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Praktiken des »Glücks«
ОглавлениеWenn gegen den Strich der heutigen Geschichtsschreibung gelesen werden muss, um bei Thukydides eine Geschichte der Gefühle zu finden, dann muss Aristoteles hierfür gegen den Strich der heutigen Philosophie gelesen werden. In beiden Fällen neigen moderne Übersetzungen dazu, diejenigen Kategorien hervorzuheben, die für die heutige Leserschaft am sinnvollsten scheinen, auch wenn dabei etwas Bedeutendes verloren geht. Was unser eigenes »emotionales Radar« betrifft: Wir haben ein starkes Bedürfnis nach Vertrautheit, Kontinuität und Sicherheit. Wenn diese Dinge umgekehrt werden und uns Thukydides und Aristoteles fremd erscheinen, empfinden wir Orientierungslosigkeit und Verlust. Um aber wirklich herauszufinden, wer wir sind und warum wir auf eine bestimmte Art fühlen, müssen wir uns mit dem Unvertrauten auseinandersetzen. Nur so können wir die Politik des Erlebens in unserem eigenen Leben enthüllen und Aufschluss über die Kontingenz unserer Gefühle gewinnen. Das Fremde in der Vergangenheit zu finden und zu verstehen, heißt, die Bedeutung des Kontexts für die Entstehung von Kategorien des Erlebens zu beleuchten. Die Kategorie »Emotion« ist sehr verlockend, um zu verstehen, wie wir fühlen, und somit, wer wir als Individuen sowie als Menschen an sich sind.
Für eine Beurteilung von Aristoteles’ Verständnis des Zusammenhangs von Leidenschaften, Tugenden und Wohlbefinden ist es essenziell, der Versuchung der universellen Kategorie »Emotion« zu widerstehen. Am deutlichsten wird die dynamische Beziehung von Tun, Sein und Wohlbefinden in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik, auf die wir uns im Folgenden hauptsächlich konzentrieren. Normalerweise sieht Aristoteles’ Konzept in etwa so aus: Das höchste Ziel des Lebens ist es, gut zu sein. Das höchste Gut ist Glück. Glück wird durch tugendhaftes Handeln erreicht. Die tugendhafteste Tätigkeit ist die Politik. Am glücklichsten ist man also als tugendhafter Politiker. Auf den ersten Blick ist dies ein Rezept für Glück, und es basiert auf der Aktivität der rationalen Seele. Mit diesem scheinbar einfachen Konzept gibt es allerdings ein paar bekannte Probleme.
Das erste und offensichtlichste Problem ist das Wort »Glück«. Es handelt sich um die gängigste Übersetzung des griechischen Worts εὐδαιμονία (eudaimonia), das wörtlich bedeutet, in einem Zustand »guten Geistes« zu sein. Daimon bezeichnet eine äußere Gottheit, einen persönlichen Schutzgeist. Eudaimonia jedoch, was etwas verwirrend ist, bezieht sich auf die Disposition eines Individuums. Diese Disposition kann, basierend auf der tugendhaften Ausbildung und Lebenserfahrung einer Person, objektiv gemessen werden.41
Ein größeres Problem ist, dass Aristoteles deutlich zum Ausdruck bringt, dass das tugendhafte Leben und das Erleben von eudaimonia Aktivitäten der rationalen Seele sind, wodurch der Teil, der für gewöhnlich mit so etwas wie Emotionen in Verbindung gebracht wird, in den Hintergrund verwiesen wird. Etwas, das die Sinne oder das Erleben betrifft, hängt von sorgfältiger Überlegung und überlegtem Handeln ab. Dieses Gefühl des Guten, eudaimonia, sollte also nicht als Emotion oder Leidenschaft im Sinne eines Gefühls einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt verstanden werden, sondern eher als Disposition, als konkrete Eigenschaft. Es ist also sehr problematisch, eine Person als »glücklich« zu beschreiben, wenn sie zu einem anderen Zeitpunkt auch als schmerzerfüllt oder wütend beschrieben werden kann.
Auch wenn die Diskussion um die wahre Bedeutung und angemessene Übersetzung von eudaimonia – eines der Lieblingsthemen der Philologie – nichts Ungewöhnliches ist, bereichert der schärfere Fokus, den die Forschung im Bereich der Emotionsgeschichte auf solche Phänomene richtet, die Diskussion.42 Mit Nachdruck zu leugnen, dass eudaimonia Glück bedeutet, heißt, die Geschichte der Philosophie sowie die Philosophie selbst aus dem Gleichgewicht zu bringen. Aber auch dann, wenn die Übersetzung als »Glück« mit der gebotenen Vorsicht verwendet und mit einer Anmerkung versehen wird, besteht die Gefahr, dass man beim Lesen des Wortes »Glück« eine zeitgenössische Perspektive gegenüber Aristoteles’ Konzept einnimmt. Dadurch erhält jede Analyse zumindest den bitteren Beigeschmack des Anachronismus.
Was also tun? Am liebsten würde ich eudaimonia griechisch belassen. Dies macht zwar eine Erklärung nötig, dennoch ist es die beste Option. Sinn und Zweck der Emotionsgeschichte ist es, zu betonen, dass sich Emotionen nicht nur mit der Zeit verändern, sondern dass sie auch verloren gehen. Die Vergangenheit ist voll von affektiven Konzepten, Verhaltensweisen und Praktiken, für die es in unseren heutigen Sprachen keine Bezeichnung und keine Entsprechung gibt. Warum sollten wir dann also versuchen, archaische Konzepte in zeitgenössische zu übertragen? Wenn es das ultimative Ziel der Griechen der klassischen Epoche war, gut zu sein, und die höchste Ausdrucksform dieses Guten eudaimonia war, dann muss man sich darum bemühen, zu verstehen, was sie unter diesem Begriff für sich genommen verstanden haben. Auf eine Ähnlichkeit oder Analogie hinzuweisen, bedeutet nur, den infrage stehenden Gegenstand zu verfehlen.
Wenn eudaimonia eine tugendhafte affektive Aktivität der rationalen Seele ist, ein objektiv existierendes Phänomen, das einem Individuum dennoch verborgen bleiben kann, was sind dann die affektiven Aktivitäten der rationalen Seele, derer sich ein Individuum bewusst ist? Wir beginnen nun, uns mit den Leidenschaften und ihrer Entstehung auseinanderzusetzen, mit dem Umgang mit ihnen und mit ihrem Zweck sowie ihrem Verhältnis zu den Tugenden, oder anders gesagt, zur Moral.
Zwei zentrale Komponenten stechen hier besonders hervor. Erstens verfügen Menschen nicht von Natur aus über moralische Tugend. Diese muss vielmehr durch Gewohnheit kultiviert werden. Zweitens werden Tugend sowie Laster als Reaktionen auf Situationen kultiviert, die Leidenschaften hervorrufen. Anders gesagt: Die Praktiken und Aktivitäten, die angesichts der Leidenschaften kultiviert werden, bestimmen den moralischen Status eines Individuums. Diese Art des Umgangs mit Leidenschaften wirkt sich direkt darauf aus, wie Leidenschaften erlebt werden und welches Handeln sie hervorrufen. Wenn Aristoteles die verschiedenen Arten von Leidenschaft (pathos), mit denen die Aktivitäten verbunden sind, voneinander abgrenzt, fasst er die jeweilige Kategorie oft mit der Praxis zusammen. Es gibt kein Fühlen ohne Handeln. Ein Gefühl ruft immer eine praktische Reaktion hervor, die einen Wert hat. Das Erleben der Leidenschaften ist also höchst individuiert.
Hierdurch wird wiederum das Gefühl selbst relativiert. Eine bestimmte Situation mag beängstigend sein, aber wie diese Angst erlebt wird, hängt vollständig vom Verhalten, von den Praktiken ab, die dieser Angst zugeordnet sind. Ein ängstlicher Mann – ein Feigling – wird angesichts von Angst erstarren oder weglaufen; ein mutiger Mann wird bereit sein, der Quelle der Angst gegenüberzutreten, zu kämpfen oder zu beschützen. Für Aristoteles definiert das Handeln das Gefühl, nicht anders herum.43 Es kann für den Umgang mit Angst, Wut oder jedem anderen Gefühl keinen integrierten Mechanismus geben, weil einem Individuum nur durch das Erleben und durch das Ausüben von Praktiken bewusst wird, was mit ihm passiert:
Und durch unser Verhalten in gefährlicher Lage, Gewöhnung an Angst oder Zuversicht, werden wir entweder tapfer oder feige. Dasselbe trifft zu bei den Regungen der Begierde und des Zorns: die einen werden besonnen und gelassen, die anderen hemmungslos und jähzornig, je nachdem sie sich so oder so in der entsprechenden Lage benehmen. Mit einem Wort: aus gleichen Einzelhandlungen erwächst schließlich die gefestigte Haltung.44
Die Disposition eines Menschen hängt also vollständig von seinen Gewohnheiten und dem Prozess der Bildung von Gewohnheiten seit der Kindheit ab. »[D]arauf kommt nicht wenig an, sondern sehr viel, ja alles«,45 so Aristoteles. Emotionen und Affekte sind keine automatischen internen Prozesse, die im Wesentlichen natürlich oder fester Bestandteil des Menschseins sind, da es außerhalb von situationsbedingtem Verhalten kein affektives Erleben gibt. Um diesen Punkt deutlich hervorzuheben, zitiert Aristoteles seinen Lehrer Platon, laut dem »schon von früher Jugend an [...] eine bestimmte Führung da sein [muss], die Lust und Unlust da empfinden lehrt, wo es am Platze ist; denn dies ist die richtige Erziehung«.46 Eine Erziehung in affektiver Orientierung und Praxis ist das ultimative Ziel der Erziehung insgesamt, da dies zu Tugend befähigt. Aristoteles war der Auffassung, dass die Seele die Fähigkeit hat, zu fühlen. Sie ist empfänglich für »die Begierde, den Zorn, die Angst, die blinde Zuversicht, den Neid, die Freude, die Regung der Freundschaft, des Hasses, die Sehnsucht, die Mißgunst, das Mitleid«, aber diese Dinge können weder durch das Selbst noch durch irgendjemand anderes bewertet werden, ohne dass zugleich das damit verbundene Verhalten bewertet wird.47 Und es ist unmöglich, sich eine Leidenschaft ohne die dazugehörige Praktik vorzustellen. Sogar völlige Inaktivität ist eine Art Praktik, die etwas über die Disposition der Person aussagt.
Die Fähigkeit der Seele, bestimmte Dinge zu fühlen, bedeutet für Aristoteles nicht, dass sie diese Dinge fühlen sollte. Tatsächlich sieht er bestimmte Leidenschaften als entschieden unmoralisch an und weist darauf hin, dass ein tugendhafter Mensch diese einfach niemals erleben würde. Gefühle müssen »zur rechten Zeit […] und den rechten Situationen und Menschen gegenüber, sowie aus dem richtigen Beweggrund und in der richtigen Weise« gefühlt werden – und manchmal überhaupt nicht.48 Neid, Schamlosigkeit und Bosheit sind solche Fälle. Jeder, der solche Gefühle erlebt, liegt laut Aristoteles einfach falsch. Auf den ersten Blick scheint dies ein Problem darzustellen, da sich die Frage stellt, wie die Seele eines tugendhaften Menschen die Fähigkeit haben kann, etwas Lasterhaftes zu fühlen. Aristoteles löst dieses Problem, indem er diese lasterhaften Leidenschaften zu extremen Epiphänomenen anderer Leidenschaften erklärt. Schamlosigkeit (anaischyntia) ist beispielsweise ein Mangel an Schamgefühl, die zugehörige tugendhafte Leidenschaft ist Bescheidenheit (aidos); die tugendhafte Leidenschaft zu Neid oder Eifersucht (phthonos) – ein Übermaß an Entrüstung – ist die angemessene Empörung (nemesis), die mit Praktiken der gerechten Strafe einhergeht. Mit anderen Worten: Die Fähigkeit der Seele, lasterhafte Gefühle zu erleben, entspricht der Fähigkeit der Seele, tugendhafte Gefühle zu erleben. Welche Gefühle zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Person hervorgerufen werden, hängt vollständig davon ab, was die Person gewohnt ist, zu tun. Aristoteles’ Ansichten in Bezug auf Wut mag diejenigen, die heute unter Schwierigkeiten leiden, ihr Temperament unter Kontrolle zu halten, überraschen. Ein Übermaß an Wut führt zu Jähzorn (orgilotes), wohingegen es jemandem, der nicht wütend genug ist, an Geist (aorgesia) fehlt. Das tugendhafte Erleben von Wut hingegen wird von Sanftmut (praotes) getragen. Es ist schwer, sich Sanftmut als eine Form von Wut vorzustellen. Vielleicht hilft es aber, sich Sanftmut als eine Praktik der Aggressionsbewältigung vorzustellen.
Während Aristoteles uns an ein Verständnis der Tugend, des Guten sowie von eudaimonia heranführt, lohnt es sich, innezuhalten und darüber nachzudenken, wie diese Beobachtungen auf unsere vorhergehende Darstellung des affektiven Erlebens in der archaischen und klassischen Welt angewendet werden können. Es sollte klar sein, dass die Aktivitäten und Praktiken von Menschen in schwierigen Situationen nicht als Darstellungen ihres relativen Scheiterns oder Erfolgs in Bezug auf die emotionale Kontrolle verstanden werden können. Panik, Wut oder Grausamkeit sind genauso wenig das Ergebnis eines Kontrollverlusts wie ein Scheitern darin, sich zu mäßigen. In der klassischen Welt muss die Angemessenheit dessen, was in einer bestimmten Situation passiert, betrachtet werden, um die Art und den Wert affektiven Erlebens zu verstehen.
All dies ist weit entfernt von der Art von Leidenschaften, die in der Ilias ausgelebt werden, da Achills menis gleichzeitig als extrem und angemessen betrachtet wird. Dennoch verfügt Achill, dessen Wut außerhalb der Sphäre der Schlacht brodelt, im Großteil von Homers Epos über eine gewisse Sanftmut. Die Praktik der gottgleichen menis soll sein militärisches Können zurückhalten, das auch ohne einen direkten Ausdruck von Wut bestens funktioniert. Nach Patroklos’ Tod zeugen Achills Rückkehr auf das Schlachtfeld, sein gnadenloses Niedermetzeln von allen, die sich ihm in den Weg stellen, sowie die Entehrung von Hektors Leiche nicht so sehr von Unverhältnismäßigkeit als vielmehr von einem Ausbruch von Trauer entsprechend der Größe seiner Liebe und Hingabe gegenüber Patroklos. Aufgrund der sich verändernden Codes des Heldentums hatten auch die Menschen im klassischen Griechenland Schwierigkeiten damit, die »Drehbücher« für menis und Trauer in der Ilias zu verstehen. Die Tatsache der Brutalität des Kriegs war in der klassischen Epoche allzu offensichtlich und gegenwärtig. Wie im Zusammenhang mit Thukydides gezeigt wurde, unterminierten Scham und Angst im Angesicht militärischer Macht die Ehre. Wut hat ohne die Macht, sie auch anwenden zu können, keinen Vorteil. In der Sichtweise Athens sollten Fühlen und Ausdrücken gegenüber einer überlegenen Macht durch Unterwerfung und Bescheidenheit gekennzeichnet sein. Durch Aristoteles’ Schema betrachtet, deutet dies sowohl auf die Veränderlichkeit der Tugend als auch auf den Ort der Macht in Bezug auf die Tugend hin. War aus der Perspektive der Mächtigen nicht letztendlich das affektive Versagen der Bevölkerung Athens während der Pest sowie das der Melier gegenüber der Macht Athens nicht einfach ein Versagen darin, »zur rechten Zeit […] und den rechten Situationen und Menschen gegenüber, sowie aus dem richtigen Beweggrund und in der richtigen Weise« zu fühlen? Und was waren demgegenüber die Gründe der Melier, von einer erbarmungslosen »Kolonialmacht« in die Knie gezwungen, ihr eigenes Verständnis der Richtigkeit des Gefühls zu konstruieren und zu vermitteln, obwohl bereits ihr Protest Beweis ihrer Überzeugung war, dass sie in der Tat richtig fühlten?