Читать книгу Die Leiche im Paradies / Tod auf der Rennbahn / Mord im Grand-Hotel - Drei Romane in einem Band - Rita Hampp - Страница 16
ACHT
ОглавлениеZurück in Baden-Baden stürzte sich Lea voller Energie in neue Recherchen. Bei Hauptkommissar Gottlieb stieß sie mit ihren Fragen zu Nowak und Wiesinger und ihrem Bohren nach dem Erben von Mennickes Vermögen allerdings auf Granit. Frau Büdding legte den Hörer wortlos auf, sobald sie hörte, wer am Apparat war. Der Name Wiesinger war tatsächlich in der Region weit verbreitet. Sie beschloss deshalb, ihn im Gedächtnis zu behalten, aber zuerst einmal Konkretes über den Immobilienhändler Nowak herauszufinden. Er war für sie im Augenblick das einzige reale Verbindungsglied zu Mennicke und vielleicht auch zu Trixi Völker. Möglicherweise hatte Trixi etwas Unsauberes über das Immobiliengeschäft herausbekommen? Nach wie vor störte sich Lea an dem frühen Verkaufsdatum.
Das Zeitungsarchiv zeigte Nowak als ehrenwerten Bürger der Stadt, der mehrere großzügige Geldbeträge für einen Spielplatz und einen Kindergarten gespendet hatte und Beirat in der Industrie- und Handelskammer sowie bei den Rotariern war. Es gab keine Skandale, keine Prozesse gegen ihn, nicht einmal zivilrechtliche Auseinandersetzungen wegen überhöhter Courtagen oder Ähnlichem. Alle ihre Informationsquellen zeigten ihn als soliden, schwerreichen Geschäftsmann.
Sie versuchte, jemanden ausfindig zu machen, der oder die bereit war, ihr Informationen über Mennickes Erben oder wenigstens Nowaks letzte Immobiliendeals zu geben. Aber an die Mitarbeiter im Notariat wie im Grundbuchamt war nicht heranzukommen. Offenbar gehörte das zur sprichwörtlichen Baden-Badener Diskretion, die die Reichen der Welt so besonders an der Stadt schätzten. Sie erinnerte sich an ihre vergeblichen Mühen, hinter die Verflechtungen der neuen Besitzer der ehemaligen Grundig-Villa am Annaberg oder des romantischen Jagdschlosses am Fremersberg zu gelangen, zwei Prestigeobjekte, von denen das eine angeblich dem georgischen Ex-Präsidenten Schewardnadse, das andere Hintermännern russischer »Geschäftsleute« zugeordnet wurde. Mehr als Munkeln hinter vorgehaltener Hand hatte sie während der letzten zwölf Monate über diese beiden Objekte nicht gehört, nichts jedenfalls, was sie veröffentlichen konnte. Ähnlich ging es ihr nun, sobald sie den Namen Nowak erwähnte.
Schließlich rief sie sein Büro an und wollte einen Gesprächstermin für den nächsten Morgen vereinbaren. Gerade Fragen mitten ins Gesicht waren immer noch das Beste, wenn man etwas wissen und sich gleichzeitig ein Bild von seinem Gegenüber machen wollte. Sie war sehr gespannt auf Nowak, der sich, wie sie aus ihrem Archiv erfahren hatte, aus kleinsten Verhältnissen nach oben gearbeitet hatte.
*
Nowaks kühl wirkende Sekretärin hatte ihr erst für Donnerstag einen Termin gegeben. Lea hatte die Zeit genutzt, um über eine Einbrecherbande zu schreiben, die Baden-Baden seit einigen Tagen unsicher machte. Diesmal waren es nicht die üblichen polizeibekannten Kinder, die mit Zug und Bahn aus Straßburg anreisten, wahllos Häuser herauspickten und die Fenster am helllichten Tag mit einem Schraubendreher aufhebelten, um nach Schmuck und Bargeld zu suchen. Diesmal kamen die Täter bei Nacht, schalteten Alarmanlagen aus und versuchten, Tresore zu öffnen.
Der Chef des Einbruchsdezernats war erheblich kooperativer gewesen als Kriminalhauptkommissar Gottlieb. Er vermittelte Lea sogar Interviewtermine mit den verstörten Opfern in der Zeppelin- und Markgraf-Christoph-Straße. Erstaunlicherweise waren die Betroffenen weniger über den Verlust ihrer Wertsachen bestürzt. Vielmehr fühlten sie sich von der Tatsache bedroht, dass unerbetene Fremde trotz aller Vorsichtsmaßnahmen in ihre Privatsphäre eingedrungen waren und alles durchwühlt hatten, während sie selbst ahnungslos im Haus, ja manchmal nur ihm Nebenraum schliefen. Bis die Täter gefasst wurden, blieb der Polizei vorerst nur, die Anwohner der exklusiven Siedlung mit verstärkten Streifenfahrten einigermaßen zu beruhigen.
Jetzt stand Lea vor Nowaks Büro. Es befand sich in einer großen, kürzlich umgebauten Villa in der Scheibenstraße, nur einen Steinwurf von der Redaktion des Badischen Morgens entfernt. Alles an Gebäude und neu angelegtem Garten sah nach Geld aus, viel Geld.
Ein dezentes Messingschild wies den Weg, ein leiser Summer öffnete die imposante Eingangstür, der Lift wartete bereits im Erdgeschoss auf sie und brachte sie in die Chefetage im ersten Stock. An der Rezeption saß eine Dame, die ohne weiteres Herrscherin eines Fürstenhauses hätte sein können mit ihrem elegant aufgesteckten Haar und dem schmalen Chanel-Kostüm. In vornehmer Stille begleitete sie Lea zum Büro von Nowak und öffnete nach leisem Klopfen die Tür.
Nowak stand am Fenster und telefonierte. Er war, wie Lea ausgekundschaftet hatte, sechsundfünfzig Jahre alt und im letzten Sommer Clubmeister des Baden-Badener Golfclubs geworden. Außerdem spielte er leidenschaftlich Tennis, wie mehrere Pokale im Regal neben dem großen leeren Schreibtisch bewiesen. Sein Rennpferd »Amigo Mio« hatte im letzten Herbst bei einem renommierten Rennen in Iffezheim den zweiten Platz belegt, und es zierte den Schreibtisch als Bronzefigur mit Namenssockel.
Nowak selbst war groß, schlank und sportlich. Er trug ein blaues Sakko mit goldenen Knöpfen, eine hellgraue Hose und eine bunte Fliege. Sein Schnurrbart war gepflegt, seine grauen Haare leicht gewellt. Ein Mann, der Vertrauen und Seriosität ausstrahlte, jemand, dem man gerne sein Haus anvertraute und dem man sicherlich auch einen einmal genannten Kaufpreis abnahm, ohne noch einmal zu handeln.
Nowak schenkte Lea ein strahlendes Lächeln und bot ihr auf einer ausufernden Ledergarnitur Platz an.
»Kaffee, Tee, Champagner?«
»Danke, nichts.«
»Ach was, es ist elf Uhr, meine Güte, da muss man doch etwas zu sich nehmen. Frau Schönefeld, ich nehme einen Kaffee und ein Croissant. Und für unseren Gast bitte dasselbe.«
Lea seufzte innerlich. Offenbar war Nowak ein Mensch, der keinen Widerspruch gewohnt war.
»Wie lange sind Sie schon in Baden-Baden?«, versuchte Nowak, Konversation zu machen.
»Ich bin seit knapp einem Jahr beim Badischen Morgen, als Gerichts- und Polizeireporterin. Im Moment recherchiere ich im Mordfall Paradies.«
Nowaks Gesicht verriet keine Regung. »Ah ja«, meinte er beiläufig, »ich habe davon gelesen. Haben Sie nicht geschrieben, die Tote sei eine Nichte von Horst Mennicke gewesen? Das war mir gänzlich neu.«
Lea merkte, wie sie rot wurde. »Sie hat von Mennicke als ihrem Onkel gesprochen«, sagte sie lahm und ärgerte sich, dass sie sich binnen Sekunden in der Defensive befand.
»Haben Sie Horst Mennicke gekannt? Ein feiner, liebenswerter alter Herr!«
»Sie bauen gerade seinen Familienstammsitz um.«
»Das Schlösschen. Eins-a-Lage, Top-Ausstattung! Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ich würde gerne wissen, wann Sie es gekauft haben und warum er es verkauft hat.«
»Warum? Frau äh, Weidenbach, ich frage meine Klienten nie, warum sie ihren Immobilienbesitz verkaufen. Ich helfe ihnen ohne Fragen und möglichst ohne viel Bürokratie, dafür mit großer Kompetenz und Diskretion. Ich bin kein Marktschreier, und aus diesem Grund kann und werde ich weder über Herrn Mennicke etwas sagen noch über diese Immobilie, es sei denn, Sie interessieren sich für eine der angebotenen Wohnungen.«
»Es interessiert mich trotzdem, wann Sie mit Herrn Mennicke über das Objekt gesprochen haben. Denn dann müssten Sie eigentlich auch Trixi Völker kennen gelernt haben.«
»Trixi Völker? Ah, Sie meinen die Tote.«
»Herr Nowak, Frau Völker war praktisch Tag und Nacht bei Herrn Mennicke, sowohl als er noch im Schlösschen lebte, als auch später, als er im Imperial war.«
»Das mag ja sein, aber ich weiß nicht, warum ich Ihnen dazu Auskunft geben sollte.«
»Weil die Umstände des Verkaufs von öffentlichem Interesse sind.«
»Was wollen Sie damit andeuten?«
Nowak war aufgestanden und schritt das Büro ab. Als Frau Schönefeld nach leisem Klopfen mit einem Tablett erschien, schickte er sie mit einer herrischen Kopfbewegung weg.
Lea wusste, dass sie so nicht weiterkommen würde. Sie klopfte im Moment blind auf den Busch. Sie musste ihn aus de Reserve locken, mit etwas, mit dem er nicht rechnete.
»Es ist interessant, dass Herr Wiesinger in die Geschichte verwickelt ist«, sagte Lea so selbstsicher und wissend, wie sie nur konnte.
Nowak blieb wie angewurzelt mitten im Raum stehen. »Jan Wiesinger? Ah, das ist Ihr wahrer Grund. Hören Sie, meine Liebe, wenn ich auch nur eine einzige negative Zeile in der Zeitung lese, wird sich mein Anwalt bei Ihnen melden.«
Jetzt war Lea klar, warum Nowak so erfolgreich war. Er war verbindlich bis zu einem gewissen Punkt, und dann legte er den Hebel um und war eiskalt. Würde sie jemals seinen Namen in einem Artikel erwähnen, würde sie vorher jede Zeile, jedes Wort, genauestens juristisch überprüfen lassen müssen.
Nowak öffnete die Tür und entließ sie wortlos.
Der Vorraum war leer, die Tür stand offen. Daneben lag auf einem antiken Tischchen ein kleiner Stapel von Verkaufsprospekten. Lea nahm einen in die Hand. Exklusive Villen waren darauf abgebildet. Daneben lag ein zweiter Stapel mit dem Mennicke-Schlösschen auf dem Titel. Lea nahm auch davon einen auf. Da erschien die Sekretärin in der Tür, eine Glaskanne mit Wasser in der Hand.
»Wollen Sie schon gehen?«, fragte Frau Schönefeld freundlich.
Lea nickte und hob die Unterlagen in ihrer Hand halb hoch. »Darf ich?«
»Aber gerne. Die Wohnungen im Schlösschen sind wirklich sehenswert. Also, auf Wiedersehen.« Die Sekretärin begleitete sie hinaus und drückte auf den Aufzugknopf.
Als Lea nach wenigen Schritten in die Redaktion kam, rief Reinthaler sie in sein Zimmer. »Sie waren gerade bei Nowak?«, fragte er und blies undeutliche Rauchzeichen aus seiner Pfeife.
»Er hat Sie angerufen?«
»Postwendend. Sehr interessant ... Ich war ja bis heute dagegen, dass Sie wahllos hinter ihm her recherchieren. Aber seine Reaktion zeigt, dass Ihre Nase vielleicht doch nicht so schlecht ist. Sie sollten tatsächlich weitermachen, es könnte sich lohnen. Was genau hat ihn eigentlich so in Fahrt gebracht?«
Lea berichtete ihm kurz von dem Zusammentreffen, und Reinthaler hörte genau zu. »Nowak ist einflussreich und gerissen«, sagte er schließlich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er, selbst wenn er unsaubere Hände hätte, sich damit erwischen lassen würde. Aber noch mehr Sorge macht mir die Sache mit Wiesinger.«
Lea blieb vor Erstaunen der Mund offen stehen. »Sie kennen den?«
»Wenn Sie den Steuerberater Jan Wiesinger meinen – ja! Was haben Sie gegen ihn in der Hand?«
»Noch nichts. Sein Name fiel im Zusammenhang mit dem Mennicke-Schlösschen.«
»Das ist alles? Lea, bei Wiesinger würde ich vorsichtig sein. Er ist, wie man so schön sagt, ein honoriger Bürger der Stadt. Es gibt allerdings gewisse Gerüchte um ihn, die ich erst einmal noch für mich behalten möchte. Wenn Sie ohne mein Zutun bei Ihren Recherchen Ähnliches erfahren, dann könnte da etwas dran sein. Sobald Sie Neuigkeiten erfahren, kommen Sie also bitte sofort zu mir, in Ordnung?«
Ein altbekanntes Gefühl schoss in Lea hoch: ihr Jagdinstinkt. Hier war etwas heiß! Und sie war nahe am Brennpunkt. Mit glühenden Wangen stolperte sie aus dem Büro des Chefredakteurs zurück an ihren Schreibtisch. Es gab einen Steuerberater Jan Wiesinger, und der hatte etwas mit Nowak zu tun, so viel jedenfalls, dass dieser nervös geworden war und ihren Chef angerufen hatte. Das war vielversprechend.
Am liebsten hätte sie Wiesinger sofort angerufen, aber sie wusste, dass sie jetzt Geduld haben musste. Die war nicht unbedingt ihre Stärke, aber wenn etwas am Mennicke-Schlösschen nicht mit rechten Dingen zugegangen war, durfte sie jetzt nicht die Pferde scheu machen, sondern musste sich behutsam herantasten. Auf keinen Fall wollte sie in eine ähnliche Situation schlittern wie vorhin in Nowaks Büro.
Wieder einmal ließ sie im Archiv kramen, diesmal nach allem, was es über Jan Wiesinger gab.
Während sie auf die Unterlagen wartete, saß sie an ihrem Schreibtisch und starrte aus dem Fenster, tief in Gedanken versunken. Was wusste sie bislang über die Verbindung Mennicke, Nowak und Wiesinger? Frau Büdding war eine Angestellte von Nowak und sah im Mennicke-Schlösschen nach dem Rechten. Warum war sie so blass und schmallippig geworden, als ihr der Name Wiesinger entwischt war? Wenn die beiden Männer nichts zu verbergen hatten, musste Frau Büdding doch kein Geheimnis um eine Verbindung machen. Sollte sie der Frau noch einmal auf den Zahn fühlen? Aber es war wohl eher unwahrscheinlich, dass sie mehr erfahren würde.
Wer konnte ihr noch weiterhelfen? Lea nahm sich ihre Unterlagen noch einmal vor und ging sie systematisch durch. Dass Nowak Kontakte zum Imperial hatte, wusste sie bereits. Er hatte die Seniorenresidenz vor ein paar Jahren umgebaut. Das war natürlich weit vor der Zeit, zu der Mennicke dort gewohnt hatte. Das brachte sie nicht unbedingt weiter.
Sie blätterte noch einmal zu den Notizen zurück, die sie nach ihrem Besuch in der Residenz gemacht hatte. Was und wen hatte Schwester Monika wohl gemeint, als sie andeutete, Mennicke habe unermessliche Reichtümer besessen »vor dem Auftauchen von diesem ...«? Hatte er danach weniger besessen? Und wer war dieser »...«? Nowak? Wiesinger? Nowak hätte Mennickes Wohlstand vermehrt, wenn er ihm das Schlösschen abgekauft hätte. Also Wiesinger? Der Steuerberater?
Lea grübelte. Hatte Frau Büdding nicht erwähnt, dass Mennicke Schwierigkeiten gehabt hatte, seine Steuererklärungen auszufüllen? Sie seufzte. Hätte Schwester Monika nur den Namen ausgesprochen! Ob es Sinn machte, die Frau noch einmal zu befragen? Sie war ja vollkommen eingeschüchtert worden, als ihre Chefin aufgetaucht war. Trotzdem wollte Lea nichts unversucht lassen. Doch als sie Schwester Monika am Telefon hatte und ihren Namen nannte, legte die Frau mit einem spitzen Aufschrei auf. Hatte sie Angst? Wenn ja, vor wem? Und warum hatte sich Frau Jablonka damals so intensiv eingemischt? Einen Augenblick flimmerte es Lea vor den Augen, dann schüttelte sie sich. Unsinn. Nowak, Wiesinger, Jablonka? Jetzt ging die Phantasie mit ihr durch. Sie brauchte Fakten, nicht voreilige Schlussfolgerungen.
Die Mitarbeiterin aus dem Archiv unterbrach ihre Gedanken, als sie Lea einen enttäuschend dünnen Umschlag mit dem Material zu Jan Wiesinger auf den Schreibtisch legte. Lea steckte ihn ein. Es war schon nach siebzehn Uhr. Für heute würde sie sowieso niemanden mehr erreichen. Sie konnte die Unterlagen also genauso gut zu Hause durchsehen. Aber als sie auf dem Parkplatz ihren Wagen aufschließen wollte, überlegte sie es sich spontan anders. Kurzerhand lief sie quer über den Leopoldsplatz zur Außenstelle der Kriminalpolizei.
Der Beamte an der Pforte kannte sie und ließ sie mit einem Lächeln durch. Bestimmt dachte er, sie wollte nur die Presseberichte des Tages abholen. Aber diesmal interessierte sie sich nicht für Handtaschendiebstahl oder Trunkenheitsfahrten. Franz Abraham hatte Abenddienst und würde sich später darum kümmern. Sie stürmte in den ersten Stock und platzte nach nur kurzem Anklopfen in Gottliebs Büro. Erschreckt und schuldbewusst zerknüllte der Kriminalhauptkommissar eine Tüte, auf der ein goldenes »M« prangte, und fauchte sie wütend an. »Was fällt Ihnen ein!«
»Ermitteln Sie im Fall Mennicke unter anderem auch gegen Steuerberater Jan Wiesinger?«, konterte sie. Gottlieb war der einzige Mensch, der ihr jetzt mit einer klitzekleinen Andeutung weiterhelfen konnte, und die würde sie nur bekommen, wenn sie ihn überrumpelte. Doch er dachte nicht daran, sich überraschen zu lassen. Er zündete sich eine Zigarette an, wenn auch nicht ganz so ruhig, wie er sich gab. Die Zigarette zitterte zwischen seinen Fingern.
»Sie sind komplett auf dem Holzweg«, bellte er schließlich. »Es gibt keinen Fall Mennicke, basta. Und im Fall Paradies – wenn Sie der Mord überhaupt noch interessiert – laufen die Ermittlungen auf Hochtouren. Mehr gibt es nicht zu sagen.«
Das hätte sie sich ja denken können. Unschlüssig, über wen sie sich mehr ärgern sollte, über sich oder über Gottlieb, drehte sich Lea wortlos um und stapfte davon.
*
In der Quettigstraße ging Lea nicht direkt in ihre Wohnung, sondern stattete Frau Campenhausen und Mienchen noch schnell einen Besuch ab. Auf der kurzen Fahrt durch die Stephanienstraße, über den Augustaplatz, den Bertholdsplatz und die Fremersbergstraße nach Hause war ihr nämlich klar geworden, dass sie nicht nur mit Gottlieb ihren Verdacht teilen konnte, sondern auch mit ihrer netten alten Vermieterin. Frau Campenhausen wohnte schon ewig in der Stadt und kannte Gott und die Welt, warum also nicht auch Nowak oder Wiesinger?
Mienchen sah erbärmlich aus. Trübe lag sie auf Frau Campenhausens Lieblingssessel und streckte ihre bandagierte Pfote wie ein kostbares Requisit von sich.
Lea tätschelte der Katze den Kopf und kraulte ihr das Kinn. Sofort brummte das Tier behaglich und leckte ihr die Hand.
Des Öfteren brandete in Lea der Wunsch nach einem eigenen Tier auf. Einem Tier, das sie an der Tür erwarten würde, wenn sie nach Hause kam, einem Tier, das ihr Wärme gab und liebevolles Zutrauen, das sich einfach freute, sie zu sehen, ohne die geringsten Ansprüche an sie zu stellen, außer mit Futter und Streicheleinheiten versorgt zu werden.
»Kleines, tapferes Mienchen«, summte Lea der Katze ins Ohr.
»Verwöhnen Sie sie nicht zu sehr!« Frau Campenhausen kam mit einer Weinflasche und einem Käseteller aus der Küche. »Sie schauspielert schon wieder ganz gut. Wenn sie denkt, ich sehe nicht hin, bewegt sie sich recht flott durch die Wohnung. Aber wenn sie sich beobachtet fühlt, maunzt und humpelt sie zum Steinerweichen. Hier, ich habe einen Weißburgunder von der Winzergenossenschaft Varnhalt, ein Geschenk einer Bridgefreundin. Mal sehen, ob sie von Wein mehr versteht als vom Ansagen.«
Lea nahm ein Glas. Wieder einmal fiel ihr auf, wie voll gestopft diese Wohnung war: erlesene alte Möbel, wertvolle Seidenteppiche, antike Stiche und Gobelins an den Wänden, edles Kristall und Porzellan in den Vitrinen. Sie kam sich vor wie beim Antiquitätenhändler.
Ihre Großmutter, die ungefähr im gleichen Alter gewesen war, als sie starb, hatte in einem kärglichen Raum gewohnt, mit nur den nötigsten Möbeln und Gebrauchsgegenständen. »Was mir wichtig ist, habe ich im Herzen und im Kopf«, pflegte sie zu sagen und hatte stets Wert darauf gelegt, sich nicht zusätzlich mit Ballast zu beschweren. Bekam sie ein Buch geschenkt, ein Foto neueren Datums oder eine ihrer heiß geliebten Klassikschallplatten oder kaufte sie sich nur neue Schuhe oder einen Pullover, dann sortierte sie sorgfältig ein altes Gegenstück aus ihrer Sammlung oder ihrem Schrank aus. »Das schafft Platz zum Atmen und zum Denken«, hatte sie Lea jedes Mal verkündet, wenn sie einen Karton abgelegter Sachen verschenkte.
Der Unterschied zum Wohnzimmer von Frau Campenhausen konnte nicht größer sein. Trotzdem fühlte sich Lea hier wohl. Dieser Raum war wie eine warme Höhle im Schneesturm. Sie hatte fast das Gefühl, all diese Gegenstände könnten sie beschützen vor jeder Unbill, die draußen lauerte.
Während sie nun den trockenen vollmundigen Wein kostete, überlegte sie, ob es in der großen Fotogalerie auf dem Kaminsims neue Bilder von Familienzuwachs bei den Nichten und Neffen von Frau Campenhausen gab. Dabei entspannte sie sich merklich. Und als sie schließlich von ihren Recherchen berichtete, merkte sie, wie ihr leichter zumute wurde und wie sie wieder besser denken und kombinieren konnte.
Ihre Vermieterin hörte aufmerksam zu. Ihre Wangen röteten sich, ihre Augen blitzten. Kriminalfälle waren ihr Lebenselixier, das war nicht zu übersehen.
Als Lea endete, war Frau Campenhausen nicht mehr zu halten. »Wiesinger? Der Name sagt mir etwas. Leider fällt mir im Moment der Zusammenhang nicht ein. Nowak kennt ja jeder, aber ich habe noch nie etwas Negatives über ihn gehört. Wissen Sie was, Frau Weidenbach? Ich glaube, ich habe eine Idee, wie wir weiterkommen.«
»Was haben Sie vor?«
»Sehen Sie her, ich bin doch genau im richtigen Alter. Die Herrschaften werden sich brennend für mich interessieren. Ach, wie wunderbar, endlich passiert mal etwas Spannendes!«
»Langsam, langsam. Sie wollen in die Höhle des Löwen? Das ist viel zu gefährlich.«
»Ha, sehe ich aus wie eine Anfängerin? Vertrauen Sie mir.«
»Aber ...«
»Kein aber! Ich pass schon auf, Frau Weidenbach. So eine arme alte Witwe wie ich wird doch noch ein paar unverbindliche Gespräche führen dürfen, oder?« Sie machte große Augen und legte ein einfältiges Lächeln auf, so dass Lea gegen ihre Willen lachen musste. Sie konnte sich zwar nicht vorstellen, dass Frau Campenhausen mehr erfahren würde als sie, aber sie wollte der alten Dame den Spaß nicht verderben.
*
Als sie zwei Stunden später in ihre Wohnung kam, hätte sie am liebsten abgeschaltet und sich ihrem Romanprojekt gewidmet. Aber sie wusste von vornherein, dass sie sich darauf nicht würde konzentrieren können, solange der Mord nicht aufgeklärt war. Also sah sie pflichtbewusst das Archivmaterial über Wiesinger durch. Die Mappe war unergiebig, keine Fotos, zwei Notizen über Spendenübergaben, ein Artikel über den Golfclub, in dem er bis letztes Jahr als Schatzmeister fungiert hatte, das Amt dann aber wegen Arbeitsüberlastung abgegeben hatte. Sie hatte gehofft, ein Foto mit ihm und Nowak in den Unterlagen zu finden, wurde aber enttäuscht.
Sie tippte noch einmal die Internetadresse Nowaks im Computer ein. Vielleicht hatte sie etwas übersehen, als sie die Website zum ersten Mal besucht hatte. Die Luxuswohnungen im topsanierten Mennicke-Schlösschen sprangen ihr sofort wieder ins Auge. Lea wurde ganz schwindelig, als sie die Preise sah. Sechshundertfünfzigtausend Euro für eine Drei-Zimmer-Wohnung mit kleinem Balkon? Unglaublich, was sich mit Immobilien verdienen ließ, vor allem mit Luxuswohnungen in Baden-Baden.
Sie hatte schon öfter gehört, dass viele dieser Wohnungen nur als Feriendomizile gekauft wurden, damit die hohen Herrschaften ein-, zweimal im Jahr ins Festspielhaus oder auf die Rennbahn gehen konnten, ohne sich für diese Tage umständlich in einem Hotel einmieten zu müssen. Die Stadtverwaltung erhob für solche Immobilien inzwischen eine Zweitwohnungssteuer. Für Leas Geschmack konnte sie gar nicht hoch genug sein. Was für eine Vergeudung von wertvollem Wohnraum!
Noch auffälliger war, wie sich seit ein paar Jahren betuchte Russen in der Stadt einkauften. Die hielten nicht nach Wohnungen Ausschau, sondern griffen erst bei Villen über zwei Millionen Euro zu. Auch diese Anwesen standen die meiste Zeit des Jahres leer, Prestigeobjekte, versorgt nur von einem Hausmeister und eventuell einem Gärtner.
Auch Nowak schien zwei, drei dieser begehrten Anwesen in seinem Sortiment zu haben, deren Preis »nur auf Anfrage« zu erfahren war. Wenn Nowak pro Verkauf wie angegeben dreieinhalb Prozent Courtage bekam, war er ein steinreicher Mann. Und er brauchte natürlich einen guten Steuerberater. War also alles nur ganz harmlos?
Lea klickte sich durch die Angebote, sah sogar zwei, drei Villen, an denen sie im Stadtgebiet öfter vorbeikam, aber dann schaltete sie den Computer wieder aus. Das brachte doch überhaupt nichts. Vielleicht war die Idee von Frau Campenhausen wirklich nicht so dumm, sich als angebliche Verkäuferin zu präsentieren und mehr über das Geschäftsgebaren des Mannes zu erfahren.
Als Justus wie jeden Abend um halb zwölf anrief, war sie keinen Schritt weiter gekommen. Im Gegenteil. Eine verzweifelte Sekunde hatte sie gehofft, ein unbekannter Informant könnte es sein und sie endlich aus der Sackgasse führen. Als sie dann aber nur die ruhige, sanfte Stimme von Justus hörte, hätte sie vor Ungeduld fast aufgelegt. Sie musste sich sehr zusammennehmen, um ihm gegenüber nicht ungerecht zu sein. Er konnte nichts dafür, dass ihre Nerven blank lagen.
Vielleicht war es das Beste, sie würde das längst geplante Treffen am Wochenende absagen. Doch Justus wollte nichts davon wissen. »Wenn du erst mal hier bist, wird es dir gleich besser gehen«, versprach er. Wahrscheinlich hatte er schon Karten für ein klassisches Konzert. War nicht gerade Mozartfest in Würzburg? Himmel! Sie hatten wirklich einen sehr unterschiedlichen Musikgeschmack. Eros Ramazotti, Chris Rea, ja sogar Van Morrison waren ihm ja noch zu modern. Er ertrug ihre Musik manchmal, wenn er in ihrem Auto mitfuhr, aber wenn sie dann seinen schiefen Mund sah, machte sie das Radio lieber schnell aus.
Aber sie liebte ihn doch, und deshalb sagte sie schließlich zu. Ja, sie würde nach Würzburg kommen, ja, sie würde sich überraschen lassen, nein, sie würden einmal nicht über ihre Beziehung diskutieren. Vielleicht hatte Justus Recht, vielleicht tat es ihr wirklich gut, von dem Mordfall wegzukommen, vertraute Plätze und Menschen zu sehen, vielleicht zum Spargelessen nach Randersacker zu laufen oder einfach nur über den Markt zu schlendern und Obst und Gemüse für ein üppiges Abendessen einzukaufen.
Am nächsten Morgen belud sie ihr Auto mit ihrer Übernachtungstasche, um gleich nach Dienstschluss von der Redaktion aus nach Würzburg starten zu können. Als sie wenig später zur Redaktionskonferenz ging, freute sie sich sogar richtig auf einen netten Freitagabend in Würzburg. Das Wetter war wunderbar, sie würden bestimmt bis spät in der Nacht auf dem Balkon sitzen können.
Im Konferenzzimmer war ihr Platz am Tisch längst wieder belegt. Sie setzte sich auf die Stuhlreihe an der Wand neben Franz, der bedrückt wirkte. Kein Wunder nach einer ganzen Woche mit goldenen Hochzeiten, Berichten über Sommerfeste und den Ausflug des Schwarzwaldvereins zur Hornisgrinde. Sie würde ihn ja gern an der Mörderjagd beteiligen, aber dazu musste sie erst einmal aus der momentanen Sackgasse herauskommen.
Als Reinthaler die Reportagetermine fürs Frühjahrsmeeting am Wochenende vergab, sah sie schnell weg. Sie hatte seit einer Woche keinen Artikel mehr geschrieben und fürchtete, ihr Chef würde ihr demnächst einfach andere Termine geben, nur um seine gut bezahlte Kraft zu beschäftigen. Sie könnte sich noch nicht einmal dagegen wehren. Pferde allerdings würden ihr jetzt den Rest geben. Er überging sie jedoch, und das war nun wiederum noch peinlicher.
Sie musste in dem Fall weiterkommen! Aber wie? Vielleicht würde sie am Sonntag klarer sehen, wenn Uli Völker kam, um Trixis Wohnung zu räumen. Er hatte angerufen und sich für den Spätnachmittag angekündigt. Vielleicht würde sie dann endlich diese Beweise finden, von denen Trixi gesprochen hatte. Und vielleicht trog ihr Gefühl ja wirklich nicht, und diese Beweise hatten etwas mit Nowak, eventuell sogar mit Wiesinger zu tun.
Auf ihrem Schreibtisch fand sie die Prospekte, die sie in Nowaks Büro mitgenommen hatte. Zerstreut blätterte sie den einen durch. Es waren veraltete Unterlagen, wie sie enttäuscht feststellte. Alle diese fünf Objekte waren bereits verkauft, manche trugen sogar einen Datumsstempel aus dem vergangenen Jahr. Sie wollte den Prospekt schon in den Papierkorb werfen, da stutzte sie. Er war offenbar fürs Archiv bestimmt und nicht für fremde Hände, denn es waren, anders als üblich, die genauen Adressen der Objekte und die Namen der Vorbesitzer vermerkt. Toplagen, wie es sich für Nowak gehörte. Zwei befanden sich auf der Fremersbergseite, eins in Ebersteinburg. Bei den anderen beiden Objekten am Annaberg wurde Lea hellwach: Eins trug die Adresse am Paradies, und auch das zweite Anwesen, in der Markgrafenstraße, war nur einen Steinwurf vom Fundort der toten Trixi Völker entfernt.
Es würde sich womöglich lohnen, sie anzusehen.
Das am nächsten gelegene Haus befand sich in der Mitte der Markgrafenstraße, schräg gegenüber der Grundig-Stiftung. Eine riesige Villa aus der Jugendstilzeit mit altem Baumbestand. Die Außenanlage wurde gerade neu angelegt, das Gebäude sah aus, als sei es erst kürzlich renoviert worden. Eine junge Frau machte sich im Vorgarten zu schaffen.
»Was für ein schönes Haus«, sagte Lea, »da kann man Sie nur beglückwünschen.« Sie wusste, dass man stolze Hausbesitzer immer ansprechen konnte.
Tatsächlich richtete sich die Frau auf und drückte ihren Rücken durch, als würde er ihr von der Gartenarbeit schmerzen. Sie hatte eine Baseballmütze auf, aus der ein blonder Pferdeschwanz hervorquoll. Ihre blauen Augen waren wach, das Lächeln herzlich.
»Ja, nicht wahr? Wir lieben das Haus sehr. Wir sind so froh, dass wir es bekommen haben. Wir haben Jahre darauf gewartet.«
»Ach, Sie haben es geerbt? Ich dachte, es sei letztes Jahr durch das Immobilienbüro Nowak verkauft worden.«
»Beides stimmt. Der Vorbesitzer, Professor Ehrenreich, hatte uns zugesagt, dass wir es als Erste erfahren, wenn er ins Altenheim zieht und verkauft.«
»In welches Altenheim? Ins Imperial?«
»Das weiß ich nicht. Aber er ist dann noch zu Hause gestorben, und die Erben haben sehr schnell die Firma Nowak hinzugezogen. Wir hatten die Todesanzeige gelesen, aber man mag ja auch nicht gleich einen Tag nach der Beerdigung auf die Erben zugehen. Jedenfalls stand es eine Woche später schon zum Verkauf in der Zeitung. Fast hätten wir es uns nicht mehr leisten können. Aber meine Eltern haben noch etwas dazugelegt, für die Courtage. Und jetzt machen wir mit dem Renovieren eben etwas langsamer. Wird schon gehen, und dieses Haus ist es wert.«
Lächelnd blickte die junge Frau auf die Villa und strich sich über den Bauch. »Schon allein wegen dem Kleinen hier.«
Ein tiefer Stich wühlte in Leas Innerem. Was für eine glückliche Frau. Und sie? Eine Journalistin auf Mördersuche in der Sackgasse. Hatte sie wirklich alles richtig gemacht, als sie sich für den Beruf und gegen Kinder, Haus und Familie entschied? Vielleicht würde sie wieder ruhiger und zufriedener werden, wenn der Mordfall abgeschlossen war und sie endlich mehr Zeit und Ruhe hatte, an ihrem Roman weiterzuschreiben. Sie hatte sich von Jugend auf in ihren Visionen über ihr Leben schreibend gesehen, nie als Hausfrau oder als berufstätige Mutter. Aber wenn sie so glückliche Frauen wie diese sah, in Vorfreude auf das Kind und mit geduldigen, bestimmten Bewegungen selbstzufrieden im Garten grabend, dann war sie sich nicht mehr ganz so sicher, ob sie sich in dieser Ausschließlichkeit richtig entschieden hatte. Das war nun aber nicht mehr rückgängig zu machen. Sie war vierzig, die biologische Uhr war abgelaufen, und die Frage hatte sich irgendwie für sie nie ernsthaft gestellt. Sie sollte also das Beste aus ihrer Situation machen.
Mit einem letzten sehnsüchtigen Blick zurück machte sie sich auf zum nächsten Objekt, einem der renommierten Häuser direkt unterhalb der Wasserkunstanlage Paradies. Beklommen sah Lea den Berg hinauf, zur malerischen Brunnengrotte und der darüber liegenden Abgrenzungsmauer des Spielplatzes, auf dem Trixi Völkers Leiche gefunden worden war.
Dann wandte sie sich wieder um. Was für eine Wohnanschrift das war! Paradies 1c. Großartig.
Die Adresse war so exklusiv, dass noch nicht einmal ein Name an der Klingel stand, aber Lea wusste aus dem Prospekt, dass vorher eine Uta Kukowsky in dem Anwesen gewohnt hatte. Sie klingelte sowohl an der Tür als auch bei den Häusern direkt daneben und gegenüber, aber es rührte sich niemand. Vielleicht hatte sie noch eine Chance, wenn sie in die Redaktion kam. Als sie über den Fundort der Leiche berichtet hatte, war sie in den Unterlagen auf einen so genannten »Freundeskreis Paradies« gestoßen, der sich aus Anwohnern zusammensetzte und sich für den Erhalt der Anlage einsetzte. Vielleicht konnte sie den Vorsitzenden des Vereins nach Frau Kukowsky fragen.
»Kann ich Ihnen helfen?«, wurde Lea aus ihren Überlegungen gerissen. Eine Frau mit einem Irishsetter stand neben ihr. Es war eine der Zeuginnen, die die Leiche von Trixi Völker gefunden hatten. Die Frau erinnerte sich ebenfalls an sie und gab bereitwillig Auskunft. »Frau Kukowsky war fast neunzig. Ihr Mann ist vor zwei Jahren gestorben, und danach ist es auch mit ihr bergab gegangen. Wir Nachbarn haben uns um sie gekümmert, aber sie war trotzdem schrecklich einsam und deprimiert.«
»Hatte sie keine Kinder?«
»Einen Neffen, im Elsass. Der kam nur zur Beerdigung ihres Mannes, und dann zu Weihnachten und zum Geburtstag, glaube ich. Sie hat sich bitter beklagt, dass sie im Alter so allein war, obwohl der Neffe einmal alles erben sollte.«
»Und dann?«
»Letzten Sommer ist sie gestürzt, im Haus. Wir haben sie erst einen Tag später gefunden. Sie kam ins Pflegeheim, aber wir dachten oder besser hofften, dass sie bald wieder nach Hause kommen würde. Nach drei Monate war sie tot. Die arme Frau. Wenigstens hat der Elsässer das Haus nicht gekriegt. Das hat sie noch verhindert. Es wäre ja auch zu ungerecht gewesen.«
»Wer hat das Haus denn bekommen?«
»Die Zeisbergs, eine junge Familie. Er ist ein hohes Tier bei Mercedes in Rastatt, und sie muss wohl geerbt haben. Sehr nette Leute. Sie haben gleich eine hübsche Summe für den Freundeskreis gespendet. Nächsten Monat geben sie eine Gartenparty für die gesamte Nachbarschaft. Hoffentlich haben sie schönes Wetter.«
»Familie Zeisberg hat also dieses Haus von Frau Kukowsky geerbt?«
»Nein. Frau Kukowsky hat das Haus verkauft, als sie im Heim war, vor ihrem Tod. Arno Nowak war der Makler. Ich kann mich noch genau daran erinnern, weil wir vor fünfzehn Jahren unser Haus auch über ihn bekommen haben. Ein sehr kompetenter Mann, das muss ich sagen. Er hat für Frau Kukowsky einen hübschen Preis erzielt, dafür dass das Haus komplett saniert werden musste. Wieso interessieren Sie sich eigentlich dafür? Hat das etwas mit dem Mord zu tun? Ist man dem Täter eigentlich schon auf der Spur? Eine schreckliche Geschichte, und dann noch direkt vor der Haustür!«
»Wissen Sie, wo Frau Kukowsky zuletzt untergebracht war?«, fragte Lea.
»Das Pflegeheim? Das war diese nette Residenz an der Allee, das Imperial. Ich habe sie ein paar Mal dort besucht. Sehr angenehme Atmosphäre, fand ich.«
»Vielen Dank!« Lea atmete tief durch. Zufall? Vielleicht. Nowak war der größte Immobilienhändler am Ort. Warum sollte er sich nicht um so repräsentative Anwesen wie hier am Paradies kümmern? Sie hatte jedes Gegenargument im Ohr, das Gottlieb oder Reinthaler ihr entgegensetzen würden.
Fast im Laufschritt eilte sie zur Redaktion, stieg in ihr Auto und brauste auf die andere Seite der Stadt. Das nächste Objekt lag in der Kronprinzenstraße, oberhalb vom Kurhaus. Eigentlich hätte sie laufen sollen, verfluchte sie sich, als sie vergebens nach einem Parkplatz Ausschau hielt. Jeder in der Stadt wusste doch, dass es auf dieser Seite, wenn man nicht gerade eine eigene Garage besaß oder für einen Platz im Parkhaus eine saftige Gebühr zahlen wollte, keine Parkmöglichkeit gab. Aber sie hatte das Auto mitgenommen, weil sie nach ihrem Ausflug auf die Fremersbergseite gleich nach Ebersteinburg und dann anschließend nach Würzburg weiterfahren wollte.
Sich selbst verfluchend parkte sie das Auto schließlich in der sündhaft teuren Kurhausgarage. Das würde ihr niemand als Spesen ersetzen. Wütend stapfte sie zur angegebenen Adresse, nur um vor einem verschlossenen Tor zu stehen, das die Auffahrt in einen kleinen Park begrenzte. Vom Haus selbst konnte sie nur das gewaltige Dach mit einem kleinen Türmchen sehen, es lag versteckt hinter mächtigen Bäumen. Wieder kein Name an der Klingel, nur ein Dobermann, der wütend kläffend auf sie zugejagt kam. Fremdländische, hart klingende Worte erschallten, dann stob der Hund zurück zum Haus. Offenbar war dies eines jener Anwesen, die in russischer Hand waren. Hier würde sie nichts Näheres erfahren. Auch die Nachbarschaft sah abweisend aus.
Wieder einmal wunderte Lea sich, warum gerade diese Seite der Stadt als Wohngegend so beliebt und teuer war. Hier war es bis auf morgens den ganzen Tag über schattig, selbst jetzt, wo es doch ein wunderbarer Frühlingstag war, fröstelte es sie hier. Aber vor hundertfünfzig Jahren hatte niemand es für möglich gehalten, dass sich jemand freiwillig der Sonne aussetzte, um braun zu werden. Damals war vornehme Blässe modern gewesen. Vielleicht war die Schattenseite deshalb so begehrt? Oder lag es an diesen riesigen Grundstücksgrößen?
Lea kramte den Prospekt aus dem Rucksack und sah ihn sich noch einmal ganz genau an. Der Name des Vorbesitzers war frei gelassen, und Nowak hatte für dieses Objekt keine Courtage verlangt. Das bedeutete, dass es ihm zum Zeitpunkt des Verkaufs gehört hatte. Es wäre höchst interessant zu erfahren, wer der vorige Besitzer gewesen war und wo er seine letzten Lebenstage verbracht hatte. Lea kringelte die Adresse ein. Viele der Villen in dieser Straße waren für alteingesessene Baden-Badener ein Begriff. Meist hatten sie sogar Namen, die auf die Erbauer schließen ließen. Was mit ihnen geschah, war eigentlich immer wieder Stadtgespräch. Vielleicht wusste Frau Campenhausen etwas über die Geschichte dieses Anwesens oder die letzten Besitzer.
Das nächste Gebäude lag in der Hermann-Sielcken-Straße. »Villa Magdalena« stand auf einem weißen emaillierten Schild. Ein romantisches altes Haus mit Klappläden, Sprossenfenstern und Kletterrosen an der Wand. Ein Mittfünfziger werkelte im Garten. Es war Freitagnachmittag, genau die richtige Zeit für Entspannung nach einer langweiligen Bürowoche, erklärte er ihr lächelnd. Er wusste nur, dass der Vorbesitzer über siebzig gewesen war, sich entschlossen hatte, seine Enkel aus der Nähe aufwachsen zu sehen, und zu seiner Tochter ins Rheinland gezogen war. Wie der Vorbesitzer auf Nowak gekommen war, wusste er nicht, er selbst hatte das Angebot jedenfalls in der Zeitung gelesen und ganz spontan zugegriffen.
Blieb noch das Haus in Ebersteinburg. Lea holte ihren Wagen, zahlte für die kurze Zeit zähneknirschend drei Euro Parkgebühr und machte sich auf den umständlichen Weg vom Kurhaus hinüber zum Höhenortteil auf der anderen Seite der Stadt. Sie brauchte eine Weile, bis sie das Haus fand. Es war ein Neubau in einem exklusiven Wohngebiet am Waldrand, allenfalls zehn Jahre alt. Ein Scheidungsfall, wie sie nach Gesprächen mit mehreren Nachbarn herausgefunden hatte. Hier gab es keine mögliche Verbindung zur Seniorenresidenz Imperial. Sie wendete daher und machte sich auf den Weg zur Autobahn.
Als sie den hoch gelegenen Ortsteil auf der bewaldeten Straße verließ, bewunderte sie die Aussicht hinunter ins Tal der Rheinebene. Weiter im Hintergrund hoben sich klar umrissen und dunkelgrau die Vogesen am Horizont ab, eigentlich ein Zeichen, dass es schlechtes Wetter geben würde. Auf halbem Weg den Berg hinunter hielt sie am Straßenrand an, so umwerfend fand sie den Blick. Ein paar Minuten genoss sie die Aussicht und den Frieden der Landschaft, dann machte sie sich endgültig auf den Weg.
Das Autobahnstück der A 6 war wie so oft vollkommen verstopft. Bei Wiesloch/Rauenberg nahm sie den Stau noch stoisch hin und kurbelte sich durch die Radioprogramme. Bei Sinsheim schaltete sie das Radio aus. Sie konnte diese seichten Hits nicht mehr hören. Außerdem ging ihr Nowak nicht aus dem Kopf. Jagte sie einem Hirngespinst nach? Lediglich eins von fünf Häusern zeigte eine nachweisbare Spur ins Imperial. Das war so häufig wie der statistische Zufall. Daran war nichts Verdächtiges. Gar nichts. Hatte Nowak also eine reine Weste? War Wiesinger, wenn sie überhaupt etwas miteinander zu tun hatten, lediglich sein rechtschaffener Steuerberater? Und Frau Jablonka einfach nur eine übereifrige, überdiskrete Heimleiterin? Der Wirkungskreis der drei überschnitt sich doch nur in dem Maße, wie er es ganz zwangsläufig in einer Kleinstadt tun musste.
Sie war müde. Das Wochenende mit Justus würde sie aufbauen. Sie sollte an nichts anderes denken und sich auf die bevorstehenden Tage freuen. Wenn da nur nicht dieses bohrende Gefühl wäre, dass sie etwas übersehen oder noch nicht tief genug geforscht hatte ...
Bad Rappenau. Der dritte Stau, obwohl die Strecke zwischen Walldorfer Kreuz und Heilbronn nur sechzig Kilometer lang war. Lea trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. Es war nach fünf. Nichts ging mehr voran. Sie schaltete den Verkehrsfunk ein, der ihr auch nicht weiterhelfen konnte. Schließlich griff sie zum Handy und verständigte Justus. Er klang so wütend und enttäuscht, als hätte sie Schuld an den Staus oder sei nicht rechtzeitig losgefahren. Er hatte tatsächlich Opernkarten gekauft, für Donizettis »Don Pasquale«, denn das Mozartfest fand erst in einem Monat statt. Er brummte, dass er die Karten so kurzfristig nicht mehr losbekommen konnte, nicht einmal mehr an einen seiner Studenten.
Lea kannte Justus. Er war nicht enttäuscht, weil die Karten verfielen, sondern weil sie wieder einmal seine exakten Pläne für den Abend über den Haufen geworfen hatte. Wie hatten sie eigentlich zehn gute Jahre miteinander haben können, so unterschiedlich, wie sie waren? Lea liebte ihren Beruf und ihr Leben gerade deswegen, weil es so spontan war und fernab von jeder Stechuhr. Jeder Augenblick konnte etwas Aufregendes und Neues bringen. Ein Gräuel für Justus.
Waren es am Anfang gerade diese Gegensätze gewesen, die die Beziehung so bunt gemacht hatten, so fühlte sich Lea inzwischen über Gebühr eingeengt. Ja, sie hatte jetzt ein schlechtes Gewissen, weil sie, obwohl sie nichts dazu konnte, seine Pläne durchkreuzt hatte. Dabei sollten sie sich beide eigentlich nur darauf freuen, dass sie zwei Tage und zwei Nächte zusammen sein konnten. Wie, das war doch vollkommen gleichgültig, für sie jedenfalls. Liebend gern hätte Lea mit Justus darüber gesprochen und auch über ihre Sorgen, wohin ihre Beziehung zu driften drohte. Aber sie hatten ja vereinbart, dass sie dieses Wochenende nicht darüber reden würden.
Und schon, noch hundert Kilometer vor Würzburg, sehnte sie sich zurück nach ihrer Freiheit in Baden-Baden, wo sie Raum zum atmen hatte und wo sie nach Hause kommen konnte, wann immer sie wollte, ohne irgendjemandem Rechenschaft abzulegen oder das Gefühl zu haben, es wartete jemand auf sie.
Doch da irrte sie sich diesmal.
*
Marie-Luise Campenhausen saß in der Quettigstraße wie auf glühenden Kohlen und fürchtete, an ihren Neuigkeiten zu ersticken, wenn ihre junge Freundin nicht bald nach Hause käme.
Sie hatte, wie sie sich am Abend zuvor vorgenommen hatte, gleich am frühen Morgen ein paar Telefonate geführt und ihre Arbeit als Detektivin aufgenommen. Das fing schon beim korrekten Einkleiden an. Unauffällig musste es sein, am besten der beige Staubmantel und das passende Hütchen. Sie stieg in den Keller, um den Spazierstock ihres lieben Willi zu holen. Auf dem Weg zur Seniorenresidenz übte sie, ihr linkes Bein nachzuziehen, damit sie gebrechlicher und harmloser wirkte. Innerlich musste sie kichern. Hoffentlich wurde sie nicht ebenso schnell durchschaut wie Mienchen.
Sie hatte ihr Kommen angemeldet, und Frau Jablonka empfing sie in ihrem Büro aufs Herzlichste.
Frau Campenhausen erwiderte das aufgesetzte Lächeln höflich und ließ sich mit einem Seufzer in den angebotenen Sessel sinken. »Die Hüfte«, jammerte sie, »es wird wöchentlich schlimmer. Deshalb dachte ich, ich sollte mich bei Ihnen umschauen. Man weiß ja nie, wie lange es noch gut geht. Irgendwann werde ich wohl um einen Umzug nicht herumkommen.«
Frau Jablonka behielt ihr Lächeln bei. »Haben Sie denn keine Kinder, die für Sie sorgen könnten?«
»Niemanden. Einfach niemanden, seitdem mein Willi tot ist.« Frau Campenhausen nestelte ein Taschentuch aus dem Handtäschchen und hoffte, dass sie in ihrem Eifer nicht übertrieb.
Frau Jablonka hörte auf, mit ihrem Kugelschreiber zu spielen, und musterte sie scharf. Was sie sah, gefiel ihr offenbar, denn ein zufriedenes Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. Dabei hatte Marie-Luise lange gezögert, ob die dreifach geschlungene Halskette mit dem passenden Armband wirklich der richtige Köder war. Hätte ihr Gegenüber Stil, würde ihr gleich auffallen, dass diese Aufmachung maßlos übertrieben war. Wer trug denn vormittags Perlen! Frau Jablonka aber war, wie sie gehofft hatte, genau an diesen Zeichen von Wohlstand überaus interessiert.
»Vielleicht haben wir etwas für Sie. Ein nettes kleines Appartement, das letzte Woche frei geworden ist und natürlich noch renoviert werden muss. Es gibt einige Interessenten, aber wir suchen uns unsere Gäste gerne genau aus. Man will seinen Lebensabend schließlich auf dem gewohnten Niveau verbringen, nicht wahr?«
Marie-Luise hätte der Frau für ihre Hochnäsigkeit am liebsten die Handtasche um die Ohren geschlagen, aber sie nickte brav und lächelte.
Dann hinkte sie der Heimleiterin hinterher und ertappte sich dabei, wie sie zweimal das falsche Bein nachzog. Aber der Jablonka fiel es nicht auf. Sie eilte voran, den Schlüsselbund in der Hand.
Die Wohnung war nett, unmöbliert und hell. Vom kleinen Balkon aus konnte man auf das künftige Burda-Museum blicken. Wie so oft freute sich Marie-Luise, das formvollendete Gebäude zu sehen. Die Sammlung würde ein großer Gewinn für die Stadt werden.
»Eine hübsche Wohnung, aber viel zu klein für mich«, stellte sie fest. »Ich will mich nicht von allen meinen Möbeln trennen. Es sind kostbare Stücke darunter, für die würde ich niemals das Geld bekommen, das sie wert sind.«
Frau Jablonka lächelte weiter. »Ich hatte gleich den Eindruck, dass Sie ein gewisses Ambiente gewohnt sind. Im Erdgeschoss könnte ich Ihnen eine große Zwei-Zimmer-Wohnung anbieten, die höchsten Ansprüchen gerecht wird, allerhöchsten Ansprüchen. Sie wurde Ende März frei, leider. Ein so angenehmer Gast. Wir haben sehr schweren Herzens Abschied von ihm genommen. Die Wohnung ist nicht billig, aber ihren Preis wert. Sie wird Ihnen bestimmt zusagen.«
Wieder eilte sie durch die Gänge voran, so dass Marie-Luise Mühe hatte zu folgen. Frau Jablonka hatte Recht, diese Wohnung war tadellos und sehr geräumig. Parkett, Marmor, Sonne. Da gingen einem glatt die Argumente aus.
»Hier können Sie bestimmt viele Ihrer Lieblingsmöbel unterbringen. Alles, bis auf das Bett bitte. Sie bekommen von uns ein Pflegebett gestellt, sehr komfortabel, versteht sich, aber wir müssen darauf bestehen. Wissen Sie, falls einmal etwas passieren sollte, dann tut sich das Personal leichter, Sie angemessen zu versorgen. Übrigens darf jeder Gast auch als Pflegefall in seiner Wohnung bleiben. Aber das sagte ich schon, ja?«
Marie-Luise nickte wieder artig. »Aber ich habe fünf Zimmer voll mit Erinnerungsstücken. Was soll ich denn mit all den guten Möbeln tun? Und dann die schönen Stiche und die Gobelins und meine geliebten Perser.«
»Wie ich schon am Telefon andeutete, bieten wir Ihnen einen Rundumservice. Wenn Sie sich dafür entscheiden, zu uns zu ziehen, dann kümmern wir uns um den Rest. Ich kann Ihnen zum Beispiel einen sehr fähigen Antiquitätenhändler vermitteln, der Ihnen ganz bestimmt einen guten Preis macht.«
Marie-Luise machte ein unschlüssiges Gesicht. »Wenn es nur die Möbel wären. Die sind beweglich ...«
Frau Jablonka biss sofort an. »Sie haben Wohneigentum?«
»Genau. Ein großes Mietshaus. Das ist zusätzlich ein Grund, weshalb ich Hilfe bräuchte. Der ganze Schriftverkehr und die Verwaltung des Hauses werden mir manchmal recht viel. Fünfzehn Parteien, und ständig ist etwas kaputt, oder der eine zahlt die Miete nicht pünktlich, der andere kündigt. So viel Aufregung! Ich wäre froh, wenn ich alles los wäre. Genauso wie mein Ferienhaus in Florida. Da werde ich meiner Lebtage nicht mehr hinfliegen.« Sie seufzte erneut und bemühte sich, ein möglichst verzweifeltes Gesicht zu machen.
Frau Jablonka versuchte offenbar, ein Aufleuchten in ihrem Gesicht zu verbergen, indem sie sich zum Fenster umdrehte und angestrengt hinaussah. Dann wandte sie sich wieder um. »Wie gesagt, wir helfen gerne und unterstützen unsere Gäste bei allen Schwierigkeiten. Unser Büro kann einiges an Schreibarbeiten erledigen. Außerdem arbeiten wir sehr eng mit einem Immobilienservice zusammen, der Ihnen alles rund ums Haus abnimmt, Verwaltung, Instandsetzung, Grünpflege et cetera. Und er kann Sie, wenn Ihnen eines Tages alles zu viel wird, auch gut beraten, falls Sie einen Käufer für Ihre Anwesen suchen.«
»Und wer ist das?«
»Eine der renommiertesten Adressen der Stadt. Wir bekommen Sonderkonditionen. Wenn Sie sich entschließen, bei uns einzuziehen, mache ich Ihnen gerne einen Kontakt.«
»Hm, eine der renommiertesten Adressen? Das kann doch nur das Büro Nowak sein.«
Frau Jablonka neigte lächelnd den Kopf. »Dazu möchte ich mich heute nicht äußern, Frau Campenhausen. Wie gesagt, unser Service gilt ausschließlich für unsere Gäste.«
Marie-Luise hätte dem aufgeblasenen Huhn am liebsten den Hals umgedreht. Stattdessen wahrte sie weiter lächelnd die Beherrschung. Immerhin war sie hier, um etwas aus der Dame herauszukitzeln.
»Haben Sie zufällig auch einen Steuerberater, der Sie und Ihre Gäste exklusiv betreut?«
»Nun, Sie haben sicherlich einen eigenen«, erwiderte Frau Jablonka spitz und trat mit verschränkten Armen einen Schritt zurück.
Hatte sie Verdacht geschöpft? Marie-Luise beschloss, vorsichtig den Rückzug anzutreten, obwohl ihr der Name Wiesinger auf den Lippen brannte und sie ihn zu gerne aus dem Mund der Heimchefin gehört hätte.
»Natürlich habe ich einen«, versuchte sie, die Frau zu beruhigen, die sie nun misstrauisch beäugte. »Den alten Ehinger. Ein Freund von meinem Willi. Aber manchmal meine ich ...«
Frau Jablonka hatte es plötzlich eilig. »Dann bleiben Sie bei ihm. Alte Freunde sind immer noch die besten, Frau Campenhausen. Vielleicht überlegen Sie sich alles noch einmal in Ruhe. So ein Schritt braucht Zeit.« Sie sah zur Uhr. »Ich habe einen Interessenten für das kleine Appartement. Er will in zehn Minuten hier sein.«
Marie-Luise ärgerte sich über sich selbst. Wie hatte sie nur dermaßen plump vorgehen können. Sie hatte alles verdorben und war nicht einen Schritt weiter gekommen als ihre Mieterin. Eine schöne Detektivin gab sie ab!
Betont langsam hinkte sie der Heimchefin hinterher, bis diese sich verabschiedete und davoneilte.
Dann tat sie noch ein paar Schritte so, als strebe sie in Richtung Ausgang. Doch als sie die Tür der Heimleitung zuschnappen hörte, mache sie kehrt und folgte dem Schild zum Büro des Pflegedienstes.
Tatsächlich stieß sie dort auf Schwester Monika, die noch hagerer aussah, als sie es sich vorgestellt hatte. Die Schwester ging ganz offensichtlich gern mit alten Menschen um, das merkte Marie-Luise sofort an ihrem umwerfend herzlichen Lächeln und den kleinen Gesten, die allen alten Menschen gut taten: Sie streichelte ihr über den Arm, beugte sich vor, sah ihr direkt in die Augen und hörte aufmerksam zu, sie redete langsamer und etwas lauter als nötig. Wenn sie jemals im Alter der Unterstützung bedurfte, dann wünschte sich Marie-Luise genau so eine Helferin.
Sie gab vor, nach einer alten Freundin zu fahnden, die es in Wirklichkeit nicht gab.
Schwester Monika runzelte die Stirn. »Frau Koch? Sind Sie sicher, dass sie hier wohnt?«
»Ich meine, meine ehemalige Bridgefreundin hat Imperial gesagt, als sie vor einem halben Jahr umziehen musste. Wir haben uns danach aus den Augen verloren, und das bedaure ich sehr, zumal sie mich noch bei ihrem Steuerberater empfehlen wollte, der mit Ihrem Haus zusammenarbeitet, Herrn ... Na, wie hieß er doch gleich ...«
Schwester Monika runzelte die Stirn und schwieg. Unruhig spielte sie an den Knöpfen ihre Schwesterntracht.
Marie-Luise beschloss, den nächsten Schritt zu tun. »Ich hab’s: Wiesinger. Kann das der Name sein?«
Schwester Monika sah unbehaglich drein. »Wiesinger? Der kommt gleich, um seine Runde zu machen. Ich habe vier Vormerkungen – wollen Sie vorher kurz mit ihm reden?«
Himmel, nein, das wollte Marie-Luise so unvorbereitet nicht. »Leider, ich habe einen Frisör-Termin«, schwindelte sie. »Aber vielleicht haben Sie seine Telefonnummer. Dann komme ich bestimmt weiter.«
Schwester Monika öffnete eine Schublade. »Natürlich helfe ich Ihnen gerne. Er hat mir genau deswegen seine Visitenkarten dagelassen.«
»Hilft er Ihren Gästen auch in Erbsachen, wenn sie zum Beispiel ihre Häuser – sagen wir – steuergünstig vermachen wollen?«
Die Hand der Schwester schwebte regungslos über der Schublade. »Sie suchen gar keine Frau Koch. Sie wollen mich doch nur über Herrn Wiesinger aushorchen, oder?« Ihr Gesicht schnappte zu wie eine Mausefalle. »Über Herrn Wiesinger gebe ich keine Auskunft. Dafür ist ausschließlich Frau Jablonka zuständig. Ich muss los.« Damit ließ sie Marie-Luise stehen, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.
Nachdenklich sah Marie-Luise ihr nach, wie sie immer schneller wurde und fast davonrannte. Warum hatte sich diese liebenswürdige, warmherzige Person so plötzlich in einen Eisblock verwandelt? Da war doch etwas faul.
Immerhin hatte sie einiges herausgefunden. Immobilienservice, Antiquitätenhändler, Steuerberater – ein kleines Grüppchen Geschäftsleute kümmerte sich hier merkwürdig intensiv und exklusiv um die alten, reichen Leute. Und wieder einmal wunderte sich Marie-Luise, wie leichtsinnig und blauäugig alte Menschen doch waren. Leichtsinnig war eigentlich nicht das richtige Wort – oftmals waren sie einfach nur zu bequem geworden und gaben freiwillig viel zu viel ihrer Eigenverantwortung an andere ab. Manchmal wurde Marie-Luise richtig ärgerlich, wenn sie das in ihrem persönlichen Bekanntenkreis erlebte. Für alles wurden plötzlich die anderen verantwortlich gemacht: Arzt und Apotheker für die Gesundheit, das Alter für die Vergesslichkeit, die Kinder und Enkel für die Einsamkeit. Die Welt war schlecht, und sie nahmen das bedingungslos hin, anstatt selbst etwas dagegen zu unternehmen. Willenlose Lämmer, und mit jedem Lebensjahr wurde es schlimmer. Nein, das war nichts für sie. Sie nahm ihr Leben immer noch selbst in die Hand und wurde dafür fürstlich belohnt. Jetzt zum Beispiel: Sie ermittelte in einem Mordfall! Und die ersten Ergebnisse konnten sich sogar schon sehen lassen.
Davon beflügelt, setzte sie sich zu Hause sofort ans Telefon und hörte sich bei ihren Bridgedamen und im Französischkreis um. Mit einer der Freundinnen traf sie sich am frühen Abend, aufgetakelt und aufgekratzt, zu einem Besuch in der Spielbank. Keine zwei Stunden später war sie wieder zu Hause und konnte es nicht erwarten, Lea Weidenbach ihre Neuigkeiten mitzuteilen.
Aber ausgerechnet an diesem Abend kam ihre Mieterin nicht nach Hause.
Immer wieder kontrollierte sie, ob der rotweiße Mini auf seinem Parkplatz stand, und horchte auf Lea Weidenbachs Schritte im Treppenhaus. Ohne Erfolg.
Um zehn hörte sie auf zu warten. Sie hob Mienchen vom Sessel, legte sie sich auf den Schoß und schlug den neuesten Baden-Krimi in ihrer Sammlung auf.