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Kapitel 1

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Eskapismus

John Stableford, Professor für Literatur am Londoner Lazarus College, ließ das Buch auf seinen Schoß sinken und sah aus dem Fenster. Der Zug hatte seine Fahrt verlangsamt und sie passierten jetzt ein kleines unbeleuchtetes Bahnhofsgebäude. Stableford versuchte, den Namen der Station zu erhaschen, doch als sich seine Augen endlich an das Dämmerlicht dort draußen gewöhnt hatten, lag das verlassen wirkende Häuschen samt des kurzen schneebedeckten Bahnsteigs längst hinter ihnen.

»Antrum«, sagte Holmes, als sie plötzlich in einen Tunnel einfuhren. Das künstliche Licht im Abteil ließ das schmale Gesicht seines ihm gegenübersitzenden Freundes merkwürdig fremd und wächsern wirken. »Der Ort, den wir eben passierten«, fuhr Holmes nach einer kurzen Pause fort. »Sie suchten nach dem Stations­namen, nicht wahr?«

Stableford nickte.

»Es ist eine uralte Siedlung, idyllisch am River Lethe gelegen. Die Gegend war einmal für ihre üppigen Mohnfelder bekannt. Bei Sonnenuntergang soll die Landschaft einst förmlich in Flammen gestanden haben.«

Stableford sah Holmes ungläubig an. »Antrum« bedeutete im Lateinischen »Höhle« und war ein Tunnel nicht auch ein unterirdischer Hohlraum? Wenn man Ovid Glauben schenken wollte, lebte Hypnos, der Gott des Schlafes, in einer Höhle, durch die ein Fluss namens Lethe floss und an dessen Eingang Blumen und Kräuter mit einschläfernder Wirkung wuchsen. War es ein Zufall, dass Holmes gerade jetzt diese mythische Landschaft beschworen hatte, oder war Stableford das Opfer seiner klassischen Bildung und der eigenen Müdigkeit geworden und träumte das alles nur?

»Und was geschah dann?«, fragte er etwas unsicher.

»Die Felder wichen einem längst wieder aufgegebenen Militärstützpunkt. Heute liegt das Tal in einem tiefen Dämmerzustand, aus dem es so schnell wohl auch kein Erwachen mehr geben wird.«

Stableford dachte an Harriet und ihre gemeinsame Tochter Charlotte. Wenn alles nach Plan ginge, würde er die beiden am Abend auf Hatton Hall wiedersehen, wo sie, der Einladung von Lord Sampford folgend, das Weihnachtsfest verbringen würden.

Er blickte auf die alte Grabenuhr an seinem Handgelenk. Es war kurz vor halb vier. Dann schloss er die Augen. In ziemlich genau einer Stunde würden sie Tavistock, die erste Etappe auf ihrer heutigen Reise, erreicht haben. Doch wie es von dort weitergehen würde, wusste allein Holmes, der noch am Morgen mit ihrem baldigen Gastgeber telefoniert hatte, da dessen ursprünglicher Plan, die Freunde mit einem Wagen vom Bahnhof abholen zu lassen, aufgrund der winterlichen Wetterverhältnisse unmöglich geworden war.

Stableford hatte schon am Eingang der Waterloo Station, wo sie sich um kurz nach zehn getroffen hatten, von dem Telefonat erfahren und mehrmals versucht, Holmes nach dem Ergebnis dieser Unterredung zu befragen. Doch das aufgeregte Treiben, welches am Morgen vor dem Weihnachtstag in der Halle des Londoner Bahnhofs geherrscht hatte, hatte ein ums andere Mal eine Antwort Holmes’ verhindert.

Als sie schließlich in ihrem Abteil saßen, hatten sie die Frage wohl vergessen. Stablefords neueste Buchveröffentlichung, »Das Rätsel der Inselfestung«, hatte sie auf ein Thema gebracht, das ihre Aufmerksamkeit über Stunden gefesselt halten konnte: das ephemere Wesen des Detektivromans. Und da sie in ihrem Erste-Klasse-Coupé allein waren, konnten sie ungestört darüber diskutieren.

Holmes hatte von Stableford nichts weniger als die Überwindung dieser Flüchtigkeit gefordert. Er nannte seine Geschichten »durchaus kurzweilig« und die Auflösungen der Rätsel »schlüssig«, aber er fragte sich, warum man überhaupt Bücher schrieb, an deren Ende alle im Laufe der Handlung auftretenden Fragen beantworten wurden und die folglich nur von Menschen mit einem sehr schlechten Gedächtnis noch einmal gelesen werden könnten.

Stableford hatte diese »Schwäche« des Genres gut gelaunt eingestanden und sogar für notwendig erklärt, denn er betrachtete den Detektivroman als die kleinstmögliche Form eines Gesellschaftsspiels, bei dem der Autor seine Leser herausforderte. Eine vollständige Auf­lösung und ein festes Regelwerk waren für dieses intellektuelle Kräftemessen viel wichtiger als komplexe Handlungsstränge oder auch voll entwickelte Charaktere.

Holmes hatte dieser Gedanke eingeleuchtet. Er hatte jedoch gefragt, ob gerade die häufig eindimensionalen Protagonisten dem Ruf des Genres nicht schaden würden – eine Befürchtung, die Stableford nicht teilte. Für ihn waren die auf das Katz-und-Maus-Spiel zugeschnittenen Personen tatsächlich nicht viel mehr als Schachfiguren. Und würde sich Holmes wirklich um die Lebensgeschichte eines »Läufers« scheren, wenn es doch eigentlich um den unerwarteten Zug, also die überraschende Auflösung eines logisch unmöglich erscheinenden Rätsels ginge? Holmes hatte dies verneint, allerdings scherzend ergänzt, dass er niemals in dessen Haut stecken wolle.

Ein Wechsel in der Lichtintensität unterbrach Stablefords Versuch, sich die Einzelheiten des Gesprächs weiter in Erinnerung zu rufen. Hatten sie erst jetzt den Tunnel verlassen? Mühsam öffnete er die Augen. Holmes lächelte ihm zu. Sie kannten sich erst seit gut zwei Jahren, aber ihre gemeinsamen Abenteuer hatten sie schnell enge Freunde werden lassen. Stableford war Holmes’ Trauzeuge gewesen und Holmes würde bald Charlottes Taufpate werden.

»Nehmen Sie mir meine Bemerkung noch übel?«

»Welche Bemerkung?«, fragte Stableford erstaunt.

»Nun, Sie sprachen von Schach und logischen Rätseln und ich bezeichnete den Detektivroman daraufhin als ein ideales Vehikel für einen ratioiden Eskapismus.«

»Wie das Lösen eines Kreuzworträtsels?«

»Genau. Ein Kreuzworträtsel mit einem durchgängigen kriminalistischen Thema.«

»So habe ich meine Geschichten nie verstanden. Trotz des Rätsels in ihrem Zentrum sind es für mich Abenteuerromane, die lediglich auf die exotische Bühne verzichten.«

»Also heimische Abenteuerromane?«

»Heimische Abenteuerromane mit festen konventionellen Elementen und einem intellektuellen Kern.«

»Nun, dann liegt hier vielleicht die Chance, das Ephemere zu überwinden und die Lektüre etwas – sagen wir – nachhaltiger zu gestalten, ohne den Kern, also das Rätsel und seine vollständige Lösung, opfern zu müssen.«

»Da bin ich gespannt, Holmes! Solange Sie die Konventionen nicht verletzen, folge ich Ihnen. Detektivromanleser haben nämlich genaue Vorstellungen von dem, was sie erwartet.«

»Gut! Denken Sie etwa an die Abenteuerromane von Rider Haggard oder die Vampirgeschichten von Lytton-Gore! Manche von diesen Büchern enthalten mehr oder weniger versteckte Andeutungen von Utopien oder deren Gegenteil.«

»Dystopien.«

»Wie bitte?«

»Das Gegenteil einer positiven Utopie.«

»Oh, sicher. Wo war ich stehen geblieben?«

»Wenn ich Sie richtig verstehe, wollen Sie, dass ich in die banale Schilderung einer Verbrechensaufklärung eine weitere Bedeutungsebene einfüge, die sie dem Trivialen und Flüchtigen entreißt.«

»Nun, ja! Wenn Sie das so sagen, klingt es albern, aber meinen Sie nicht auch, dass Ihre Geschichten etwas mehr«, Holmes zögerte einen Moment, »Tiefe vertragen könnten?«

»Ehrlich gesagt, nein! Ich will unterhalten und komme dabei ganz gut ohne einen doppelten Boden aus. Wenn Sie auf der Suche nach allegorischen Tiefen und einem mehrfachen Schriftsinn sind, dann lesen Sie die Bibel!«

Holmes gähnte. »Mir geht es nicht um Botschaften, mein lieber Stableford. Ich plädiere lediglich für eine kontrollierte Mehrdeutigkeit, die es vermag, die Handlung zwischen zwei Lesarten in der Schwebe zu halten, um so auch eine zweite Lektüre Ihrer Bücher als reizvoll erscheinen zu lassen.«

»Aber wie, Holmes?«, fragte Stableford amüsiert.

Sein Freund antwortete nicht.

»Holmes?«

»Entschuldigen Sie! Ich war abgelenkt. Dieses gleißende Zwielicht dort draußen ist für die Augen extrem ermüdend. Das Weiß des Schnees scheint sich förmlich gegen die Dämmerung zu wehren. Worüber sprachen wir gerade?«

»Sie forderten Mehrdeutigkeit und ich fragte, wie ich dies bewerkstelligen soll.«

»Nun, Sie sind der Autor! Aber wenn man beispielsweise die Abenteuerromane betrachtet, dann folgen sie doch alle demselben Muster: Eine Gruppe von Helden bricht zu einer Reise auf und verlässt an einem bestimmten Punkt die uns bekannte Welt, um in einer unbekannten Prüfungen zu bestehen. So ist es auch in den beiden Büchern, die ich auf unsere Reise mitgenommen habe. Sowohl in Rider Haggards ›Sie‹ als auch in Lytton-Gores ›Hinter dieser Tür!‹ erfolgt erst ganz am Ende die klassische Rückkehr in unsere Realität. Könnte man die Art dieses ›Übertritts‹ ins Unbe­kannte und zurück auch in Ihrem Genre nicht einfach ein wenig infrage stellen, um die Binnenhandlung interpretationsfähig zu halten? Etwa durch die Option, dass es sich nur um den Traum eines Protagonisten handeln könnte? Das müsste Ihnen als Literaturprofessor doch gefallen! Hat nicht Shakespeare selbst gesagt, dass wir vom gleichen Stoff wie die Träume sind?«

»Prospero hat das gesagt, aber vielleicht können wir uns darauf einigen, dass es ihm Shakespeare in den Mund gelegt hat.« Stableford hielt kurz inne und begann dann:

»Wir sind solch Stoff,

aus dem die Träume sind,

und unser kleines Leben

wird umfasst von Schlaf.«

»Da haben Sie es«, sagte Holmes und gähnte herzhaft. »Lassen Sie Ihre Helden doch im nächsten Buch eine Bahnfahrt machen! An einem bestimmten Punkt schlafen sie ein und erwachen dann in einer leicht surrealen, aber im Großen und Ganzen durchaus noch den Naturgesetzen unterworfenen Welt, um ihr nächstes Abenteuer zu bestehen.«

Stableford blickte auf das Buch in seinem Schoß. Wieder erschienen ihm die Vorgänge während dieser Reise seltsam traumhaft. War es erneut ein bloßer Zufall, dass er gerade jetzt einen fantastischen Roman las, der eben jene von Holmes eingeforderte Ambiguität aufwies, da der Protagonist je nach Lesart träumte oder sich tatsächlich auf dem Weg hinter die Grenzen der kartografisch erfassten Welt befand? Er wollte Holmes davon erzählen, doch der war nun fest eingeschlafen.

Am Fenster zog die scheinbar immer gleiche weiße Schneelandschaft vorbei, die Stableford an unbeschriebene Manuskriptseiten erinnerte, und das goldgeprägte Mandala auf dem Einband seiner Reiselektüre entwickelte ein unheimliches Eigenleben. Es zog ihn magisch an und schien ihn zu magnetisieren. Langsam gewann es an Tiefe und er glaubte zu fallen, während er sich nach und nach in dem runden Ornament verlor.

Der Fall Lazarus

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