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Gefühle und Geschichte

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Ich erinnere mich an ein Geschichtsprojekt in meiner Schulzeit – es muss etwa 1993 gewesen sein und ich war ungefähr 15 Jahre alt. In einem ehemaligen Bergbaudorf in der Nähe von Burton-on-Trent sollten meine Mitschüler und ich die Erlebnisse der Menschen dort während des Ersten Weltkriegs erforschen. Burton gehörte zu den ersten Orten in Großbritannien, die von Luftangriffen betroffen waren, daher interessierten uns die Zeppelin-Angriffe natürlich besonders. Die Aufgabe: Verfasse eine »empathische Darstellung« darüber, wie es war, im Januar 1916 in Burton einen Zeppelin-Angriff zu erleben. Uns wurden verschiedene Informationen an die Hand gegeben: Ausschnitte aus Regionalzeitungen; Sekundärquellen, die die Ereignisse und ihre Folgen beschrieben; Informationen zu technischen Details der Zeppeline und darüber, wie man sich gegen sie verteidigen kann; Angaben zum historischen Kontext Burtons, zu seiner industriellen und ökonomischen Bedeutung und so weiter. Mit diesen Informationen »bewaffnet«, sollten wir uns mithilfe unserer eigenen Vorstellungskraft in eine imaginäre Person der Vergangenheit hineinversetzen, die unter einem Küchentisch Schutz sucht oder die durch die moderne Tötungstechnologie Freunde oder Nachbarn verloren hat und nun mit diesem Verlust fertigwerden muss. Keine leichte Aufgabe.

Wenn ich mich richtig erinnere, sollte die Darstellung tausend Wörter umfassen. Es wäre passend und überdiest ziemlich schmeichelhaft für diejenigen, die sich solche Geschichtsprüfungen ausdenken, wenn ich diese Erfahrung als den Ausgangspunkt dafür beschreiben könnte, dass ich mich als Historiker mit Emotionen und mit dem Erleben beschäftige. So war es aber nicht (ohne meinem damaligen Geschichtslehrer David Frater zu nahe treten zu wollen). Vielmehr beginne ich mit dieser Anekdote, um zwei Dinge deutlich zu machen:

Der erste wichtige Punkt ist, dass womöglich davon ausgegangen wird, dass Empathie – das Erschließen von Emotionen anderer – ohne Weiteres auf die Vergangenheit übertragen werden kann. Diese Ansicht beruht auf der Annahme, dass das, was ich mir bezüglich meiner Gefühle vorstelle, die ich in einer bestimmten Situation hätte, dem nahe kommt, wie es sich tatsächlich anfühlt, in dieser Situation zu sein. Was uns hierfür qualifiziert, ist, dass wir alle Menschen sind und gewisse Grundemotionen und Bausteine unserer Erfahrungswelt gemeinsam haben. Ein Bombenangriff ist furchteinflößend. Vergleichbar fühlt es sich an, wenn ich Angst habe. Ich hätte unter einem Tisch Schutz gesucht. So muss es sich angefühlt haben. Aber so funktioniert Empathie nicht. Sie hängt nicht nur von biologischen Gemeinsamkeiten ab, sondern auch von Erfahrungen, einem gemeinsamen Kontext, von gemeinsamem Wissen, von dem, was von uns allen in Sachen emotionaler Empfindung erwartet wird, von gemeinsamen Gesten. Wir empfinden vor allem dann Empathie, wenn wir das Gefühl selbst kennen.1 Wenn wir uns unbekannten Umständen gegenübersehen, versuchen wir zwar vielleicht, Empathie zu empfinden, aber wahrscheinlich kommen wir dem nicht besonders nahe, wie es sich tatsächlich anfühlt, die andere Person zu sein. Je weiter eine Situation von unserem Erfahrungshorizont entfernt ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass wir es schaffen, Empathie zu empfinden. Einige Situationen, die uns besonders fremd sind, lösen vielleicht noch nicht einmal den Impuls aus, überhaupt Empathie empfinden zu wollen. Ich frage mich jetzt, ob ich genügend Informationen hatte, um mich in jemanden aus dem Burton von 1916 hineinversetzen zu können – Informationen über Arbeit, Leben, Sprache, Identität, Probleme, Gesten, über die vielen Schichten von emotional regimes (Familie, Klasse, Gemeinschaft, Nation, Verbündete) und über die Prozesse des othering, die in der Zeit des Krieges zu Feindschaft und Hass führten. Ich komme zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall war.

Der zweite wichtige Punkt ist, dass Empathie zwar eine der Grenzen zwischen uns und der Geschichte (genauer gesagt: der Geschichtsschreibung) zu markieren scheint, dass es aber doch Anlass gibt, optimistisch zu sein, dass wir diese Grenzen mit anderen Mitteln überschreiten können. Während meiner Zeit als Geschichtsstudent Ende der 1990er-Jahre schlug der »historischen Empathie« viel Gegenwind entgegen. Die Postmoderne drohte die Geschichtsschreibung auf einen höchst selektiven Erzählprozess zu reduzieren, der Fantasie der Historiker entsprungen, die eher mit Romanautoren zu vergleichen seien, und so wurde das Primat des Beweises, der empirischen Forschung, der Kontextualisierung bekräftigt und betont, dass die Darstellung der Vergangenheit einer Begrenzung unterliegt.2 Nachzuempfinden bedeutete ein fantasievolles, aus der Luft gegriffenes Beschreiben, es bedeutete, historischen Ereignissen affektive Werte zuzuschreiben, auf die es in den Archiven keine Hinweise gab.3 »Die Vergangenheit ist ein fremdes Land« – so lautet eine beliebte Parole. Und genau wie es manchmal bei Begegnungen mit Menschen aus fremden Ländern der Fall ist, ist nicht immer sofort Empathie vorhanden. Dennoch haben diejenigen, die sich Gedanken über die Vergangenheit machen, das Bedürfnis, nachzuvollziehen, wie es sich angefühlt hat, sich in einer bestimmten Situation zu befinden.

Verstehen erfordert Zeit, Arbeit und Mühe – aber deshalb ist es nicht unmöglich. Auch wenn es nicht möglich ist, einfach eine empathische Darstellung der Vergangenheit zu verfassen, können wir versuchen, zu verstehen, wie es sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort angefühlt hat – aus der Perspektive der damaligen Akteure, indem wir die Gefühlswelten, in denen sich diese Menschen bewegt haben, gründlich rekonstruieren.4 Eine Geschichte der Gefühle zu schreiben, ist möglich, aber nur, wenn wir zunächst das Primat unserer eigenen Gefühle als Wegweiser aufgeben. Es handelt sich hierbei nicht um Geschichtswissenschaft im Sinne eines Nachempfindens: Wir legen unsere Empathie ab, um herauszufinden, wie diejenigen, die heute tot sind, zu Lebzeiten gefühlt haben.

In den letzten zehn Jahren ist die Emotionsgeschichte in den Fokus der Geschichtswissenschaft gerückt. Allerdings explodiert zwar die Zahl der Arbeiten zur Geschichte von Gefühlen, Leidenschaften, Emotionen und Empfindungen, aber es wurde kaum ein Versuch unternommen, das Thema allgemein darzustellen oder die Geschichte der Emotionen quer durch alle Epochen von der Antike bis zur Gegenwart zu erzählen.5 Das vorliegende Buch ist die erste locker strukturierte Geschichte der Gefühle über diesen sehr langen Zeitraum. In vielerlei Hinsicht ist dieses Buch eine Ergänzung zu The History of Emotions, einer Publikation, die sich ganz und gar auf die Theorie, die Methoden, Arbeitsweisen und Herausforderungen der Emotionsgeschichte als Forschungsfeld konzentriert und so den Anfangsschwierigkeiten bei der emotionsgeschichlichen Forschung begegnet.6 Die bereits vorhandenen methodologischen und theoretischen Texte waren schwer zu überschauen und miteinander in Verbindung zu bringen, sodass es schwierig war, einen Ausgangspunkt zu finden. The History of Emotions befasst sich also mit dem wissenschaftlichen Handwerkszeug. Ich habe darin darauf hingewiesen, dass es noch keine Darstellung der Geschichte der Emotionen gab, welche die traditionelle Periodisierung durchbricht und über die Grenzen eines Fachgebiets hinausgeht. Mit diesem Buch versuche ich deshalb, die Emotionsgeschichte in möglichst groben Zügen darzustellen. Es handelt sich also nicht um eine detaillierte wissenschaftliche Untersuchung eines kurzen Moments oder eines einzelnen Ortes, sondern um den Versuch einer Darstellung des Gefühlslebens über einen Zeitraum von epischem Ausmaß hinweg. Es gibt tausend Möglichkeiten, wie diese Geschichte erzählt werden kann, und ich behaupte nicht, dass dieses Buch der definitive große Wurf ist. Es ist eine mögliche Darstellung, die als Ausgangspunkt dienen kann und die andere verbessern, mit Leben füllen und ergänzen können.

Das vorliegende Buch lehnt eine universelle Emotionstheorie ab und verfolgt stattdessen eine biokulturelle Herangehensweise, die davon ausgeht, dass unser Fühlen ein dynamisches Produkt ist, das auf der Existenz von Körper und Geist in Zeit und Raum beruht.7 Emotionale Begegnungen und individuelles Erleben werden gleichermaßen im historischen und kulturellen Kontext erklärt, um das, was in traditionellen Darstellungen der Vergangenheit nicht beschrieben wird – Gesten, Gefühle, Erleben – aufzuarbeiten. Wir sind daran gewöhnt, dass in der Vergangenheit der Fokus auf der Vernunft lag und dass es als irrational abgetan wurde, wenn Gefühlen laut oder gar schreiend Ausdruck verliehen wurde. Ich gehe davon aus, dass die Trennung zwischen Vernunft und Irrationalität falsch ist. Dennoch stellt sich die Frage, wie die Akteure unterschiedlicher Epochen das Irrationale definiert und erlebt haben. Oft wurden Gefühle gar nicht als das Gegenteil von Rationalität angesehen, sondern man sah sie – so hatte es sich einigermaßen verfestigt – als Teil des Einklangs von Körper und Geist, ratio und passio.

Dieses Buch beschränkt sich auf die historische Zeit; neurobiologische Aspekte, die Suche nach »tiefen«, evolutionären Strukturen im menschlichen Körper, die präkulturell sind, werden außer Acht gelassen. Ich habe bereits an anderer Stelle geschrieben, dass zwar darüber spekuliert werden kann, welche menschlichen Verhaltensweisen »automatisch« sind – natürliche Prozesse sozusagen –, dass es jedoch unmöglich ist, sich einen Menschen außerhalb von Kultur vorzustellen.8 Sollte jemand entgegenhalten, dass es irgendwo und irgendwann einmal präkulturelle Menschen gab, würde ich erwidern, dass diese Lebewesen dann prä-menschlich waren. Die Gesamtheit dessen, was in der Vergangenheit geschaffen wurde, ist – soweit erhalten – Kultur, egal ob es sich nun um Sprache, bedeutungsvolle Gesten, Kunst oder eine Art von gesellschaftlicher Organisation handelt. Etwas Bedeutungsvolles entsteht ausschließlich durch kulturelle Formation, durch Interaktion und Dynamik. Wenn es nichts gibt, was eine Bedeutung hat, dann gibt es, was die Geschichte anbelangt, nichts zu sagen. Für die Geschichte der Emotionen, der Sinne und des Erlebens ist es essenziell, sich von den Versuchungen einer Art transzendentalen Biologie zu befreien.9 Einige behaupten, dass sonst die Gefahr bestünde, in ein neues »dunkles Zeitalter« zurückzufallen, wenn erst die Geisteswissenschaften all ihre Berechtigung, zu erforschen, was es bedeutet, Mensch zu sein, zugunsten der Evolutionswissenschaft aufgegeben haben.10 Das erinnert mich an die Bedenken Sartres gegenüber der Psychologie. Über die Phänomenologie der Emotionen sagte er, dass Emotion, »als physisches Körperphänomen nicht existiert [...], da ein Körper ja nicht erregt sein kann, weil er seiner eigenen Manifestationen keinen Sinn zu verleihen vermag«.11 In menschlichem Gewebe wird keine Bedeutung zu finden sein, wie intensiv auch nach den biologischen Wurzeln des Geistes gesucht wird. Bedeutung muss immer geschaffen werden – und dies passiert immer innerhalb eines Kontexts, einer Kultur und einer Gesellschaft. Gehirn und Körper sind selbst Teil der Welt. Sie sind selbst Teil der Geschichte. Gerade die Plastizität von Gehirn und Körper, die Anpassungsfähigkeit in Bezug auf kulturelle Formationsprozesse, sind eine essenzielle Grundlage für die Emotionsgeschichte, denn andernfalls bliebe, was das Erleben anbelangt, nur eine dünne Schicht von Veränderungen bei einer ansonsten stabilen Biologie.

Die Emotionsgeschichte greift aber tiefer. Insbesondere Erkenntnisse aus den Forschungen zur Neuroplastizität12, Mikroevolution13 und Epigenetik14 liefern der Geschichtswissenschaft empirische Belege dafür, dass sich das Erleben verändert, und stehen verallgemeinernden Tendenzen einer rigideren Evolutionsbiologie oder einer universalistischen Denkrichtung innerhalb der Affekttheorie entgegen.15 Die Geschichtswissenschaft muss ihre Erkenntnisse über Veränderung nicht unter Verwendung der Begriffe dieser Forschungsbereiche formulieren – dafür gibt es keinen Anlass. Es schadet jedoch auch nicht, die empirische Grundlage für unsere Argumente hinsichtlich der Veränderlichkeit zu würdigen, die diese Wissenschaften liefern. Wenn ich behaupte, dass Gefühle in der Vergangenheit anders waren, als sie es in der Gegenwart sind, und dass wir sie nur durch die Schichten zeitgebundener kultureller »Drehbücher« hindurch verstehen können, so müssen wir darin eine Historisierung des Menschen selbst sehen.

Gefühle entstehen in einer dynamischen Beziehung zwischen Gehirn und Körper einerseits und der Welt andererseits, und als solche werden sie erlebt. Logischerweise geht keiner der beiden Faktoren dem anderen voraus: Während Gehirn und Körper das Spektrum an erfahrbaren Gefühlen funktional begrenzen, wird die Art der Erfahrungen kulturell vorgegeben. Sowohl Individuen als auch Gruppen müssen herausfinden, was sie in bestimmten Situationen fühlen, und wie sie dieses Gefühl im jeweiligen Kontext sinnigerweise ausdrücken können. An dieser Anstrengung (wie unbewusst sie auch sein mag) sind neurologische und physiologische Aktivitäten von Gehirn und Körper beteiligt, sodass die kulturell geprägte Art des Ausdrucks sich auf das Gefühl selbst auswirkt und es verändert. Das ist kurz gesagt das, was William Reddy als emotive – als den dynamischen Prozess von Fühlen und Ausdrücken im kulturellen Kontext – beschreibt.16 Er kombiniert damit gewandt die Idee der soziokulturellen Entstehung von Emotionen mit dem dazugehörenden Ausdruck in Gefühlen. Seitdem er diesen Begriff geprägt hat, hat die soziale Neurowissenschaft Erkenntnisse erlangt, die Reddys Theorie im Wesentlichen bestätigen.17

Um es auf den Punkt zu bringen: Wie wir Emotionen Ausdruck verleihen, in einer Reihe im Wesentlichen kulturell gebundener Aktivitäten oder Praktiken, hängt damit zusammen, wie wir sie erleben.18 Da es völlig außer Frage steht, dass sich die Art, wie Emotionen Ausdruck verliehen wurde, im Lauf der Zeit verändert hat, muss auch das Erleben selbst sich verändert haben. Das Ausdruck-Verleihen beinhaltet die Worte, mit denen wir affektives Erleben beschreiben, die Gestik und Mimik, mit deren Hilfe wir es zeigen, sowie die kulturell bedingten Vorgaben zum Wann und Wie des Ausdrückens. Es wäre eine schreckliche Zeitverschwendung, zu behaupten, dass nur das Gesicht der Emotionen sich verändere, während die Emotionen selbst zeitlos seien. Vielmehr ist es so, dass beides sich gegenseitig beeinflusst und bewirkt – nicht als Kreislauf, sondern dynamisch und wandelbar, je nach Kontext. Diese Dynamiken in der Vergangenheit zu sehen, gibt uns Anlass zur Reflexion: Wer oder was prägt die Parameter meines eigenen Erlebens? Wie fühle ich? Ich werde noch zeigen, dass solcherart Reflexionen super sind, denn Vorschriften bzw. »Regime« in Sachen Emotionen haben nur deshalb ihre Wirkung, weil diejenigen, die sie erschaffen, zugleich versuchen, sie entweder »natürlich« aussehen zu lassen oder aber sie unsichtbar zu machen. Wenn deutlich ist, dass sogenannte »natürliche Ordnungen« tatsächlich künstliche Konstrukte sind, und wenn wir die verborgenen Ecken hell ausleuchten, dann sehen wir, dass die Art, wie Gefühle ausgedrückt werden, kontextabhängig ist, und dass die Menschen die Akteure des Affektwandels sind. Der Mensch mit seinem Gehirn und Körper und seiner Kultur ist also die neue Grenze der Geschichtswissenschaft.

Ich lenke den Blick in diesem Buch zwar auf verschiedene Weltgegenden, aber hauptsächlich geht es um emotionale Begegnungen von Europäern, sowohl innerhalb des Kontinents als auch mit außereuropäischen Gruppen. Es geht um Politik und die Möglichkeiten im Zusammenhang mit affektiven Begegnungen mit Fremden, Freunden und Feinden, aber auch um den ganz persönlichen Umgang mit seinen Gefühlen. Die Themen reichen vom vermeintlich schlichten Zorn Achills bis zum komplexen Phänomen der Glücksempfindung im späten 20. Jahrhundert. Ich zeige, wie Gefühle jeweils Ausdruck fanden, wie sie definiert und erlebt wurden. Selbstverständlich ist es nicht möglich, in einem einzigen Buch jede Facette des Gefühlslebens an jedem Ort der Welt und zu jedem Zeitpunkt zu betrachten. Deshalb habe ich versucht, eine Auswahl zu treffen, die wichtige Epochen und Augenblicke umfasst. Auch wenn es in jedem Kapitel um die Veränderungen in einem kurzen Zeitabschnitt geht, besteht dieses Buch doch in gewisser Weise eher aus Momentaufnahmen, aus Emotionen, die charakteristisch für die jeweilige Zeit und den jeweiligen Ort sind. Stellt man diese Momentaufnahmen aber nebeneinander, dann zeigt sich, wie enorm und umfassend sich die Sprache wie auch das Erleben von Gefühlen verändert haben, und wie sich jeweils der »Trendsetter« verändert hat – von Griechenland zu Rom über das Florenz der Renaissance und die Salons von Paris bis hin zum industriellen und wissenschaftlichen London. Der europäische Fokus mag kritisiert werden – darauf bin ich vorbereitet: Andere mögen sich von mir inspirieren lassen und weitere Zivilisationsräume erforschen.19

Zwei wichtige Punkte sollten zu Beginn erwähnt werden: Erstens nenne ich dieses Buch nicht eine Geschichte der Emotionen, denn dieser Begriff impliziert in Bezug auf Konzeption und Erleben bereits eine Kategorie, und diese hat in der großen Mehrheit der historischen Aufzeichnungen keine relevante Bedeutung. Dies würde nicht nur einem spezifisch anglofonen Kontext das betreffend den Vorzug geben, was affektives Erleben ist, sondern auch die Analyse dahingehend verzerren, was besonders in der Psychologie und Physiologie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts generell unter dem Begriff Emotionen verstanden wird. Manche mögen nichts Falsches darin sehen, den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft auf die Vergangenheit zu projizieren. Das zeugt jedoch von einem falschen Verständnis sowohl von Geschichte als auch von der gegenwärtigen Emotionswissenschaft. Mit Blick auf die Geschichte ist es wichtig, zu verstehen, dass es um das Erleben der Akteure der Vergangenheit geht, so wie sie selbst es verstanden haben. Daraus ergeben sich einige merkwürdige Begegnungen mit dem affektiven Erleben, wie es uns wahrscheinlich nicht vertraut ist. Wir können nicht davon ausgehen, leichter Zugang zu den Erfahrungswelten von Akteuren der Vergangenheit zu finden als zu ihrer Gesellschaft oder ihrem häuslichen oder politischen Umfeld. Verstehen erfordert Arbeit, kontextualisiertes Lesen und Analyse. Manchmal ist die Geschichtswissenschaft gerade dann erfolgreich, wenn sie die Vergangenheit als einen Ort darstellt, in den man sich nicht hineinversetzen kann.

In der Wissenschaft gab es in der jüngeren Vergangenheit einige bedeutende Entwicklungen, die zeigen, inwieweit die mentalen und physiologischen Prozesse, die am emotionalen Erleben beteiligt sind, »Teil dieser Welt« sind. Damit ist gemeint, dass sie selbst die Gegebenheiten schaffen, innerhalb derer sie stattfinden, andererseits aber auch, dass sie ihrerseits von diesen Gegebenheiten erschaffen werden. Es ist ein Unterschied, ob wir in unseren Emotionen innere neurologische Prozesse sehen oder ob wir uns als Opfer von Leidenschaften sehen, von äußeren Einflüssen auf den Zustand unserer Seele. Es handelt sich hier nicht nur um semantische Unterschiede, und es ist auch nicht damit getan, zu behaupten, dass eines dieser Konzepte wahr und das andere offensichtlich falsch sei. Es ist vielmehr so, dass das, von dem wir denken, dass es uns passiert, sich tatsächlich auf uns auswirkt; es hat nicht nur Einfluss darauf, wie wir fühlen, sondern auch darauf, wie wir handeln und wie andere im Verhältnis zu uns handeln. Wie ich bereits aufgezeigt habe, bestätigt die soziale Neurowissenschaft diese Auffassung, die die Emotionsforschung selbst so herrlich ungewiss macht. Jedes Mal, wenn jemand versucht, genau zu definieren, was eine Emotion ist, wird diese dadurch buchstäblich verändert. Die soziale Neurowissenschaft hält es für möglich, dass unterschiedliche kulturelle Framings des affektiven Erlebens Gehirne auf unterschiedliche Weise formen und diese Gehirne wiederum die Welt auf verschiedene Weisen konstruieren. Kurz gesagt: Es gibt eine dynamische Beziehung zwischen Kultur einerseits und Gehirn und Körper andererseits, wobei affektives Erleben sowohl Zutat als auch Produkt ist.

Die Veränderung von Emotionen in Zeit und Raum ist zentraler Bestandteil der menschlichen Veränderung im Lauf der Zeit. Sie ist Teil der biokulturellen Geschichte des Menschen, die einer viel schnelleren Veränderung unterliegt als die Artenvariation in einem engeren evolutionären Sinne. Die Darstellung der biologischen Evolution muss zunehmend die Ergebnisse derer berücksichtigen, die die eindrucksvollen Auswirkungen der mikroevolutionären Veränderung des Menschen aufgrund seiner Einbindung in kulturelle Kontexte erforschen.20 Das sollte keine Überraschung sein. Charles Darwin (1809–1882) selbst hat gezeigt, dass die Evolution durch einen Domestizierungsprozess in Form von Selektion und Kontrolle enorm beschleunigt werden kann. Wenn wir uns die Menschheit als eine solche domestizierte Spezies vorstellen, fällt es vielleicht leichter, die Schnelligkeit und die extreme Vielfalt der Veränderung im affektiven Erleben der Menschen zu verstehen.21

Aufgrund dieser neuen Perspektiven aus der Welt der Biologie wäre es nicht angemessen, den Gefühlswelten von Akteuren aus der Vergangenheit den Begriff »Emotionen« aufzuzwingen. Jede andere Kategorie würde die Analyse in ähnlicher Weise verzerren. Im Titel dieses Buches schlage ich den Begriff »Gefühle« (feelings) vor – nicht etwa, weil er in allen Fällen passen würde; ich gebe damit einfach einem weniger aufgeladenen Begriff den Vorzug, der es mir erlaubt, im Verlauf des Buchs das Gefühlsleben in Bezug auf Semantik, Konzeption und Erleben zu verschiedenen Zeitpunkten und an verschiedenen Orten zu diskutieren. Dies bedeutet häufig, dass ich die jeweiligen historischen Gefühlsbegriffe in der Originalsprache belasse und schwierige Erklärungen einfachen, aber verschleiernden Übersetzungen vorziehe.22 Ich verfolge in diesem Buch auch das Ziel, die Übertragung von historischen Begriffen des affektiven Erlebens in leicht verständliche Gefühlskategorien der Gegenwart zu verbessern. Liebe Leserinnen und Leser, haben Sie keine Angst vor Griechisch und Latein!

Der zweite wichtige Punkt ist, dass ich nicht bzw. nicht immer der »anerkannten« Argumentationsweise folge, was die Veränderung von Gefühlen im Verlauf der Zeit anbelangt – mit der typischen Charakterisierung verschiedener Zeiträume und Orte entsprechend herrschenden emotionalen Standards. In vielen Fällen versuche ich, die Darstellung umzukehren und weise darauf hin, dass der Fokus auf der Elite lag, wohingegen ich mich auf das affektive Erleben derer konzentriere, die im Allgemeinen nicht im Rampenlicht stehen. Ich tue dies weniger aus einer nonkonformistischen Haltung heraus, sondern vielmehr weil ich den Verdacht habe, dass ein Großteil der Literatur über Emotionen tendenziell das betont, was uns mit der Vergangenheit verbindet: Es geht da um Veränderungen im Verlauf der Zeit, die dennoch auf Kontinuitäten hinweisen und die von der Logik der Teleologie getragen werden. Die Frage, wie wir von einem Punkt zum anderen gekommen sind, ist als Ausgangspunkt der Forschung absolut vernünftig. Dabei wird jedoch all das übersehen, was verloren gegangen ist. Für mich liegt gerade in dem Verlorengegangenen das, was Geschichte lebendig werden lässt – vor allem wenn es um Gefühle geht. Um zu untersuchen, was verloren gegangen ist, müssen wir mit den Kräften rechnen, die den Kurs der Menschheitsgeschichte bestimmen.

Ich betrachte Emotionen als kausalen Faktor der Geschichte. Im Allgemeinen neigen Geschichtsabhandlungen – also die Darstellungen der Vergangenheit entsprechend dem, was Historiker aus ihr gemacht haben – dazu, Emotionen als Ergebnis von Ereignissen zu deuten. Sie sind in Form von Freude oder Schock die Folgen der wesentlichen treibenden Kräfte. Ich vertrete hier den Standpunkt, dass das Gefühlsleben von Menschen eine genauso relevante treibende Kraft ist wie andere Faktoren, und dass es nicht von politischen, ökonomischen oder rationalen Dynamiken zu trennen ist. Das Gefühlsleben ist untrennbar mit menschlichen Aktivitäten aller Art verbunden – ohne das begleitende Gefühl gäbe es nie eine Handlung, eine Erfahrung, eine Entscheidung, auch wenn dieses Gefühl als die Verleugnung von Gefühlen dargestellt wird. Auch eine deutliche Rationalität oder eine distanzierte Sachlichkeit ist durch eine affektive Haltung definiert, das Gefühl von Gelassenheit oder Rechtschaffenheit. Sogar das völlig Gefühllose – das Hartherzige, das Brutale – ist nur aufgrund seiner Außergewöhnlichkeit bestimmbar, in einem Kontext, in dem alles andere von Gefühlen überflutet ist.

Um eines so langen Zeitraums Herr zu werden, habe ich eine episodische Herangehensweise gewählt und zeige Gefühle im jeweiligen Kontext. Die wissenschaftliche Literatur zum Thema Emotionen ist für jede der in diesem Buch behandelten Epochen schon umfangreich und komplex. Ich möchte nicht diese Literatur untersuchen, sondern vielmehr für jede Epoche wichtige und einflussreiche Episoden unter die Lupe nehmen, die auf die eine oder andere Art den affektiven Kontext der Zeit charakterisieren. Somit handelt es sich nicht um eine geradlinige, chronologische Darstellung von Veränderungen im Lauf der Zeit. Ich untersuche weder philosophische Denkrichtungen zu Emotionen, noch unternehme ich den Versuch einer zusammenhängenden intellektuellen Geschichte der Emotionen. Die Episoden, die ich ausgewählt habe, ergeben sich nicht unbedingt eine aus der anderen und erscheinen vielleicht sogar unharmonisch oder unzusammenhängend. Jedes Kapitel hat ein vages Oberthema, wobei scheinbare Ähnlichkeiten sich oft in starke Gegensätze auflösen. Es ist gewissermaßen meine Absicht, nicht nur die Unterschiede zwischen der affektiven Vergangenheit und unserer Gegenwart aufzuzeigen: Ich will auch die großen Unterschiede im Verlauf der gesamten Geschichte und von Ort zu Ort herausstellen. Indem ich Gefühle, Leidenschaften und Emotionen in ihrem Kontext zeige, hebe ich hervor, inwiefern das affektive Erleben unserer Vorfahren reich, typisch und im Großen und Ganzen unbeständig und veränderlich war. Ich untersuche jede der Episoden, auf die ich mich konzentriere, systematisch wissenschaftlich und versuche dabei, die winzigen Besonderheiten in der affektiven Sprache und im affektiven Erleben zu entdecken, die andernfalls in weitläufigen Kategorien wie platonisch, stoisch, thomistisch, kartesianisch oder szientifisch untergehen würden.

Teilweise liegt der Fokus auf linguistischen Unterschieden, jedoch soll sich meine Argumentation nicht auf die Semantik beschränken. Wie ich bereits erwähnt habe, wird das Erleben nicht nur durch die Sprache benannt, sondern auch von ihr beeinflusst.23 Der einstige Sprachreichtum in Gefühlsdingen geht oft durch eine Übersetzung verloren. Wenn ich Begriffe weglasse, dann weil ich tote Konzepte für die moderne Leserschaft verständlich machen will. Bevor die Emotionsgeschichte eine Theorie und Methodologie entwickelt hatte, störte sich die Geschichtswissenschaft kaum an dem Verlust, der mit der Übersetzung von menis als »Zorn« oder misericordia als »Mitleid« einhergeht. Man überließ diese Dinge den Philologen, deren Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Es wird überdeutlich werden, dass ich der Meinung bin, dass in diesen Fällen der Verlust schwerer wiegt als die Zweckmäßigkeit der Übersetzung. Ich würde immer eher in die Zeit investieren, den Kontext zu erklären, der einem Wort seine zeitgenössische Bedeutung verleiht, anstatt es dem heutigen Sprachgebraucht anzupassen. Dies bedeutet oft, dass ich die Emotionsbegriffe der Vergangenheit in der Sprache der jeweiligen Zeit belasse. Um ihre Bedeutung verständlich zu machen, ziehe ich weitere Quellen heran, die eine Episode kontextualisieren. In einigen Kapiteln werden visuelle bzw. materielle Quellen – wie Gemälde, Fotos, Holzschnitte, Keramik oder Mosaike – besonders hervorgehoben. Mithilfe eines Bildes kann oft mehr über ein Gefühl gesagt werden; gleichermaßen soll deutlich werden, dass kein völliges Verständnis erreicht werden kann, ohne den Kontext zu verstehen, in dem ein Bild entstanden ist. An anderen Stellen verwende ich bestimmte Aspekte der Biografie einer einzelnen Person und untersuche die dynamischen Beziehungen zwischen privater Korrespondenz und öffentlichem Kontext, um den affektiven Stil einer bestimmten Person zu finden, der typisch für die jeweilige Zeit ist. Publikationen aus Philosophie, Naturwissenschaften, Medizin und Literatur liefern die Einzelteile für die Rekonstruktion des Kontexts der Gefühle.

Letztendlich wird das Ziel der Emotionsgeschichte verfehlt, wenn wir versuchen, alles in die Kategorien von Emotionen zu pressen, von denen wir denken, dass wir sie bereits verstehen. Ich hoffe, dass wir durch das Verfremden der Gefühle der Vergangenheit einen Punkt erreichen können, an dem wir die Einbildung über Bord werfen, dass wir selbst unsere eigenen Emotionsbegriffe bereits verstehen. Wenn wir nicht die Macht und Politik von Sprache und Konventionen in Bezug auf Emotionen reflektieren, riskieren wir, nur vage zu verstehen, wie wir fühlen, – durch das durch andere gebrochene Licht.

Zweifellos wird die Auswahl der Episoden Fragen aufwerfen. Eine allgemeine Antwort gibt es da nicht; die jeweils gewählten Schwerpunkte scheinen entweder besonders einflussreich (nachhaltige Auswirkungen auf Gesellschaft, Politik, Kultur, Bildung für viele Generationen) oder besonders erhellend hinsichtlich der Distanz zwischen den Gefühlen der Vergangenheit und der Gegenwart. Mit vielen der Episoden habe ich mich im Verlauf der letzten zehn Jahre oder länger immer wieder beschäftigt, da sie fesselnd und verführerisch sind und nicht so einfach in emotionale Schubladen gesteckt oder in unserer eigenen Terminologie definiert werden können. Auf sie greife ich unter anderem zurück, um der Theorie universeller menschlicher Emotionen etwas entgegenzusetzen. Dieses Buch ist also keine durchgehende Geschichte. Ich versuche jedoch zu zeigen, dass es vor allem an Übersetzungen liegt, dass wir den Eindruck haben, das Interesse an und die Beschäftigung mit bestimmten Emotionen – zum Beispiel Glück – seien unveränderlich. Außerdem hat die Politik ihren Einfluss: Das Erleben ist auf überwältigende Weise von den Vorschriften und Begrenzungen durch diejenigen beeinflusst, die Macht haben. Menschen drücken ihre Gefühle derart aus, wie es in einem bestimmten Kontext als angemessen gilt, und diese Parameter werden niemals von den Armen, Schwachen, Entrechteten oder denen vorgegeben, die aufgrund von Geschlecht, »Rasse«, Alter oder Behinderung von othering betroffen sind.

Um eine so große Aufgabe in einem derart kleinen Rahmen anzugehen, musste ich die Grenzen meiner eigenen Expertise erweitern. Dies habe ich getan, um einen Punkt in The History of Emotions zu veranschaulichen. Die Methodologie der Emotionsgeschichte lässt sich auf jeden Ort und jeden Zeitpunkt anwenden, hauptsächlich deshalb, weil alle Annahmen über Kategorien des Erlebens bezüglich der Vergangenheit über Bord geworfen werden. Gefühlsleben, -stile und -systeme müssen im Kontext rekonstruiert werden. In diesem Prozess wird die traditionelle Periodisierung infrage gestellt, denn die Kennzeichnung von Kontinuität und Veränderung geht nicht immer mit der Genese der Affekte überein. Nichtsdestoweniger habe ich eine Chronologie beibehalten, die ausreichend vertraut ist. Innerhalb der einzelnen Kapitel versuche ich jedoch, allgemeine Annahmen über die emotional styles der jeweiligen Epoche zu durchbrechen und implizit die Frage zu stellen, wie es zu solchen Annahmen kommt. Es stellt sich heraus, dass es in der Ilias gar nicht um Wut geht; platonischer Ekel entpuppt sich als Verlangen; frühneuzeitlicher Rationalismus wird zur bewussten Bewegung; das »Zeitalter der Empfindsamkeit« ist durch seine Beschäftigung mit der Brutalität oder durch einen Mangel an Gefühl gekennzeichnet; und unser eigenes, höchst emotionales Zeitalter ist durch eine verordnete Unterwürfigkeit charakterisiert. Was die Periodisierung anbelangt, so überlappen sich die einzelnen Kapitel manchmal. Durch diese etwas anders strukturierte Darstellung des affektiven Erlebens im Verlauf der Zeit erhoffe ich mir, dass zukünftige Historiker einen Schritt weiter gehen und eine völlig neue Periodisierung vornehmen, die auf einem neuen Verständnis des Gefühlslebens der Vergangenheit basiert.

Im Sommer 2017 fragte mich Thomas Dixon, der sich als Historiker mit Emotionen, den Naturwissenschaften und der Religion beschäftigt, während eines Abendessens in Helsinki, was meiner Meinung nach der Grund dafür sei, dass die Emotionsgeschichte während der letzten zehn Jahre plötzlich an Fahrt aufgenommen hätte. Wir sinnierten über die öffentliche Darstellung von Trauer und darüber, dass die Wissenschaft unausweichlich von derartigen Gefühlsäußerungen fasziniert ist. Aber keiner von uns beiden war mit einer solchen Erklärung zufrieden, die ohnehin nur die Frage bekräftigte und neue Fragen aufwarf. Nach einiger Überlegung bin ich zu dem vorläufigen Schluss gekommen, dass die Emotionsgeschichte genau deshalb momentan so aktiv ist, weil unser eigenes Gefühlsleben – ob es nun durch uns selbst, durch die Gesellschaft, das kulturelle Setting oder das Gemeinwesen unterschiedlicher Dimensionen gestaltet wurde – an Bedeutung verliert. Im neoliberalen Zeitalter erscheint Emotion als etwas Vages, Leeres oder Rohes. Das soll nicht heißen, dass es gegenwärtig keine extreme Wut und Trauer gäbe – diese Emotionen scheinen unvermeidbar. Vielmehr ist es so, dass ein komplexes und feingliedriges Set von Emotionen sowie eine komplexe Sprache, mithilfe derer wir über diese Emotionen sprechen könnten, durch die Massenkultur ersetzt (oder zumindest geschwächt) wurden. Größe hat den Platz dieser Feingliedrigkeit eingenommen. Ja, es gibt Wut, und extreme Wut, und enorme Wut. Das Gefühlsleben der Vergangenheit erregte in dem Moment das Interesse der Geschichtswissenschaft, als einstige Gefühle als etwas Unvertrautes erkannt wurden.

Wie es bei den meisten Geschichtsstudien der Fall ist, spricht auch das Bedürfnis, die Gefühle der Vergangenheit zu erforschen, Bände über unsere eigenen Zweifel hinsichtlich der Gefühle der Gegenwart. Vielleicht versuchen wir, diese Gefühle wiederzuentdecken oder wiederzugewinnen; oder vielleicht wollen wir einfach etwas über die Kräfte wissen, die begrenzen und/oder kontrollieren, wie wir fühlen. In diesem Sinne unterscheidet sich die Emotionsgeschichte nicht besonders von anderen neuen Zweigen der Geschichtswissenschaft in den letzten fünfzig Jahren. Sie versucht, die Machtinstrumente aufzudecken, um sie zu zerstören.

Ich möchte das politische Ziel dieses Buches nicht überbetonen, aber Emotionen sind politisch, und Emotionshistoriker diskutieren die möglichen Auswirkungen ihrer Arbeit. Insbesondere William Reddy betont unsere Fähigkeit als Historiker (und Anthropologen), »emotionale Regime« entsprechend dem Grad der individuellen Freiheit, was Emotionen anbelangt, zu beurteilen. Mit anderen Worten: Inwieweit kann eine Person selbst aus einer Vielzahl von möglichen »Drehbüchern« auswählen und somit entdecken, was sie fühlt? An anderer Stelle habe ich behauptet, dass sogar ein strenges emotionales Regime einem Individuum den Eindruck – und damit die Realität – geben kann, emotional frei zu sein, und dass eine urteilende Position niemals neutral ist.24 Wenn man jedoch diese Herangehensweise auf den Kopf stellt, gibt es ein Ziel. Die Geschichtswissenschaft sollte in der Lage sein, herauszuarbeiten, in welchem Ausmaß Akteure der Vergangenheit sich der emotionalen Begrenzungen ihres Erlebens bewusst waren. Sich Restriktionen bewusst zu sein – sich bewusst zu sein, dass das Natürliche tatsächlich kulturell und politisch ist und das Unsichtbare gesehen werden kann –, selbst wenn diese Restriktionen keine schlechten sind, bedeutet, sich der eigenen Unfreiheit bewusst zu sein. In diesem Buch werde ich reihenweise Beispiele von Menschen und Gesellschaften zeigen, die nicht die Macht hatten, innerhalb der affektiven Regime, an die sie gebunden waren, Veränderungen zu bewirken, die sich aber dennoch dieser Gebundenheit bewusst waren. Ihr Leiden wurde durch dieses Wissen verschlimmert; ihr Ringen jedoch erhielt dadurch eine Fokussierung, eine Richtung und trotz des Regimes ein zusätzliches dynamisches affektives Element. Ich gehe nicht davon aus, dass ich ein Instrument zum Erlangen einer emotionalen Freiheit bereitstelle, indem ich über unsere eigenen emotionalen Regime reflektiere (womit dieses Buch abschließt), über das, was uns bindet und beschränkt oder unser Erleben lenkt. Aber die Ketten zu verstehen, ist eine notwendige Voraussetzung, um die Schlösser zu knacken.

Inwieweit wissen wir, ob wir »glücklich« oder »mitfühlend« sind oder »Schmerzen haben«? Die Anführungszeichen kennzeichnen die Kontingenz und Veränderlichkeit. Wie dieses Buch zeigen wird, gibt es in Bezug auf keines dieser Dinge etwas Intrinsisches, Objektives oder Zeitloses. Die Art, wie affektives Verhalten bewertet wird, hängt ebenfalls von historisch spezifischen Konfigurationen ab.

Die Geschichte der Gefühle

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