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Gottgleiche Bedrohung
ОглавлениеAm Anfang war das Wort menis. Dieses allererste Wort des westlichen Literaturkanons wird üblicherweise mit Zorn oder Wut übersetzt: In der Ilias, dem epischen Gedicht Homers, scheint es im Wesentlichen um die extreme Wut Achills zu gehen (dort steht es, als erstes Wort, im Akkusativ Singular: μῆνιν – menin, der Nominativ dieses femininen Wortes lautet μῆνις – menis). Für mich ist dieses Werk der logische Ausgangspunkt. Der Einfluss der Ilias, die vermutlich um 800 v. Chr. oder etwas später verfasst worden ist, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.3 Zusammen mit einer kleinen Anzahl an weiteren epischen Gedichten dominierte sie das griechische Bildungsleben. Im Athen zur Zeit Platons (ca. 400 v. Chr.) war man mit dem Werk sehr vertraut, sah es als Grundlage für die fundamentalen Lehren des Lebens. Bis heute ist die Ilias ein beliebter Klassiker und insbesondere ein Eckpfeiler der liberalen Bildung. Die Tatsache, dass etwas, das wir als Emotionsbegriff bezeichnen würden, den Beginn sowie den Rahmen der Erzählung darstellt, rückt menis für eine Geschichte der Gefühle ins Rampenlicht. Die Ilias ist weniger eine faktische Darstellung eines Krieges und der in diesem Zusammenhang erfolgenden Handlungen, sondern sie diente vielmehr jahrhundertelang als Leitbild für Heldentum und Tugend. Beides wird von den Leidenschaften der Seele und von dem gelenkt, das wie Emotionen aussieht, das aber größere kosmologische Dimensionen hat.
Wenn wir davon ausgehen, dass es in der Ilias um so etwas wie Wut geht, müssen wir auch der Frage nachgehen, was wir in dem Werk über Wut lernen sollen. Diesbezüglich bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es in der Ilias letztendlich eigentlich gar nicht um Wut geht. Daraus ergibt sich eine Reihe von Fragen dazu, warum der Begriff dann in den Übersetzungen als Wut oder Zorn wiedergegeben wird. Es wurde seitens der Wissenschaft oft darauf hingewiesen, dass menis in der Ilias ein besonderes und seltenes Wort ist, das ausschließlich für Achill und die Gottheiten verwendet wird und sich von der prosaischeren Wut der anderen Charaktere unterscheidet – sie leiden an χόλος (cholos), dessen Ursprung im Körper liegt, etwa in der Galle.4 Achills menis, die mit den Gottheiten in Zusammenhang steht, ist in Bezug auf ihre Größe und Bedeutung kosmisch.
In einer teleologischen Interpretation der Ilias bezeichnet Leonard Muellner menis als »kosmische Sanktion« und schreibt ihr die Macht zu, die soziale Ordnung der Welt, die durch eine fundamentale Bedrohung gestört wird, wiederherzustellen.5 Meistens geht sie von einer Gottheit aus und dient dazu, einen Menschen, der sich »wie eine Gottheit« verhält, davon abzuhalten, die Grenzen seines Wesens zu überschreiten, oder um die Ordnung unter den Gottheiten selbst aufrecht zu erhalten. Achill ist kein Gott, sondern ein Halbgott; er hat eine unsterbliche Mutter. Wichtiger ist aber, dass er ein König von gleichem Rang wie Agamemnon ist. Zu Beginn der Ilias demütigt Agamemnon Achill, indem er ihm die versklavte Briseis wegnimmt, die dieser zuvor als Beutefrau erhalten hat. Damit gefährdet er die sensible soziale Ordnung unter den Königen und verletzt außerdem die Rituale bezüglich der Aufteilung der Beute. Achill ist zu Recht wütend, aber sind diese persönliche Demütigung und die Gefährdung der griechischen Gesellschaftsstruktur der Grund für seine menis?
Das zweite Wort des westlichen Literaturkanons ist »preisen«. Hierin liegt ein deutlicher Hinweis darauf, worum es bei der menis Achills geht. Homer beginnt seine Erzählung damit, dass er die Göttin – seine Muse – bittet, die Erzählung zu preisen. In den meisten modernen Übersetzungen fordert Homer die Göttin dazu auf, Achills Wut zu »singen«. Soweit ich es beurteilen kann, resultiert diese eher neutrale Wortwahl daraus, dass der Übersetzer nicht glauben kann, dass die menis in der Ilias als Tugend oder zumindest als eine positive Emotion gemeint ist. Aus demselben Grund verwenden die meisten modernen Übersetzungen die Worte »Zorn« und »Wut« gewissermaßen synonym. So geht die wesentliche Unterscheidung zwischen menschlicher Wut und kosmischer menis verloren. In Robert Fagles’ viel gepriesener englischer Übersetzung zum Beispiel ist Wut ein Leitmotiv des gesamten Epos, wodurch das Bild einer dicht mit wütenden Königen und Gottheiten besiedelten Landschaft entsteht.6 Dieser wundervoll klaren und fesselnden Erzählung wird jedoch eine zentrale Unterscheidung geopfert. Als ich 2006 zum ersten Mal zur Ilias las, wurde zur Fassungslosigkeit und Überraschung der anwesenden Altertumswissenschaftler seitens der Studierenden »preisen« als mögliche Übersetzung für ἀείδω (aeido; in der Ilias steht der Imperativ aeide) vorgeschlagen. Ich übernehme an dieser Stelle dankend diesen Vorschlag und warte auf weitere Fassungslosigkeit in den Reihen der Altertumswissenschaftler.
Oberflächlich betrachtet, handelt es sich hierbei nicht um eine umstrittene Übersetzung des Wortes. Die meisten Wörterbücher schlagen diese Übersetzung vor. Was sie im Zusammenhang mit der Ilias unplausibel macht, ist unser heutiges Verständnis von Wut – insbesondere der Wut Achills – als negativ, übertrieben, unanständig, böse, hartherzig und extrem irrational. Es fällt uns schwer, zu verstehen, warum Achills Zorn sich durch das gesamte Epos zieht und warum irgendeine seiner Taten lobenswert sein sollte. Dementsprechend schließen viele moderne Übersetzungen die Taten, die Achill begeht, als er am Ende der Ilias wieder in das Kampfgeschehen eingetreten ist, in die Erzählung über seine Wut ein. Angesichts seiner extremen Mordlust während der Schlacht ist es schwierig, seine menis als lobenswert zu beurteilen. Hierdurch werden das Verständnis und die Analyse erschwert.7
Die Ilias bietet einen spannenden möglichen Ausgangspunkt für eine alternative, fremdartige und lebendige Geschichte der Gefühle, da hier durch eine radikale Veränderung in der Bewertung bestimmter Leidenschaften eine Umkehrung von Tugend und Laster stattgefunden hat. Die Geschichte der Emotionen selbst wird durch diesen Wandel reflektiert. Um Homer mit den Augen seiner Kritiker zu lesen, muss zunächst diese Geschichte herausgearbeitet werden.
Mit der Zeit nahm das Verständnis für die menis Achills ab, und die menschlichen Qualitäten und die emotionale Komplexität Hektors rückten in den Fokus. In der heutigen Lesart ist Hektor der Held der Ilias – ein galanter und tapferer Außenseiter, dessen Schicksal durch einen Unmenschen besiegelt ist, dessen Leidenschaften außer Kontrolle sind. Wenn in diesem Epos pathos zu finden ist, dann in Hektors Not.8 In der Welt der Ilias hingegen ist es gerade diese Menschlichkeit, die Hektor für die erste Reihe des Pantheons der epischen Helden disqualifiziert. Der Grund dafür, dass Hektor im Verlauf der Jahrhunderte Beifall erhielt, rührt daher, dass sich die Interpretation des Werts der jeweiligen Emotionen der beiden Helden veränderte. Aber es war nicht nur die Veränderung in der moralischen Interpretation des Textes oder einfach nur eine Veränderung in der Bewertung bestimmter Emotionen (wie Wut oder Angst), die Hektor zum Helden und Achill zum Übeltäter des Stücks machte: Auch eine Distanzierung hinsichtlich des Erlebens vom Kontext des Epos ist zu vermuten. Achill wird deshalb zum Übeltäter, weil es nicht länger möglich ist, sein Erleben von menis oder das Ausmaß seiner Trauer und die daraus folgenden Handlungen zu erklären.
Die wichtigste kritische Lektüre Homers ist vielleicht zugleich die erste und bekannteste: In Platons Politeia finden wir die erste wirklich kritische Diskussion der Schwierigkeiten, Homers Achill als einen tugendhaften und damit vorbildlichen Helden zu akzeptieren. Im klassischen Athen sollte daraus ein Verbot der Lektüre Homers folgen, aufgrund des schädlichen Einflusses seiner Werke. Vom Mittelalter bis zum viktorianischen Zeitalter wurde Hektor dann zum ritterlichen, heldenhaften Verlierer der Ilias umgeformt; er diente als Beispiel höfischer Männlichkeit. Zu diesem Zweck mussten Hektor und Achill umgestaltet werden, sodass sie letztlich den späteren Empfindungen in Bezug auf die Bedeutung und den Wert von Wut und Tapferkeit entsprachen. Achill wurde zum Erzbösewicht, der besiegte Hektor zum Urbild des pyrrhischen Siegers. Wut, insbesondere zügellose Wut, konnte nicht als positive Eigenschaft akzeptiert werden. Die kosmische Bedeutung von menis, die aus einer von Ritualen geprägten, polytheistischen Gesellschaft stammte und für eine monotheistische Kultur, die vom Stoizismus beeinflusst war, völlig unverständlich war, war verloren gegangen.
Im englischen Gedicht Laud Troy Book, das um 1400 verfasst wurde (von wem, wissen wir nicht), heißt es über Hektor, er sei zu einem Helden eines höfischen Romans geworden. Als solcher kommt er auch in Elizabeth Barrett Brownings Gedicht Hector in the Garden (1846) vor.9 1869 drückte William Ewart Gladstone seine Bestürzung darüber aus, dass
die Figur des homerischen Hektor von der jüngeren Tradition so überhöht und so entstellt wurde, dass sie mit dem Original nichts mehr gemeinsam hat und zu einem Symbol der höchsten Tapferkeit und Ritterlichkeit wurde. Weder Tapferkeit noch Ritterlichkeit sind jedoch Merkmale von Homers Hektor.
Gladstone versuchte, die »widersprüchlichen« Charakterzüge Hektors, die sich zwischen extremem Mut und »offensichtlichen Zeichen von Feigheit« bewegten, in Einklang zu bringen. Dies zeigt, wie schwierig es war, genau zu sagen, wovor Hektor Angst hat. Gladstone fragte sich, ob vielleicht »unter anderem die völlige Abwesenheit von Lastern [...] in seinem Charakter dafür verantwortlich war, dass er als Modell des heroischen Mannes des Altertums in die christliche Literatur des Mittelalters aufgenommen wurde«.10
Saul Levin schreibt hierzu Folgendes:
Seit jeher wurde jeder Generation von Griechen durch die Ilias, die sie von Kindheit an las oder vorgetragen bekam, ein Bild gewisser heroischer Typen vermittelt. Unabhängig von der jeweiligen zeitgenössischen Umgebung wurden die Griechen mittels dieses Gedichts unmerklich durch entfernte Ahnen geformt oder vielmehr durch das, was diese bewunderten. Dennoch waren die Griechen des Goldenen Zeitalters von manchen Stellen der Ilias mehr berührt als von anderen. Sie konnten eine der beiden zentralen Figuren – Hektor – ignorieren, was sie auch taten. Dieser berührt jedoch den Großteil der modernen Leserschaft und sogar der Forschenden weit mehr als Achill. Wir möchten lieber so sein wie Hektor. Aber sind wir den Gefühlen des Dichters und seines achäischen Publikums so nahe, wie es ihre Nachkommen waren, die allein in Achill den großen Helden der Ilias sahen?11
Ich denke, dass wir weit von den Gefühlen des Dichters und seines achäischen Publikums entfernt sind und dass wir, um zu verstehen, warum Achill der Held der Ilias ist, zunächst einige Mühe aufbringen müssen, um seine menis zu verstehen. Deshalb möchte ich in Erwägung ziehen, dass Homers Epos tatsächlich so beginnt, wie es zu beginnen scheint – nämlich mit einem Aufruf an die Göttin, die menis zu preisen –, und dass die Ilias als Ganzes eine lobenswerte Erzählung über die menis ist. Wenn Achill aber der Held ist und Hektor der verhasste Übeltäter, wie können dann all die entsetzlichen Taten Achills als positiv, angemessen, schicklich, tugendhaft, gefühlvoll, rational und gerecht verstanden werden? Ich behaupte, dass eine solche Lesart möglich ist und dass die Griechen den Helden Homers so verstanden haben. Achill erlangt seine Ehre durch Zeus, weil er den Kampfhandlungen fernbleibt. Sein Wiedereintreten in den Krieg signalisiert das Ende seiner menis. Deshalb schlage ich bescheiden eine neue Übersetzung für die ersten beiden Wörter der westlichen Literatur vor: »Preise die gottgleiche Bedrohung«.
Menis ist keine bloße Leidenschaft und kann nicht einfach mit dem gleichgesetzt werden, was wir Emotion nennen. Sie kommt nicht von innen, sondern hat sowohl soziale als auch kosmische Impulse. Nach meiner Lesart ist es sinnvoller, menis als menace (dt. etwa: »Bedrohung«) zu übersetzen (es gibt Gründe, diese beiden Wörter miteinander in Verbindung zu bringen, nicht zuletzt deshalb, weil sie nahezu identisch klingen). Das englische menace impliziert eine affektive Disposition für extreme Wut sowie eine gewaltsame Bedrohung, wodurch die Handlungen des Subjekts bestimmt werden und das Erleben aller, die ihm begegnen, gestört wird. Menis beschreibt also letztendlich nicht nur das Gefühl Achills, sondern unterstreicht und rechtfertigt alles, was er tut und nicht tut, sowie den Verlauf des Krieges bis zu dem Zeitpunkt, als er sie schließlich aufgibt und wieder an den Kampfhandlungen teilnimmt. Als Nomen im Singular wird menace heute als »eine Person oder Sache, die wahrscheinlich Schaden verursachen wird, eine Bedrohung oder Gefahr« oder als eine »bedrohliche Eigenschaft oder Atmosphäre« verstanden. Im Kontext der Ilias existiert aufgrund der Verletzung der sozialen und rituellen Ordnung, die durch Agamemnons Verhalten gegenüber Achill verursacht wird, genau so eine Bedrohung.
Achills menis richtet ein Blutbad unter den Argivern an. Was ist die Ursache hierfür? Eine einfache Lesart, nach der angenommen wird, dass menis »Wut« bedeutet, macht es fast unmöglich, nicht zu dem Schluss zu kommen, dass Achill aufgrund des Unrechts, das ihm angetan wurde, jedes Maß verloren hat. Im ersten Buch der Ilias nimmt Agamemnon, nachdem er selbst seine eigene Beute, die versklavte Chryseis, an ihren Vater, einen Priester des Apollon, zurückgeben musste, Achills Beute, die versklavte Briseis, als Entschädigung. Zuvor hat sich Agamemnon entgegen der kosmischen und rituellen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ordnung geweigert, Chryseis gegen ein Lösegeld zurückzugeben, woraufhin Apollon den Griechen eine große Pest geschickt hat. Das allgemeine Leid, das diese menis Apollons verursachte, veranlasste Agamemnon dazu, seine Meinung zu ändern und so die Ordnung wiederherzustellen und Apollons menis zu beenden. Als Entschädigung für seine eigene Beute, und um nicht das Gesicht zu verlieren, nimmt er also Achills Beutefrau. Da die Griechen dies geschehen lassen und somit Agamemnons Verhalten billigen, bricht Achill alle Beziehungen zu ihnen ab. Wenn wir Achills Verhalten so interpretieren, dass er einfach sehr wütend war, weil er sein Gesicht verloren hat, er von Agamemnon entehrt wurde oder weil ihm Briseis weggenommen wurde, erscheint es als extrem trotzig. Kann seine Entehrung wirklich all das schreckliche Leid rechtfertigen, das seine menis verursacht? Dass Agamemnon ihm ungerechterweise Briseis wegnimmt, verärgert Achill aber nicht einfach auf einer persönlichen Ebene. Vielmehr bedeutet dies in weit größerem Ausmaß eine Störung der Ordnung der weltlichen Dinge, die unmittelbar auf die Störung der kosmischen Dinge folgt. Agamemnon hat zwei Mal menis riskiert – zuerst Apollons, dann Achills –, indem er tief verwurzelte rituelle Praktiken in Bezug auf Status, Tausch und Ehre verletzt hat. Achills menis ist deshalb lobenswert, weil sie letztendlich die Ordnung wiederherstellt.
Der teleologische Zweck von Achills menis ist es während des Großteils der Handlung der Ilias nicht, Gewalt zu entfesseln, sondern sich von Gewalt zurückzuziehen. Achill ist durch Tatenlosigkeit charakterisiert, wobei er von sich selbst, von Athene und von Thetis zurückgehalten wird. Eine Wandmalerei in Pompeji aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. zum Beispiel zeigt, wie Achills menis durch Athene zu Kontrolle und Rückzug umgewandelt wird. Nebenbei bemerkt, zeigen die meisten antiken Darstellungen Achills keine offensichtlichen oder deutlichen Gesichtsausdrücke. Das Gesicht Achills, des angeblichen Archetyps der Wut, offenbart keinen archetypischen Ausdruck dieses Gefühls. Eine Schale aus den Jahren um 480 v. Chr. zeigt den Moment, als Briseis zu Agamemnon gebracht wird, während Achill, in ein Trauertuch gehüllt, regungslos dasitzt. Der einzige sichtbare Ausdruck ist seine Hand auf seiner Stirn. Dies kann zwar als körperliche Geste seiner persönlichen Trauer interpretiert werden, im Kontext macht es aber Sinn, es als sichtbares Zeichen seiner menis zu deuten. Er ist reglos und trauert nicht nur aufgrund seines eigenen Schicksals, sondern auch aufgrund der Lage der Welt.
Achill begibt sich dann zu den Schiffen, wo sich seine menis, die weiterhin Schwierigkeiten für die Argiver bedeutet, fortsetzt. Da die Ilias die Wiedererzählung einer Geschichte mit bereits bekanntem Ausgang ist, deutet Achills menis auf das gewaltsame Ende hin, zu dem es unweigerlich kommen wird. Sie ermöglicht auch die Gewalt, die die Griechen erfahren. Durch seinen Rückzug erhalten Hektor und die Trojaner einen Vorteil in der Schlacht, was enormes Leid für die Achäer bedeutet: Nachdem die Hauptquelle des militärischen Widerstands von der Bildfläche verschwunden ist, metzeln die Trojaner die Argiver nieder. Dies ist Zeus’ Wille, der jedoch in diesem Fall Achills menis übernimmt. Zeus wird, mit den Worten Muellners, zum active agent (»Wirkstoff«) von Achills menis.12 Er entspricht damit Achills Bitte, die dieser durch seine Mutter Thetis vortragen lässt, dass alle Achäer für Agamemnons Verstoß leiden sollen, womit die ungewöhnliche menschliche menis des Halbgotts Achill zur »kosmischen Sanktion« eines tatsächlichen Gottes wird. Dieser bestraft dann gerechterweise die gesamte gesellschaftliche Gruppe, die mit demjenigen in Verbindung steht, der die Welt in Unordnung gebracht hat.13
Fresko mit Achill und Agamemnon; Casa di Apollo, Pompeji, 1. Jahrhundert n. Chr.
Die rotfigurige Schale aus Athen zeigt, wie Briseis dem Achill weggenommen wird; ca. 480 v. Chr.
Achills menis endet erst, als er Patroklos in den Kampf gegen die Trojaner schickt. Dass die Argiver den ungeordneten Rückzug antreten mussten, ist Strafe genug für die Verletzung von Achills Ehre. Indem Achill Patroklos so in die Schlacht schickt, als ob er Achill selbst wäre, macht er den ersten Schritt zur Wiederherstellung der Verbindung, die von Agamemnon zu Beginn des Epos zerschlagen worden war. Patroklos’ Tod – den Achill nicht einfach als den Tod eines geliebten Menschen erlebt, sondern, da beide sich extrem gleichen, wie seinen eigenen Tod – entfacht in dem Helden eine tiefe Trauer, die ihn schließlich wieder in die Schlacht eintreten lässt. Moderne Übersetzungen verwechseln diesen Wiedereintritt in das Handlungsgeschehen fast unweigerlich mit einer Fortsetzung von Achills Wut, wobei weitere starke Emotionen hinzukommen: Liebe und Trauer. Nach unseren eigenen Standards in Bezug auf die Ursachen von Wut oder Zorn ist es durchaus nachvollziehbar, dass die außergewöhnliche Gewalt, die von Achill ausgeht, nur hierin begründet liegen kann. Insofern als Achills Handlungen jedoch aus Trauer und zum Vorteil all seiner Kameraden erfolgen, muss seine erbarmungslose Mordlust als Zeichen dafür interpretiert werden, dass seine menis – das Leitmotiv der Ilias – sich aufgelöst hat.
Während Achill in seiner menis völlig inaktiv war, wird er in seinem ausschweifenden Töten »wie die menis der Gottheiten« beschrieben. Achill verkörpert die von oben entfesselte menis nur bildlich und erst, nachdem er seine eigene menis aufgegeben hat, um sich wieder der menschlichen und rituell gebundenen Gemeinschaft anzuschließen.14 Indem Homer Achill, unmittelbar bevor dieser Hektor tödlich verwundet, als eine »gewalttätige [oder wilde] Seele voller Macht« (μένεος δ᾽ ἐμπλήσατο θυμὸν ἀγρίου – meneos d’emplesato thymon agriou)15 beschreibt, wird dessen Leidenschaft explizit wieder in einen weltlichen Kontext gebracht – eher in das Reich der Natur als in das des Kosmos. Stephen Scully beschreibt Achill als »personifizierte Wut«. Nun handelt es sich jedoch um einen sterblichen, einen menschlichen Körper und um eine menschliche, durch Trauer verursachte Wut.16 Moderne Übersetzungen wählen »Wut« oder »Zorn« für μένος (menos) und verschmelzen somit diesen Begriff für Macht, Stärke, Kraft oder Gewalt mit dem kategorisch anderen menis.17 Wichtig ist hierbei, und dies wird oft übersehen, dass Achill, als er sich weigert, Hektors Leiche zu übergeben, und darauf besteht, dass sie zu Hunde- oder Vogelfutter wird, sich wünscht, er hätte die μένος καὶ θυμὸς (menos kai thymos), Hektors rohes Fleisch zu essen.18 Fagles übersetzt hier my rage, my fury – »meine Wut, meine Raserei« –, A. T. Murray wrath and fury – »Zorn und Raserei«.19 Beides ist in Einklang mit dem Motiv eines wütenden Achill, wobei »Wut« hier nicht von der menis, die das gesamte epische Gedicht eröffnet hat, zu unterschieden ist. Der Abschnitt impliziert jedoch eindeutig, dass Achill nicht die nötige Leidenschaft hat, Hektor roh zu essen, und er dies auch nicht versucht. Es könnte also genauso gut folgendermaßen lauten: »[...] hätte ich die Stärke (menos) oder das Herz (thymos), dich roh zu essen«. Dies wäre eher in Einklang mit der Weise, wie Achills Charakter in der Erzählung gezeichnet wird; zu diesem Zeitpunkt hat er seine kosmischere menis vollständig aufgegeben.