kopf. »Sagt Ihnen der Name Nowak etwas oder Wiesinger?« Das wäre doch ein Knüller, wenn die beiden Namen im Zusammenhang mit Trixi Völkers Schrottimmobilie auftauchen würden. Aber ihre Hoffnung wurde mit heftigem Kopfschütteln zunichte gemacht.
»Nie gehört«, sagte Frau Dögnitz mit Nachdruck, »und ich habe ein gutes Namensgedächtnis.«
»Was wissen Sie noch über Trixi Völker?«
»Als sie einzog, hatte sie einen Job, gegenüber, im Hotel Markgraf. Aber nicht lange. Ein Jahr vielleicht. Danach war sie arbeitslos. Kein Wunder.«
»Wie meinen Sie das?«
»Eigentlich wollte ich ja nichts sagen. Über Tote soll man nichts Schlechtes sagen. Und es war ja auch nicht wirklich schlimm.«
Lea wartete ab. Sie hatten den Ausgang des Friedhofs erreicht. Frau Dögnitz blieb stehen und malte mit ihrer Schuhspitze ein Muster in den Splitt.
»Bitte, Frau Dögnitz, sagen Sie mir, was Sie wissen.«
»Ach, ich weiß nicht recht. Wenn das dann in der Zeitung steht.«
»Ich verspreche Ihnen, dass ich Ihren Namen nicht nenne. Ich brauche nur Hintergrundmaterial.«
»Wozu eigentlich? Was interessiert Sie so an dem Fall?«
»Trixi Völker wollte mir etwas anvertrauen, kurz bevor sie starb. Ich weiß nicht, was, aber ich habe das Gefühl, sie hätte es gewollt, dass ich mich hier umhöre. Und dass Sie mir sagen, was Sie wissen.«
»Das eher nicht, denke ich. Aber gut, ich tu’s trotzdem. Wie gesagt, es war eine Lappalie, aber mich hat’s geärgert. Es war gleich bei ihrem Antrittsbesuch bei uns. Ich dachte zuerst noch, Mensch, das ist ja mal eine Nette. Aber als sie wieder weg war, fehlte eine von meinen Zinnfiguren.«
»Von denen auf der Fensterbank?«
»Die Dinger sind ja nicht wertvoll. Aber es sind eben Erinnerungsstücke aus meiner Kindheit.«
»Aber wer klaut denn so was?«
»Genau, das habe ich mich auch gefragt. Ich wäre mir doof vorgekommen, wenn ich sie darauf angesprochen und sie alles abgestritten hätte. Aber später bin ich mal in ihrer Wohnung gewesen. Und stellen Sie sich vor, da stand die Figur in ihrer Wohnzimmervitrine, nicht versteckt, sondern ganz vorne. ›Das ist meins‹, habe ich sofort gesagt, und sie hat mit den Schultern gezuckt. ›Ein Souvenir, weil ich Sie so nett fand‹, sagte sie mir glatt ins Gesicht. Unglaublich, was?«
Lea nickte. »Und dann?«
»Nichts. Sie hat es mir wiedergegeben. Und damit war für sie die Sache erledigt. Für mich auch. Ich habe danach kaum mehr mit ihr gesprochen.«
»Das kann ich verstehen.« Kopfschüttelnd folgte Lea der Frau über die Straße zur Haltestelle.
Frau Dögnitz warf den Kopf zurück. »Es kommt noch doller: Die halbe Vitrine war voll mit so kleinen Souvenirs. Plüschtiere, Kerzenhalter, Briefbeschwerer, Löffel, Weihnachtsdekoration – ein ganzes Sammelsurium. Bestimmt alles geklaut.«
*
Lea setzte einen sachlichen Artikel über die Beerdigung ab, erwähnte, dass Kriminalhauptkommissar Gottlieb ebenfalls auf dem Friedhof gewesen war und Trixi Völker früher in der Leipziger Stadtbibliothek gearbeitet hatte. Nachdem sie den Artikel in die Redaktion in Baden-Baden überspielt hatte, begab sie sich auf die Spuren von Trixi.
In der alten Stadtbibliothek gab es niemanden mehr, der sich an die Archivarin erinnerte, die bis 1991 dort gearbeitet hatte. Alle früheren Angestellten seien ausgetauscht worden, beschied man ihr. Doch im Hotel Markgraf in der Körnerstraße kannte man Trixi Völker mehr als gut. Die Lippen der Chefin wurden spitz, als der Name fiel.
»So, von der Presse sind Sie?«
Lea erklärte, was sie bewegte, der Toten hinterher zu recherchieren. »Ich werde Sie nicht zitieren, ich möchte mir bloß ein umfassendes Bild von Frau Völker machen.«
»Wenn der Name unsere Hotels in der Zeitung steht ...«
»Ich verspreche Ihnen, keine Namen zu nennen.«
»Na gut. Kommen Sie mit.«
Die resolute Hotelchefin winkte sie in ein winziges Büro und machte sich an einem Aktenordner zu schaffen. »Hier. Trixi Völker, geborene Bruske. Zimmermädchen vom 1. August 1999 bis, ach ja, richtig, 8. November 2000.«
»8. November? Bedeutet das krumme Datum, dass Sie sie rausgeworfen haben?«
Die Frau lachte. »Alle Achtung, gute Spürnase. Ja, wir haben uns fristlos von Frau Völker getrennt.«
»Hat sie etwas mitgehen lassen?«
»Donnerwetter. Ja, genau. Da war Mister Middler aus Chicago. Er hatte etwas vergessen und kam noch einmal zurück auf sein Zimmer. Und da steckte sein englischer Reiseführer von Leipzig gut sichtbar in der Schürzentasche von Trixi Völker.«
»Gab es vorher schon ähnliche Vorkommnisse?«
»Die Mitarbeiter hatten des Öfteren geklagt, dass Sachen verschwanden, nie etwas Kostbares, aber meistens etwas, an dem sie hingen. Trixi hat nach der Kündigung alles zurückgebracht, ohne Reue. Unglaublich, was? Einfach so, als habe es sich um ein Spiel gehandelt. Seltsames Mädchen.«
»Mir fehlen vor ihrer Anstellung bei Ihnen mehrere Jahre. Wissen Sie, wo sie vorher gewesen ist?«
Die Stimme der Frau wurde fast andächtig. »Im Intercontinental, dem früheren Hotel Merkur. Ziemlich lange sogar. Sie kam mit bestem Zeugnis.«
Wirklich ein seltsames Mädchen, dachte Lea im Stillen. Es war an der Zeit, die zwei Menschen dazu zu befragen, die am meisten von ihr wussten.
Als sie ins Killiwilly kam, war die Kneipe noch leer. Piet hob seine tätowierten Arme. »Er ist noch nicht da.«
Wahrscheinlich war Gottlieb mit Uli Völkers Befragung noch nicht fertig. Ob er auch so interessante Dinge über Trixi erfuhr wie sie?
Entsetzt wedelte sie mit den Händen, als Piet ihr ungefragt ein Guinness hinstellte. Sie orderte Apfelsaft, und Piet quittierte es mit einem Grinsen. »Und ich dachte schon, Uli hätte endlich die richtige Gesellschaft gefunden«, sagte er und beugte sich kameradschaftlich über den Tresen. »Sie wollen bestimmt was über Trixi und Uli erfahren, stimmt’s?«
Piet Wannewitz, so erfuhr Lea in der nächsten Stunde, war Völkers bester Freund, und das nicht erst, seit der eine Stammgast im Killiwilly war und der andere Pächter. Sie hatten zusammen Bauwesen studiert und »gebüffelt bis zur Arbeitslosigkeit«, wie Piet es mit einem schiefen Grinsen formulierte: Mit dem Verdorren der »blühenden Wiesen«, die die Politiker nach der Wiedervereinigung versprochen hatten, seien auch ihre Träume zerplatzt, aber ihre Freundschaft hatte überdauert. Piet wurde Kellner, Barkeeper und schließlich Gastwirt, Uli Völker in der gleichen Zeit Nachtportier, Taxifahrer, Gabelstaplerfahrer, führerscheinlos, arbeitslos. »Und damit einher ging die Ehe mit Trixi den Bach runter.«
»Wie und wann haben die beiden sich kennen gelernt?«
»Im Studium. Trixi war ein heißer Feger, kann ich Ihnen sagen. Wir hatten alle ein Auge auf sie geworfen. Sie flirtete wie wild, gab sich unglaublich sexy, aber noch vor dem ersten Kuss war jedes Mal Sense, als wenn eine Klappe fiel. Sehr komisch. Wir blitzten alle ab. Uli aber machte es anders als wir. Der steht auf lange Gespräche, und er ging mit ihr spazieren, draußen, im Auenwald, im Zoo, im Rosental. Ständig waren sie unterwegs und redeten. Das gefiel ihr offenbar. 1987 haben sie geheiratet. Wenig später hatten beide Arbeit, und es ging ihnen richtig gut: Hochzeitsreise ans Schwarze Meer, dann bekamen sie sogar eine Zwei-Raum-Wohnung. Wir haben sie beneidet, muss ich gestehen. Na ja, die Wende machte uns dann wieder alle gleich: gleich arbeitslos.« Piet grinste schief und hob ein Glas, um es zu polieren.
»Wieso sind Sie oder die Völkers nicht in den Westen gegangen?«
»Wieso? Mann, Sie können fragen. Ich bin hier geboren. Ich habe immer gewusst, dass ich mich durchschlagen werde. Und Uli und Trixi? Weil die Wessis ihnen diese oberfaule Wohnung angedreht haben. Aber das erzählt Uli besser selbst.«
Piet stopfte mit wütenden Bewegungen die nächsten Gläser auf die Gläserbürste des Spülbeckens, als seien sie die Schuldigen. »Jetzt sitzt Uli immer noch in diesem Loch, das ihm schon längst nicht mehr gehört, ertrinkt in Schulden. Mann, der tut mir vielleicht Leid! Und dann haut ihm auch noch Trixi ab. Feiert noch Weihnachten mit ihm, mit Baum und Braten, und Silvester ist er schon allein. Kein Wunder, dass er ständig ins Glas fällt.«
»Wissen Sie, warum Trixi ihn verlassen hat?«
Mit einer noch heftigeren Bewegung warf sich Piet das Geschirrtuch über die Schulter. »Warum, warum. Seit anderthalb Jahren muss ich mir die Frage jeden Abend anhören. Wenn ich’s wüsste, ginge es ihm und mir und allen, die er nachts voll quatscht, besser. Trixi war eben so.«
»Wie meinen Sie das?«
»Unberechenbar. Lustig. Liebenswert. Oberflächlich. Süß. Und vollkommen spontan. Wenn ihr eine Idee durch den Kopf schoss, dann setzte sie sie um. Sofort. Ohne nachzudenken.«
»Gab es einen anderen?«
Piet ließ den Zapfhahn los. »Niemals. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Uli war der Einzige, der sie berühren durfte. Sie hat wohl früher in ihrer Jugend irgendwas Schlimmes erlebt, was, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie Uli vom ersten Tag an als ihren Retter, ihren Helden betrachtet hat. Natürlich, nach außen war sie lebenslustig, sexy, hat uns alle ein bisschen angemacht, mich eingeschlossen. Aber sie lachte nur, schäkerte mit uns, und am Ende des Abends ging sie brav mit Uli nach Hause.«
»Schwer zu verstehen.«
»Am besten lassen Sie es sich von ihm erklären.« Piet machte eine Kopfbewegung zur Tür und stellte ein Guinness neben ihr Saftglas. Uli Völker kam herein, immer noch in seinem Mantel, in dem er versank, als wäre es tiefster Winter. Die Hände tief in den Taschen vergraben, stapfte er zum Tresen und nickte Piet und Lea wortlos zu. Keinen Schritt hinter ihm folgte Kriminalhauptkommissar Gottlieb, ebenso erschöpft und müde aussehend wie Völker.
Gottlieb zückte seinen Dienstausweis und beugte sich zu Piet vor. »Können Sie sich an Freitag, den siebten Mai erinnern?«
Piet grinste. »Nee. Sie?«
»Keine Scherze. Strengen Sie sich an.«
»Freitag, der siebte Mai. Hm.« Piet griff in eine Schublade unter der Kasse, holte ein halb zerfleddertes Buch heraus und blätterte es durch. Dann sah er hoch. »Nö. Da ist nichts. Tut mir Leid. Ein Tag wie jeder andere. Vielleicht weiß Gabi was.«
Gottlieb war kurz vorm Explodieren. »Welche Gabi?«
»Was ist mit mir?«, fragte die unfreundliche blonde Bedienung im Vorbeigehen.
Gottlieb seufzte und kramte einen Notizblock hervor. »Setzen wir uns dort an den Tisch.« Er deutete auf Piet und die Bedienung. »Und Sie, Herr Völker, verlassen das Lokal.«
»Warum? Ich kann doch wohl mein Bier ...«
»Noch ein Wort, und Ihr Alibi ist unglaubhaft, bevor ich es überhaupt überprüft habe.«
Den Ton verstand jeder. Lea rutschte vom Barhocker. »Mit mir darf er aber reden, oder? Kommen Sie, wir gehen. Sie sehen blass aus, haben Sie heute schon etwas gegessen?«
Quer über die Straße fanden sie eine winzige Pizzeria mit einem großen Pizzaofen und fröhlich bunten Stühlen im Gastraum. Das Essen war mittelmäßig, aber der junge Besitzer herzerwärmend nett. Lea hatte allerdings den Eindruck, als bekäme Völker gar nicht richtig mit, was um ihn herum geschah und dass und was er aß. Er schwieg, bewegte sich ruckartig, kaute mechanisch, trank sein Bier in großen Schlucken, zeigte aber keine Regung. Erst als sie gezahlt hatte und mit ihm vor die Tür trat, schien er aus einem bösen Traum zu erwachen.
»Trixi«, stammelte er, »meine Trixi.« Dann sackte er auf den Gehsteig, als hätte ihm jemand die Beine weggezogen.
Der Padrone kam mit einem roten Stuhl aus der Pizzeria gelaufen, aber Völker wollte nicht aufstehen. Er blieb auf dem Gehsteig sitzen, tief in seinen Mantel gehüllt, und zitterte am ganzen Körper.
Doch dann konnte Lea ihn überreden, sich von ihr nach Hause bringen zu lassen. Sie begleitete ihn die knarrende Treppe hoch in den zweiten Stock. Irgendwo, vielleicht bei der Familie Dögnitz, hörten sie einen Fernseher laufen, in einer anderen Wohnung briet jemand zischend ein Schnitzel. Weiter oben stritten sich ein Mann und eine Frau.
Lea hatte eine chaotische Single-Wohnung erwartet, doch es war bei Uli Völker verhältnismäßig ordentlich. Die Möbel waren zwar abgenutzt und klapprig, aber in der spärlich eingerichteten Küche türmte sich keineswegs schmutziges Geschirr. Völker öffnete den Kühlschrank, in dem außer Kaffeesahne, vier Flaschen Bier und einer angebrochenen Flasche Weißwein gähnende Leere herrschte.
»Bier?« Er hielt eine Flasche hoch. Lea nickte und setzte sich im Wohnzimmer auf die Couch. Völker öffnete die Tür zu einem zweiten Zimmer und warf seinen Mantel hinein. Dann setzte er sich zu ihr auf einen Sessel. Sie wartete ab, ob er von sich aus etwas erzählen wollte.
In der dunklen Schrankwand stand das Hochzeitsbild der beiden. Er im dunklen Anzug, sie im schlichten weißen Kleid. Beide sahen ernst in die Kamera, als bemühten sie sich, im wichtigsten Augenblick ihres Lebens nichts falsch zu machen.
Lea versuchte durchs Fenster zu sehen, konnte aber nichts erkennen.
»Reingefallen.« Völker war ihrem Blick gefolgt. »Da ist nichts, nur die Brandschutzmauer zum Nachbarhaus. Ging uns auch so. Sieht doch echt aus mit dem Fensterrahmen und der Gardine.«
»Das ist kein Fenster? Aber das muss Ihnen doch aufgefallen sein.«
»Im Prinzip haben Sie Recht. Natürlich. Aber wir haben nur Fotos und einen Grundriss gesehen, dann haben wir schon gekauft. Es war die letzte Wohnung im Komplex, sagten sie, und es wartete angeblich noch ein anderer Interessent, der den Vermittler ständig anrief, als wir in seinem Büro saßen. Billiger Trick, aber wir kannten ihn nicht.« Völker nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. »Wir haben für dieses Drecksloch alles gegeben, was wir hatten. Der Mistkerl hat uns sogar noch einen Kredit besorgt. Fragen Sie nicht nach den Konditionen. Wir haben echten Scheiß gebaut. Aber wir dachten, das wäre etwas für die Zukunft. Alles würde bergauf gehen, wir waren total euphorisch.«
»Haben Sie den Mann nicht angezeigt?«
»Bis wir alles spitz bekamen, war seine Firma angeblich pleite. Da war nichts mehr zu holen. Und auch kein Mieter zu bekommen. Wer will denn in einer Höhle ohne Fenster wohnen? Mietgarantie? Dass ich nicht lache. War das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt war. Tja. Wir waren ziemlich blauäugig, was?«
Lea nahm das als rhetorische Frage und zog die Schultern hoch. Sie hatte von vielen üblen Tricks und Geschäften gehört. Auch Westdeutsche waren damals auf den Traum vom schnellen Geld hereingefallen. Sie hatte in Würzburg einmal einen Zivilprozess über eine steuerbegünstigte Ostimmobilie begleitet. Er war aussichtslos gewesen, und die Richter hatten immer wieder den Kopf geschüttelt über die Naivität der geprellten Investoren.
Völker nahm noch einen Schluck. »Trixi hat diesem aalglatten Burschen jedes Wort geglaubt. So war sie. Nie dachte sie schlecht von jemandem, und sie war vollkommen spontan. Sie hatte sich anstecken lassen von dem Druck, den der Kerl auf uns ausübte, und drängte und quengelte, bis ich unterschrieb. Das habe ich nur ihr zuliebe getan, obwohl ich von Anfang an ein schlechtes Gefühl gehabt hatte.«
»Hat es deswegen Streit gegeben? Ist Trixi deswegen weggegangen?«
»Deswegen? Nein. Es gab für sie keinen triftigen Grund abzuhauen. Denn ich, nicht sie, hatte den Vertrag unterschrieben, verstehen Sie? Es war meine Wohnung, mein Fehler, mein Ruin.«
»Hat Trixi das so gesehen? Es war Ihr Problem, und sie hatte nichts damit zu tun?«
Völker schüttelte heftig den Kopf. »Sie machte sich selbst die größten Vorwürfe. Weihnachten noch sagte sie, sie würde alles wieder gutmachen. Aber dann war sie plötzlich weg.«
»Von heute auf morgen? Hat sie einen Grund genannt? Gab es Streit?«
»Streit? Nein, nur das Übliche, Alltägliche eben, wie in jeder Ehe. Kein Anlass, Knall auf Fall nur mit einem Koffer wegzugehen. Sehen Sie mal, sie hat alles da gelassen, ihre Bücher, ihre Sommerkleidung, sogar ihre Sammelvitrine dort hinten.«
Lea folgte seinem Blick. Tatsächlich, eine große Glasvitrine angefüllt mit lauter kleinen Teilchen, wie ein überdimensionaler Setzkasten. Ob Trixi auch in Baden-Baden ihrer Leidenschaft gefrönt hatte? Vielleicht hatte sie in ihrer Wohnung eine ähnliche Vitrine und hatte dort unter Dutzenden von Kleinigkeiten den mysteriösen Beweis versteckt? Vielleicht war er so gut getarnt, dass die Polizei ihn übersehen hatte? Was gäbe sie darum, einen Blick in die Wohnung werfen zu dürfen. Aber Gottlieb würde sie garantiert nicht hineinbitten. Wer würde eigentlich die Wohnung auflösen? Sie konnte ja nicht ewig verschlossen und versiegelt bleiben.
»Hat die Polizei Ihnen gesagt, was mit der Wohnung in Baden-Baden geschieht?«
Völker nickte müde. »Ich soll sie auflösen. Die Miete läuft weiter, wenn ich nicht kündige und die Wohnung räume. Ich will mich nächste Woche darum kümmern.«
Lea setzte sich auf. »Kann ich Ihnen helfen? Oder wenigstens einen Blick in die Wohnung werfen? Ich habe Ihnen gestern Abend schon gesagt, dass ich Beweise für das Komplott suche. Oder wenigstens Hinweise auf die Namen Nowak oder Wiesinger«, fügte sie etwas mutlos hinzu. Auch in seinem relativ nüchternen Zustand zeigte Uli Völker keine Regung bei der Nennung der beiden Namen. Offenbar würde sie mit diesem Teil ihrer Recherche erst in Baden-Baden weiterkommen.
Uli Völker hob den Kopf. »Meinen Sie, Sie können den Mörder finden?«
»Ich hoffe es. Lassen Sie mich in die Wohnung, und ich werde bestimmt einen Hinweis finden, der uns weiterhilft.«
»Das wäre schön.« Völkers Augen bekamen wieder etwas Glanz. »Nächste Woche, ich rufe Sie an, versprochen.«
»Gut. Noch etwas. Mennicke ...«
»Den kannte ich doch gar nicht.« Völker beugte sich vor und schaukelte seine Bierflasche zwischen den Knien. Schweigen senkte sich zwischen sie.
»Nicht jetzt. Nicht heute. Bitte. Es ist genug.« Er zwinkerte ein paar Mal heftig, als wollte er krampfhaft seine Tränen zurückhalten.
Er tat ihr Leid.
»Sie haben sie sehr geliebt, nicht wahr?«
Er reagierte nicht, sondern starrte auf das Hochzeitsbild. Sein Kinn zitterte, und er zog die Nase hoch.
»Aber ein Luder war sie doch. Ein süßes, kleines, verflixtes Luder«, murmelte er schließlich fast nicht hörbar.
Lea kam sich wie ein Eindringling vor. »Ich wasche mir schnell die Hände, dann gehe ich, Herr Völker.«
Er machte eine müde Handbewegung. »War ziemlich viel heute. Und mir ist kalt.« Dann rutschte er tief in seinen Sessel.
Als sie aus dem Bad kam, schlief er bereits mit offenem Mund. Er sah aus wie ein trauriges, verlorenes Kind.
Leise ging Lea ins angrenzende Schlafzimmer, um seinen Mantel zu holen und ihn zuzudecken. In der Tür blieb sie erstaunt stehen. Die Wände des kleinen Zimmers waren über und über mit Bleistiftzeichnungen und Kohleskizzen bedeckt, Porträts von Trixi, ähnlich dem in der Todesanzeige. Trixi lächelnd, nachdenklich, lachend auf einer Schaukel, in ein Buch versunken, im Profil, nackt auf dem Bett liegend oder einen großen Teddy umarmend. Diverse Fotos und ein Skizzenblock lagen auf dem Bett, Stifte daneben auf dem Nachttisch.
Langsam nahm sie den Mantel, ging ins Wohnzimmer und deckte Völker vorsichtig zu, bevor sie ihre Visitenkarte auf den Couchtisch legte und die Wohnung verließ.