Читать книгу Die Geschichte der Gefühle - Rob Boddice - Страница 9
Angst und kosmische Dinge
ОглавлениеWährend des zentralen Moments des Zusammentreffens zwischen Achill und Hektor im 22. Buch der Ilias verliert Hektor, obwohl er sich zunächst zu diesem Zweikampf mit Achill durchgerungen hat, die Nerven und läuft, von Angst überwältigt, davon. Achill verfolgt ihn erbarmungslos entlang der Mauern Trojas. Nur durch die Täuschung Athenes, die vorgibt, Hektors Verbündete zu sein und ihn im Kampf gegen Achill zu unterstützen, bleibt Hektor schließlich stehen. Warum läuft Hektor weg, nachdem er sich zuvor zum Kampf entschieden hat? Für diejenigen, die Hektor eine Vorrangstellung unter den epischen Helden zuschreiben, ist dies die schwierigste Stelle. Widerspricht es angesichts seiner Taten während der gesamten Ilias nicht völlig seinem Charakter, zu »zittern« (τρόμος – tromos) und »in Angst zu fliehen« (φοβηθείς – phobetheis)?
Ein wesentlicher Grundsatz der Emotionsgeschichte ist es, dass es nicht ausreicht, auf Veränderungen im Objekt der Emotionen hinzuweisen, da diese Veränderungen auch das Erleben von Emotionen verändern. David Konstan, der bekannteste Emotionshistoriker, was die Antike anbelangt, schreibt Folgendes: »Emotionen sind keine instinktiven und universellen Reaktionen, sondern durch Werte, die für eine bestimmte Gesellschaft spezifisch sind, bedingt, [...] sie sind kognitiv begründet und sozial konstruiert«; sie »hängen im Wesentlichen von Beurteilungen ab«. Laut Sara Ahmed werden solche Beurteilungen vorgenommen, als ob sie natürlich wären.20 Dies passiert so schnell, dass das Erarbeiten des angemessenen Verhaltens nicht von einem bewussten Gefühl begleitet wird. Emotionen werden nicht ausgeführt, sie passieren. Sie passieren jedoch in einem Kontext, und sie gehen mit einem Verständnis dieses Kontexts einher. Um zu verstehen, warum Hektor wegläuft, genügt es nicht, zu sagen, dass er dies tut, »weil er Angst hat« oder »weil er Angst vor Achill hat«. Beide Konstruktionen führen nur zu einer weiteren Frage: Wie kommt es, dass ein so furchtloser Krieger plötzlich zittert?
Um das zu verstehen, müssen wir die relativ geringe Tiefe menschlichen Heldentums in der allgemeinen kosmischen Ordnung verstehen, die Homer entwirft. Um sich Homers Erzählung als eine Art Interpretation der Oberfläche des Heroischen vorzustellen, sehen wir uns Homers Beschreibung einer anderen Oberfläche an: von Achills Schild. Dieser Schild, geschmiedet von dem Gott Hephaistos, wird ihm übergeben, bevor er schließlich wieder in den Krieg eintritt und nachdem er seine menis aufgegeben hat.
Oliver Taplins hilfreichem Ansatz zufolge ist der Schild als Mikrokosmos des Universums gestaltet.21 Er enthält, grob gesagt, die Elemente des Lebens (und diese sind hauptsächlich gut), dargestellt in fünf konzentrisch verlaufenden Streifen. Der Kosmos – Erde, Himmel, Meer, Sonne, Mond und Sterne – befindet sich in der Mitte des Schilds. Im nächsten Streifen werden mithilfe zweier Städte – eine im Frieden, eine im Kriegszustand – zwei Arten von Gerechtigkeit dargestellt (»unmittelbare Gerechtigkeit« und die Gerechtigkeit von Bronze und Blut). An diese Szene schließt sich ein Streifen an, der das Landleben mit den Jahreszeiten und den jeweiligen Aktivitäten darstellt. Im nächsten Streifen ist Tanz zu sehen, und im letzten, breitesten Streifen das Meer. Zum einzigen Mal in der Ilias wird in dieser Schildbeschreibung der Krieg in einem größeren Zusammenhang dargestellt, der das gute Leben, oder zumindest ein gesamtheitliches Leben zeigt.
Aber warum wird dieser Schild, mit diesem Design, Achill gegeben? Als einzige Figur in der Ilias wählt Achill bewusst den Krieg, einen ruhmvollen Tod, anstelle eines langen und friedlichen Lebens. Achills Macht basiert auf seiner Virtuosität als Kämpfer. Sein Daseinszweck ist nur in einer Hälfte eines der Streifen dargestellt, nicht im Zentrum des Schilds. Es ist nicht die Art von Schild, die wir sonst sehen, mit dem Kopf der Gorgo, mit Donnerkeilen und Blitzen. Achills Schild ist vielmehr eine Erinnerung an das Alltägliche: Landwirtschaft, »friedliches« Streiten, die Launen der Natur, Herumtollen. Das Leben wird durch den Himmel und das Meer begrenzt, und die Bandbreite des Erlebens ist eher gering. Die Themen erinnern an Hesiods Werke und Tage (etwa 700 v. Chr.), worin das Alltägliche beschrieben wird: was getan und nicht getan werden sollte, die Jahreszeiten und das Land, vergebliche Streitigkeiten. Die Begrenzungen sind aus der Sicht Hesiods das Meer, das am besten gemieden werden sollte, sowie die immanenten Gottheiten. Da Hesiod die sich wiederholenden Jahreszeiten und den sich wiederholenden Kalender beschreibt, verfügt Werke und Tage im Wesentlichen über eine kreisförmige Struktur. Somit haben der Schild Achills und Werke und Tage strukturell gesehen etwas gemeinsam. Ich denke jedoch, dass die Ähnlichkeit darüber hinaus und noch tiefer geht.
Die scheinbare Oberflächlichkeit sollte also hinterfragt werden. Hesiods Botschaft scheint es zu sein, dass das Alltägliche, auch wenn es an der Oberfläche profan ist, als Wille der Gottheiten dennoch von Bedeutung ist. Das Leben, mit all seiner Kreisförmigkeit und seinen Wiederholungen, ist im Kern göttlich. Achills Schild zeigt ebenfalls, oberflächlich betrachtet, die Alltäglichkeit des Lebens. Der trojanische Krieg fügt sich in ein viel größeres Ganzes ein, in dem er ein bloßes Detail ist, und erscheint klein gegenüber den größeren Kräften. All die Taten der Helden auf dem Schlachtfeld sind nur ein Teil der Armee als Ganzer und letztendlich der größeren Ordnung des Lebens in all seinen Formen. Somit erscheinen die Handlungen unserer Helden unwichtig. Es handelt sich zwar nicht um eine Darstellung einer durchgängig glücklichen Welt, aber insgesamt teilt sie mit Werke und Tage eine alltägliche Perspektive. Die Schlussfolgerung ist in beiden Fällen gleich. Letztendlich wurde der Schild Achills von einem Gott geschmiedet und repräsentiert unter der Oberfläche die Gegenwart des Göttlichen in allen Dingen. Der Wert des Helden, sein Status als Krieger, wird untergraben und der Held durch die breite Perspektive entmannt. Wie groß die Heldentaten in der Schlacht auch sein mögen, wie berühmt (oder berüchtigt) der Held sein mag, sein Ansehen erscheint klein angesichts des Einflusses des Göttlichen sowie der Macht des Meeres und der Sterne. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass dieses profane und doch göttliche Bild an der zentralen Stelle der Ilias geschmiedet wird, wo Achill schließlich seine menis aufgibt und in Trauer und Wut wieder in den Krieg eintritt. Es ist, als würde an dieser Stelle bereits darauf hingewiesen, dass das, was wir hören oder lesen werden, seinen Platz hat. Das Epos als Ganzes wird in einen größeren Zusammenhang eingeordnet. Achill trägt die Würde des Universums vor sich her.
Auch wenn wir wieder von den Heldentaten, die dann dargestellt werden, eingenommen werden, kehren doch die Motive von Frieden und einer Welt, die größer ist als das Schlachtfeld (und als die Menschen), zurück. Wenn sich Achill im 19. Buch für die Schlacht bereit macht, erfahren wir, dass sein Schild »der Ferne den Glanz hinsendete, ähnlich dem Vollmond. / Wie wenn draußen im Meere der Glanz herleuchtet den Schiffern / Vom auflodernden Feuer, das, hoch auf Bergen entflammet, / Brennt in einsamer Hürd, indes mit Gewalt sie der Sturmwind / Fern in des Meeres fischwimmelnde Flut von den Freunden hinwegträgt«.22 Himmel, Erde, Meer. Auf diese Weise wird die Struktur des Schilds prägnant zusammengefasst. Dies geschieht erneut, wenn Achill seinen Helm aufsetzt: Dieser glänzt »gleich dem Gestirne«, das Pferdehaar, das die Erde repräsentiert, »[f]latterte«, um uns an das Meer zu erinnern. Und schließlich, wenn Achill seinen Streitwagen besteigt, »[leuchtet er] im Waffenschmuck wie die strahlende Sonne des Himmels«.23 Im Kontext des Kosmos sind die Dinge, die im Verlauf der abschließenden Bücher der Ilias passieren, tatsächlich unbedeutende Taten.
Laut Stephen Scully erklärt diese deutliche Darstellung der Bedeutungslosigkeit menschlicher Taten die Unfähigkeit von Achills Heer, der Myrmidonen, die Rüstung anzusehen. Achill kann sie mit Vergnügen betrachten, weil er seinen drohenden Tod und die Belanglosigkeit menschlichen Handelns bereits akzeptiert hat. Es muss hierbei berücksichtigt werden, dass Achill ein Halbgott ist. Aus demselben Grund flieht Hektor in dem Moment, als er den Schild sieht. Er hat noch nicht seinen Frieden gemacht mit seiner Sterblichkeit und mit seinem Platz im großen Ganzen. Exakt in dem Moment, wenn Hektor stirbt, wird erneut an die kosmische Ordnung erinnert: Achill ist die Wut selbst, befindet sich aber »hinter der Wölbung seines Schilds«. Auch diese Beschreibung spiegelt die universelle Struktur des Schilds: Der Kamm seines Helms kräuselt sich wie das Meer; das dicke, goldene Pferdehaar symbolisiert das Land; und die Spitze seines Speers glänzt »wie der Abendstern«. »Ein solches Framing des Menschen innerhalb des größeren Kontexts von Erde, Himmel, Sonne, Mond, Sternen und Meer«, so Scully, »rührt von den Olympischen Göttern her und stellt einen distanzierenden Blick auf das Sterbliche dar, den nur Achill in seiner transzendentalen Wut lange ertragen kann.« Da seine »transzendentale Wut« – seine gottgleiche menis – jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits vergangen ist, denke ich, dass Achill dies deshalb ertragen kann, weil er in der Wut der Trauer sein Schicksal akzeptiert, in der Schlacht zu sterben. Die einzelnen Ringe des Universums als »einheitliches Ganzes« zu sehen, versetzt diejenigen in Schrecken, die nur um ihre eigene Sterblichkeit besorgt sind: »Diese synoptische und unmenschliche Perspektive bricht mit der Vorstellung des besonderen Status des Menschen, indem dieser im Kontext eines größeren Kosmos sowie des Willens Zeus’ verortet wird.« Dies trifft vor allem auf Hektor im Moment der Konfrontation mit Achill zu. Scully spricht von »einem Eindruck einer vergegenwärtigten Gottheit«, einer Vision des Kosmos, die auf ihn niederdrückt, ausgeführt von Achill. Eine solche Szene zu sehen, bedeutet, zu etwas unendlich Kleinem reduziert zu werden. Der Schild ist aber mehr als »gorgonenhaft in seiner Wirkung auf die Menschheit«.24 Er erweckt Ehrfurcht, die spezielle Angst vor dem Göttlichen, die mit einem Gefühl überwältigender Würde einhergeht.
Die Erzählung der Ilias zeigt, dass Taten mehr sagen als Worte – oder vielmehr, dass Worte ohne Taten wirkungslos sind. Jemand, der zwar gut reden, aber weder ein Schwert schwingen noch einen Speer werfen kann, sollte nicht gehört werden. Dennoch vollzieht sich diese Beobachtung in einem Gedicht, dem Medium der Worte par excellence (wahrscheinlich nicht schwertschwingend). Homers Beschreibung des Schilds – die Erinnerung an die Oberflächlichkeit und Teilhaftigkeit von allem, was in der Ilias geschieht – verweist darauf, dass der Dichter Göttlichkeit im Universellen, nicht im Besonderen sieht und dazu fähig ist, sie zu beschreiben. Helden kommen und gehen, genauso wie Ruhm, Angst und Wut. Handlungen existieren in dem Moment, in dem sie ausgeführt werden. Sie machen nur einen Bruchteil des großen Ganzen aus, durch das die Gottheiten dennoch wirken. Ebenso überschreiten Worte Zeit und Raum und umschließen das Gesamte. Die Vision des Dichters ist wahrhaft heroisch, da sie die Dinge in einen Kontext setzt und im Universellen wirkt, ähnlich wie das Göttliche. Sie hat Zugang zum Göttlichen unter der Oberfläche des Ganzen. Achill sagt über den Schild, dass ihn »kein / Sterblicher hätte herstellen können«, dennoch hat der Dichter den Schild hergestellt.25 Die überzeugende Art der Beschreibung verbindet die Dichtung mit dem Göttlichen. Der erzieherische Wert der Ilias, das heroische Beispiel, dem es nachzueifern gilt, wird deshalb immer von dem folgenden Vorbehalt begleitet: Ohne den Dichter hätten wir zu diesen Helden oder zu der beispielhaften, gottgleichen menis Achills gar keinen Zugang. Die Unsterblichkeit von Achill oder Hektor ist gegenüber der Unsterblichkeit des Dichters, der ihre Geschichte erzählt, immer zweitrangig. Worte sind der tatsächliche Held der Ilias, da sie die Macht haben, das Heroische und seine Grenzen aufzuzeigen. Während der Held entweder unter der Macht der Ehrfurcht zusammenbricht oder diese zu empfinden nur in der Gewissheit des Todes fähig ist, ist der Dichter der Einzige, der Einsicht in menis und Ehrfurcht hat, der den Helden überlebt und dem Göttlichen ins Gesicht sieht.