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2. Farbtiger
ОглавлениеAls Pia am nächsten Morgen mit leichten Kopfschmerzen aufwachte, war sie noch immer schlechtlaunig. Daher beschloss sie als erste gute Tat des Tages, der Uni so fern wie möglich zu bleiben, Weltbewegendes würde in den letzten zwei Wochen vor den Semesterferien ohnehin nicht mehr geschehen. Unter der Dusche verharrte sie eine Weile unbeweglich mit geschlossenen Augen und genoss das beruhigende Fließen des warmen Wassers. Dann drängte sich ihr wieder der vergangene Tag in den Sinn. Sie versuchte die Situation zu analysieren und sich mit dem Gedanken abzufinden, dass sie es gründlich vermasselt hatte. Die Katze hatte daran überhaupt keine Schuld, sie, Pia, hatte das unvermeidliche Stillleben von Woche zu Woche geschoben, über das gesamte Semester hinweg. Dieses Desaster geschah ihr ganz recht, es war ihre Verantwortung, es hätte problemlos und ganz entspannt laufen können.
Schon bevor sie sich Frühstück machte, öffnete Pia die Tür zur Dachterrasse, es war Bilderbuchwetter. Als sie sich mit einem Seufzer am Tisch niederließ, fiel ihr Blick wie immer nach draußen, über die Dächer der alten Wohnblocks. Und da saß sie wieder auf dem Nachbardach, die kleine, weiße, nein, die grellbunte Katze. Sie machte einen apathischen Eindruck, das Fell war durch die Farbe völlig verklebt. Pia ließ die Tasse sinken und trat auf die Terrasse. Auch wenn das Tier vorher schon kränklich und hager ausgesehen hatte, so war der jetzige Zustand wohl der Tatsache geschuldet, dass sich die Mieze in der letzten Nacht künstlerisch völlig verausgabt hatte. Da musste sie sich jetzt kümmern, es waren schließlich ihre Farben, die waschecht im Fell des Tieres klebten. Die Mieze ließ sich nicht anlocken und gab nur ein jämmerliches Maunzen von sich. Das Nachbardach grenzte beinahe übereck an ihre Dachterrasse, es gab einen Spalt, der kaum einen Meter breit war, aber darunter gähnte ein Abgrund, der vier Stockwerke hinunterreichte. Da würde sie auf keinen Fall drüber steigen, zu solch einem Stunt fehlten ihr die Nerven. Pia stellte ein Schälchen mit Kondensmilch auf, vielleicht würde die Katze sich dadurch anlocken lassen. Sie war schließlich auch zuvor schon auf ihre Dachterrasse gelangt.
Geschlagene zwei Stunden später saß das Tier noch immer an der gleichen Stelle. Selbst von weitem konnte Pia erkennen, wie der kleine Körper zitterte. Ihr fiel nur Dominik ein, der sicherlich mit einem großen Ausfallschritt auf das Nachbardach gelangen konnte, ganz ohne Anstrengung, oder mit einem kleinen Sprung. Sie würde ihn anrufen, und zwar sofort. Im Moment dieses Gedankens klingelte ihr Smartphone, sicher einer aus der Clique. Pia achtete gar nicht auf die Nummer im Display und nahm das Gespräch an.
„Hier ist Keno, wir kennen uns aus der U-Bahn.“
Kennen? Ohne nachzudenken schoss es aus ihr heraus: „Ich hab hier einen Notfall. Ich muss sofort auflegen.“
„Kann ich helfen?“ Seine Stimme klang so besorgt, als würde er für eine kitschige Schmonzette vorsprechen.
„Nein.“
„Dann melde ich mich später nochmal, okay?“
Sie drückte ihn weg, ohne noch etwas zu sagen. Blödmann! Erst die billige Anmache in der U-Bahn und dann ihr Handy blockieren.
Dominik erreichte sie nicht, stattdessen Lennie beim dritten Versuch. Die zwei waren oft zusammen unterwegs und wohnten im gleichen Block.
„Ich bin grad in der Umkleide, Dominik und ich waren schwimmen. Was gibt’s denn?“
„Bei mir sitzt ´ne Katze auf dem Nachbardach, die hat sich mit meiner Farbe versaut und ist total verklebt.“
„Wem gehört die denn?“
„Keine Ahnung. Ich glaub, sie ist ein Streuner“, mutmaßte Pia knapp.
„Dann lass sie da doch einfach sitzen.“ Hilfsbereitschaft klang anders.
„Die geht ein da oben. Die lass ich da nicht sitzen, verdammt.“
„Ist ja okay, Pia. Dominik und ich sind in ´ner halben Stunde bei dir.“
Da hatte Pia doch auf absolute Helden gesetzt. Dominik und Lennie waren eine richtige Hilfe, was das Diskutieren des richtigen Plans anbelangte, über den Spalt auf das andere Dach wollte allerdings keiner von ihnen. Ihre Bedenken deckten sich haargenau mit denen, die Pia gehabt hatte.
„Aber ihr seid Jungs!“
„Is klar. Aber ein falscher Schritt und wir sind Leichen. Wenn das nicht so übereck läge, würde ich es sogar riskieren.“ Lennie verschränkte die Arme.
„Wir könnten einen Kescher mit Teleskopstiel besorgen und versuchen, die Katze von hier aus zu fangen“, war Dominiks sicherheitsbewusster Vorschlag.
„Wer hat denn so ein Ding?“
Pia konnte die beiden schon verstehen, sie hatte ja selbst Bedenken gehabt. Und wenn wirklich etwas passierte, das würde sie sich nie verzeihen. Nein, sie würde nicht drängeln. Wenn die beiden beschlossen hatten, nicht aufs Nachbardach zu steigen, dann würde sie das akzeptieren. „Ist doch was für Angler. Kennt ihr einen?“, schob sie nach.
„Nee, keine Ahnung. Aber wir könnten einen im Angelgeschäft besorgen“, schlug Dominik vor.
„Ja, direkt im Erdgeschoss“, witzelte Lennie.
„Da gibt’s doch diesen Laden direkt hinter dem Bahnhof. Ich fahr mit der U-Bahn hin. Da bin ich in einer dreiviertel Stunde wieder hier.“ Dominik ließ es mehr wie eine Frage klingen.
„Was kostet denn so ein Ding? Ist bestimmt nicht billig“, wandte Lennie ein. „Nur für das eine Mal hier mit der Katze, das lohnt doch gar nicht. Und Fische gibt’s hier oben auch nicht so viele.“ Er grinste.
„Kannst du mal einmal ernst bleiben?“ Pia knuffte ihn entnervt in die Seite. Sie warf einen Blick auf das benachbarte Dach. Die Katze harrte noch immer an gleicher Stelle aus, und genauso unschlüssig standen sie herum. Die chinesischen Tonkrieger wären dagegen impulsiv rübergekommen.
„Dann geh ich jetzt rüber“, platzte Pia in die Stille und riss entschlossen die Tür zur Dachterrasse auf. Eilig trat sie nach draußen, um keine Zeit zu haben, es sich anders zu überlegen. Als sie ihr rechtes Bein über das Geländer schwang, meldete sich ihr Handy. Sie schwang das Bein zurück und war erleichtert, denn so merkten die beiden Männer nicht, dass auch ihr der Mut fehlte.
„Wir können ja beim Nachbarblock mal anklingeln. Die haben doch sicher einen Hausmeister, der da rauf kann“, fiel Pia ein, während sie ihr Smartphone entgegennahm, das Dominik ihr herüberreichte.
Keno betrachtete die Lage von der Dachterrasse aus. „Es wäre leicht, wenn es nicht so blöd übereck läge.“ Er runzelte die Stirn, sein ungekämmtes Haar gab ihm etwas Verwegenes.
Jetzt, wo dieser athletisch aussehende Sportstudent in ihrer Wohnung stand, wusste Pia nicht mehr, was sie da eben am Telefon geritten hatte. Der Gedankenblitz war unkontrolliert aus ihr hochgeschossen, als Keno sich am anderen Ende gemeldet hatte und sie hatte ihn mit ihrem inneren Auge bereits von Dach zu Dach springen sehen. Auf Kenos Frage, ob jetzt alles wieder okay sei, hatte sie mit einer Gegenfrage geantwortet. „Kannst du Katzen retten?“ Die Tatsache, dass die beiden anderen noch hier in ihrer kleinen Wohnung waren, sicherte die Situation ab, es gab ja nichts Verfängliches.
Als würde Keno den ganzen Tag nichts anderes machen, landete er mit einem eleganten Sprung auf dem Nachbardach. Pia blieb beinahe das Herz stehen, so ohne Vorankündigung hatte sie mit diesem Stunt nicht gerechnet. Die Katze rührte sich nicht, anscheinend ging es dem Tier wirklich schlecht. Keno redete beruhigend auf den Tiger ein, während er sich langsam und mit ruhigen Bewegungen dem Farbklecks näherte. Ohne Widerstand ließ sich das verklebte Knäuel aufheben. Einen Moment lang hielt er die Katze dicht am Körper. Pia konnte nicht umhin den Anblick mit einem Strom innerer Wärme richtig süß zu finden. Dann reichte Keno ihnen mit lang ausgestrecktem Arm das Tier entgegen. Dominik lehnte sich weit über das Geländer und nahm es in Empfang. Mit einem großen Satz folgte der Retter, schwang sich über das Geländer und grinste. „Jetzt könnte ich einen Kaffee gebrauchen.“
Pia fragte sich, wie sie hier in der U-Bahn bei den anderen Fahrgästen wohl rüberkamen. Drei Männer und eine Frau, die eine kleine rote Reisetasche mit sich trugen, aus der es miaute. Sie hatten den Tierarztbesuch gemeinsam gemacht, gemeinsam das Wartezimmer blockiert, zusammen den Tierarzt mit Fragen gelöchert, sogar gemeinsam bezahlt. Pia war heilfroh, die Rechnung hätte ihre Finanzen gesprengt. Als kleines Dankeschön würde sie die drei Mitstreiter heute Abend bekochen, Nudeln mit Pesto, soviel Anstand musste sein. Die Mieze war jetzt nackt, abgeschoren, weil sich Acrylfarbe nicht auswaschen lässt. Durch das gespritzte Aufbaupräparat gestärkt, schimpfte sie jetzt vor sich hin.
„Willst du die behalten oder bringst du sie ins Tierheim?“, wollte Lennie wissen.
„Ein Haustier steht nicht wirklich bei mir auf dem Plan“, gab Pia zu, „aber ich würde es nicht übers Herz bringen, sie ins Tierheim zu geben.“
„Sie gehört ja quasi schon zur Familie“, grinste Keno.
Pia sah ihn finster an. Wie konnte der denn jetzt von Familie reden? Sie kannten sich doch gar nicht. Ihr war auch nicht bekannt, dass vier Stunden jemals gereicht hätten, um eine Familie zu gründen. Es war vielleicht ein Fehler gewesen, auch ihn an der Rechnung zu beteiligen, womöglich stellte er noch irgendwelche Ansprüche. „Wenn, dann gehört sie zu mir. Sie treibt sich ja schon wochenlang auf meinem Dach herum. Willst du dein Geld wiederhaben?“
„Hast du eine Sperre, was Familie angeht?“, fragte Keno erheitert.
„Nein, ich krieg nur Probleme, wenn mir Unbekannte sofort so dicht auf die Pelle rücken.“
„Ich sitz dir gegenüber, Dominik rückt dir auf die Pelle.“
„Du weißt genau, was ich meine, Keno.“
Der grinste nur.
„Bleib mal locker, Pia“, kam Lennie ins Gespräch. „Immerhin kennst du schon seinen Namen, er hat die Katze gerettet und irgendwie passt er auch ganz gut zu uns.“
Pia blickte wortlos vor sich hin. Ja, fall mir mal gepflegt in den Rücken, Lennie. Ihr innerer Peilsender versuchte auszuloten, wie die Geschehnisse der letzten Stunden in diese Situation münden konnten und wo das jetzt hinführen sollte. Die alte Komödie kam ihr in den Sinn, drei Männer und ein Baby. In ihrem hin und wieder leicht paranoiden Gedankenlabyrinth gab es gerade einen Keno, der alles eingefädelt hatte, die Begegnung in der U-Bahn und die passgenauen Anrufe, nachdem er die Katze auf dem Dach platziert hatte. War natürlich Blödsinn, die Mieze hatte sich schon immer dort rumgetrieben. Das Ganze war auch ohne diese bescheuerten Hirngespinste schon abenteuerlich genug.
„Wir sollten noch Katzenfutter besorgen“, holte Keno sie aus ihren Gedanken.