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Kapitel 3

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Horrabridge Halt

»Traumhaft, nicht wahr?«, fragte Holmes und wandte sich halb zu Stableford um, der hinter ihm durch den tiefen Schnee stapfte.

»Was meinen Sie?«

»Nun, die funkelnden Sterne zwischen den dramatischen Wolkenformen und die wie Perlmutt schimmernde Landschaft vor uns. Haben Sie sich einmal umgeschaut?«

»Ich vermisse den Mond.«

»Sie sind eben ein Miesepeter. Die schmale Sichel steht übrigens dort drüben. Mir kommt es so vor, als würden wir durch eine weihnachtliche Theaterkulisse oder besser noch durch eine Märchenbuch-Illustration laufen.«

Stableford ignorierte Holmes’ schwärmerische Ausführungen. »Ist es noch weit?«, rief er dem alten Herrn zu, der sich ihnen am Bahnhof von Horrabridge vor über einer Stunde als Dr Lake zu erkennen gegeben hatte.

Er führte die kleine Gruppe von Reisenden an, die zunächst dem Lauf einer kahlen Hecke gefolgt waren und nun im Gänsemarsch ein weißes Feld überquerten.

Wie die ersten Buchstaben der ersten Zeile auf einem ansonsten leeren Blatt Papier, dachte Stableford.

»Ich bin mir nicht sicher«, gab der Mann mit heiserer Stimme zurück. »Früher sah hier alles anders aus und die Plattform lag in einem kleinen Wäldchen in der Nähe eines alten Kreuzweges.«

»Plattform?«, mischte sich die hinter Stableford gehende Dame ein, deren Koffer er trug. Sie hatte sich ihnen als Miss Colefax vorgestellt, war hochgewachsen, um die fünfzig und mit demselben Zug wie Dr Lake von Plymouth angereist. »Dann handelt es sich nicht um einen richtigen Bahnhof mit einem anständig geheizten Wartehäuschen?«

»Leider nein«, gab Dr Lake mit Bedauern in der Stimme zurück. »Es ist eher eine simple Holzkonstruktion, die das Ein- und Aussteigen vereinfacht. So war es zumindest damals und ich wüsste nicht, warum sich daran etwas geändert haben sollte.«

»Das hat es nicht«, bestätigte eine schlanke junge Frau mit langen roten Haaren, die hinter Miss Colefax lief und die Gruppe abschloss. »Zumindest sprach mein Großvater von einer Viehrampe.« Sie trug ihren Koffer selbst und hatte sich ihnen am Bahnhof nicht vorgestellt, aber ihr selbstbewusstes Auftreten legte nahe, dass sie oder ihre Familie in dieser Gegend etwas darstellte.

Was genau das sein mochte, war Stableford in diesem Moment aber vollkommen egal. Seine Schuhe waren durchnässt, seine kofferbepackten Hände taub vor Kälte und außerdem fragte er sich seit geraumer Zeit, ob es richtig gewesen war, einem Wildfremden in diese lebensfeindliche weiße Wüste zu folgen. Holmes hatte ihn inzwischen in Lord Sampfords Plan eigeweiht, aber wusste Penelopes Bruder mehr über Dr Lake als sie? Stableford war jedenfalls aufgefallen, dass der Doktor selbst dann traurig aussah, wenn er sich an einem Lächeln versuchte. Dass er sie in dieser gottverlassenen Gegend zu einer »Plattform« bringen würde, erschien Stableford nach den letzten fünfundvierzig Minuten zumindest ebenso wahrscheinlich wie die Möglichkeit, dass er sich am »Kreuzweg« mit dem Teufel verabredet hatte, um ihm ihre Seelen zu verkaufen.

Stableford hatte gerade damit begonnen, sich diese groteske Szene auszumalen, als hinter einem kleinen Hügel völlig unverhofft ihr Ziel samt einer unter Dampf stehenden Lokomotive mit zwei dunklen Wagons in Sicht kam. Kurze Zeit später standen die fünf Reisenden auf der schneebedeckten Plattform, über die ein eisiger Wind pfiff.

»Es wird aber auch Zeit!«, rief ihnen ein stämmiger Mann zu, der nach ihrer Ankunft der Lok entstiegen war. Er trug einen dunklen Overall und zog seine Mütze vom Kopf, als er die Gruppe erreicht hatte. »Mein Name ist Brand«, sagte er nun deutlich freundlicher. »Ich bin der Lokführer. Bei dieser Kälte müssen wir der alten Milly kräftig einheizen und uns wird langsam die Kohle knapp. Ich möchte Sie also bitten einzusteigen, damit wir sofort abfahren können. Und noch ein gut gemeinter Rat: Nutzen Sie in Ihrem eigenen Interesse den zweiten Wagen! Im ersten riecht es immer noch ziemlich streng, weil wir gestern Morgen die beiden Silvester-Schweine für den Metzger von Gore transportiert haben.«

»Silvester-Schweine?«, fragte Holmes verwundert.

»Oh ja! Sie werden für die Braten zum Jahreswechsel traditionell am 23. Dezember geschlachtet.«

Stableford sah zu, wie die beiden Frauen das erste Abteil des zweiten Wagens bestiegen, und folgte dann Holmes und Dr Lake, die sich zum letzten Abteil aufgemacht hatten. Die Bemerkung der jungen Dame über die Viehrampe ging ihm nicht aus dem Kopf. Ob die Tiere wohl geahnt hatten, welches Schicksal sie am Ende ihrer Reise ereilen würde? Und wie sicher konnten sich Holmes und er sein, die Station von Hatton Hall mit einer Dampflok zu erreichen, die scheinbar aus dem letzten Loch pfiff?

Die drei Männer hatten gerade Platz genommen, als sich der Zug, ohne ein Signal zu geben, ruckartig in Bewegung setzte.

»Kennen Sie Gore?«, fragte Dr Lake, der sich ihnen in Fahrtrichtung gegenübergesetzt hatte, und brachte dabei das Kunststück fertig, mit heruntergezogenen Mundwinkeln zu lächeln. »Wohl kaum«, setzte er schnell hinzu, ohne auf eine Antwort zu warten. »Sonst würden Sie das Tal nicht während der zwölf Nächte besuchen. Ich nehme an, Sie sind Gäste des bekannten Rechtshistorikers Sir Walter Crofts.«

Holmes schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Dann feiern Sie Weihnachten nicht auf Wicked?«

»Wicked?«

»Wicked House.«

»Oh, nein. Wir nutzen lediglich die Schmalspurbahn, um auf diesem Weg nach Hatton Hall zu gelangen.«

»Lord Sampfords Anwesen! Wie geht es dem alten Knaben? William muss doch mittlerweile weit über achtzig sein.«

»Der Sechste Earl of Sampford ist tot«, antwortete Holmes ernst. »Sein Sohn Edward trägt nun den Titel.«

»Edward, ja. Ich erinnere mich an ihn. Ein aufgeweckter Bursche, der mit Harold, Sir Walters älterem Sohn, gut befreundet war. Damals waren sie natürlich noch Kinder. Edward hatte auch eine Schwester, nicht wahr?«

»Penelope.«

»Richtig. Mich würde interessieren, was aus ihr geworden ist. Ein freches Ding! Aber mit dem Herzen am rechten Fleck. Sie ging schon mit zehn Jahren regelmäßig mit ihrem Vater auf die Jagd. Ein bemerkenswertes Mädchen!«

»Und eine bemerkenswerte Frau«, sagte Holmes und lachte. »Ich habe das Glück, ihr Ehemann zu sein.«

»Da bin ich sicher«, bemerkte Dr Lake. »Und Sie beide haben das Glück, noch heute Nacht dieses Tal wieder verlassen zu können. Mir ist das leider nicht vergönnt.«

»Dann feiern Sie mit den Crofts?«

»Ja. Wobei ich mich immer noch frage, weshalb ich eingeladen wurde. Miss Colefax besucht ihre Schwester, die auf Wicked angestellt ist. Und die junge Miss Crofts kehrt heim, um das Fest im Kreis ihrer Familie zu verbringen. Margery ist Sir Walters Enkelin, die Tochter von Harold Crofts.«

»Und in welchem Verhältnis stehen Sie zur Familie?«, fragte Stableford mehr aus Höflichkeit.

»Nun, in keinem! Ich kenne sie natürlich, denn ich habe hier viele Jahre praktiziert. Aber wir standen uns nie nahe und ich war von der Einladung tatsächlich mehr als überrascht. Zumal sie erst vorgestern in der Form eines knapp gehaltenen Telegramms bei mir eintraf.«

»Und Sie haben sich bei diesem Wetter dennoch spontan auf den Weg gemacht?«

»Ja. Ich war neugierig und hatte keine anderen Verpflichtungen.«

Während der Unterhaltung hatte der Doktor immer wieder aus dem Fenster geschaut. Stableford wunderte sich darüber, denn seit der Abfahrt hatte zu ihrer Linken ununterbrochen ein Wäldchen die Schienen gesäumt. Doch jetzt war der Blick auf einmal frei.

»Da, sehen Sie!«, rief Dr Lake. »Dort unten liegt Gore.«

Holmes und Stableford blickten hinaus. Tatsächlich erkannte man inmitten des weißen Tals eine kleine Ortschaft mit vielleicht zwanzig zusammengeduckten Häuschen, die sich allesamt an einen trutzigen frühgotischen Turm zu lehnen schienen, der sicher zur Kirche des Dorfes gehörte. Die Szenerie erinnerte Stableford an Miniatur-Landschaften in Schneekugeln. Nur dass es diesem »Idyll« an Beschaulichkeit mangelte.

»Die Lichter hinter den Fenstern wirken so fahl«, bemerkte Holmes, der wohl etwas Ähnliches fühlte.

»Es sind Petroleumlampen«, antwortete Dr Lake. »Die Elektrifizierung von Gore steht noch aus. Aber ich kann Ihnen versichern, dass dieser Ort in mehr als einer Hinsicht aus der Zeit gefallen ist.«

»Märchenhaft, finden Sie nicht, Stableford?«

»Eher mittelalterlich, wenn Sie mich fragen. Aus der Entfernung wirkt das Dorf auf mich unheimlich und unwirklich zugleich.«

»Sie haben ein gutes Gespür, junger Mann! Genau das ist Gore: unheimlich und unwirklich. Darum bin ich weg. Sie kennen die Geschichte des Fluchs von Gore natürlich.«

»Nein«, antwortete Holmes, während Stableford nur den Kopf schüttelte.

»Dann will ich Sie damit auch nicht belasten. Sie verlassen das Tal ja noch heute. Es gibt also keinen Grund, Ihnen unnötig Angst zu machen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich keine Nacht in Gore verbringen würde. Die Häuser der Crofts, Hesketts und Badleys sind davon selbstverständlich ausgenommen. Es sind glückselige Inseln der Aufklärung in diesem verwunschenen Tal.«

»Und der Weg dorthin?«, fragte Holmes amüsiert.

»Nun, ich genieße ja das Privileg Ihrer Gesellschaft. Und wie sagt man so schön? Zu mehreren ist man sicherer, nicht wahr?«

Da war es wieder, das schiefe Lächeln. Stableford war sich nun vollends sicher, dass dieser Mann ein psychisches Problem hatte – und sich vor etwas fürchtete. Es war keine diffuse Angst, sondern konkrete Furcht vor jemandem oder etwas. Aber was konnte das sein? Sicherlich nicht die Ammenmärchen über die »zwölf Nächte«, die Stableford von seiner deutschen Großmutter kannte. Sie hatte zwar von den »Rauhnächten« gesprochen, aber dasselbe gemeint: Die Zeit »zwischen den Jahren«, in der die Menschen möglichst zu Hause blieben und sich ruhig verhielten. Kein Tisch sollte gerückt, keine Tür zugeschlagen werden, um nicht die Aufmerksamkeit der Geister und Dämonen zu erwecken, die gerade in diesen Nächten vermehrt ihr Unwesen trieben. Und da der Übergang von der Welt der Lebenden zu der der Toten in dieser Zeit einfacher war als sonst, verhing man die Spiegel im Haus, weil sie in den Rauhnächten als ein Tor zur anderen Seite galten.

Aber Dr Lake war allein durch seinen Beruf ein Mann der Wissenschaft. Er mochte etwas verschroben sein, doch Geister und Dämonen waren sicher nicht sein Problem.

»Und ob!«, rief Dr Lake empört. »Untote und Wiedergänger, gelegentlich Nachzehrer und vereinzelt sogar Vampire!«

Stableford war erschrocken aufgefahren. Er war wohl so in Gedanken gewesen, dass er den Fortgang der Unter­haltung zwischen Holmes und dem Doktor verpasst hatte.

»Jetzt hören Sie aber auf!«, sagte sein Freund bestimmt.

»Aufhören? Sie haben mich doch nach dem Fluch von Gore gefragt, mein Herr! Und es steht Ihnen nicht zu, an meinen Worten zu zweifeln. Es gibt seit dem Mittelalter zahlreiche Aufzeichnungen über diese Phäno­mene. Und auch wenn ich nie einem Wiedergänger begegnet bin, so habe ich doch viele verstörende Dinge in diesem Tal mit eigenen Augen gesehen. Sie waren der Grund, weshalb ich meine Praxis hier aufgeben musste.«

Ein ohrenbetäubendes Pfeifen hinderte Holmes an einer Antwort. Für einen Moment saßen die drei Männer wie gelähmt auf ihren Sitzen, dann sprangen sie auf. Da sich der Zug in einer Linkskurve befand, hatte Holmes im Nu das Fenster zu ihrer Linken heruntergeschoben. Sie steckten die Köpfe durch die Öffnung, um einen Blick auf das angenommene Hindernis vor ihnen zu erhaschen.

Was sie sahen, verschlug wohl allen die Sprache. Aus dem dunklen Schatten eines Wäldchens, dessen Rand etwa zwanzig Yards von der Strecke entfernt lag, hatte sich die Silhouette eines Mannes gelöst. Die Scheinwerfer der Lok waren nicht besonders hell, aber hell genug, um der Szene Farbe zu verleihen. Der Mann trug einen roten Anzug, schwarze Stiefel, eine rote Mütze und einen weißen Bart. Er rannte, so gut es ging, durch den fast knietiefen Schnee in Richtung der Schienen. In der rechten Hand hielt er eine rot leuchtende Sturmlaterne und er schien die Absicht zu haben, die Gleise noch vor dem heraneilenden Zug zu überqueren.

»Grundgütiger!«, entfuhr es Holmes.

Dann folgte ein zweites Signal, der Zug wurde abrupt langsamer und kam kurz darauf mit knirschenden Bremsen zum Stehen.

Der Fall Lazarus

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