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Kapitel 4

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Tod einer Legende

»Hat er es geschafft?«, fragte Dr Lake leise. Sein Gesicht war aschfahl und er hatte Mühe, auf seinen Sitz zurückzukehren.

»Millionen von Kindern wäre es zu wünschen«, bemerkte Holmes und setzte sich ebenfalls.

Stableford blieb am offenen Fenster stehen und atmete tief ein und aus. Sein Herz raste und er spürte, wie sich trotz der Kälte Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Es war nicht der mögliche Unfall an sich, der ihm zu schaffen machte. Vielmehr drohte ihn das Surreale der gesamten Situation aus der Fassung zu bringen.

Im nächsten Moment flackerte ein Licht neben der Lok auf und er sah jemanden mit einer Laterne am ersten Wagen entlangeilen. Sie leuchtete allerdings nicht rot und seine Hoffnung auf ein Wunder sank. Der Mann, im Vergleich zum Lokführer deutlich kleiner und fast hager, musste wohl der Heizer sein. Er blieb vor dem Abteil der beiden Damen stehen und öffnete die Tür. Dann konnte man ein dumpfes Stimmengewirr vernehmen und die Tür wurde wieder geschlossen.

»Was ist passiert?«, fragte Stableford überflüssigerweise, als der Mann ihr Abteil erreicht hatte.

»Ein Unglück«, gab der andere lapidar zurück. »Paddy erzählte mir, dass er Dr Willard Lake unter den Reisenden erkannt hat. Er hatte früher hier eine Praxis. Ist er bei Ihnen?«

Stableford blickte sich um. Der Doktor drückte sich gegen die Lehne seines Sitzes, so als ob er sich verstecken wollte. Aber der Mann ließ nicht locker und öffnete die Tür.

»Hallo Doktor! Wir kennen uns, denn Sie haben mich zur Welt gebracht. Heizer Peter Miller, der Sohn von Martha und Jacob Miller.«

»Ich erinnere mich«, antwortete Dr Lake fast tonlos. »Eine Steißgeburt ohne größere Komplikationen. Wie geht es Ihren Eltern?«

»Sie sind alt geworden, aber es geht ihnen gut. Was man nicht von dem Mann sagen kann, der uns vor die Lok gelaufen ist, Sir. Wären Sie wohl so gut, einen Blick auf die Leiche zu werfen? Ich denke, es ist von Vorteil, wenn ein Doktor die Umstände und den Zeitpunkt des Todes gleich an der Unglücksstelle protokolliert.«

»Nun, wenn es sein muss.«

»Ich fürchte, ja, Sir.«

»Würden mich die Herren begleiten?«, fragte Dr Lake.

In seiner Stimme lag etwas Flehendes und so ver­ließen die drei Männer gemeinsam das Abteil und folgten dem Heizer. Im Licht der Scheinwerfer blickte Stableford auf seine Uhr. Es war fünf Minuten nach halb acht.

Der Lokführer lehnte am linken vorderen Pufferteller seiner Zugmaschine. Er hatte sich übergeben, wahrscheinlich mehrmals. Als ihn der Heizer ansprach, richtete er sich mit Mühe auf und drehte sich langsam zu ihnen um.

»Ich habe den Weihnachtsmann überfahren«, sagte er heiser und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Aber wo ist die Leiche?«, fragte Holmes.

»Zum größten Teil unter der Lok. Gehen Sie nicht dahin! Es ist kein schöner Anblick.«

Sie mussten also schon an dem Toten – oder an Teilen von ihm – vorbeigelaufen sein. In Stablefords Kopf entstanden grausige Bilder von verstümmelten Leichen und formlosen Massen, die einmal menschliche Körper gewesen waren. Doch als Dr Lake, wohl in einem Anflug von Entschlossenheit, dem Heizer die Laterne aus der Hand nahm und mutig zwischen die Räder leuchtete, war Stableford überrascht. Vielleicht war es eine Laune des Schicksals, aber der auf dem Bauch liegende Leichnam schien weitgehend unversehrt zu sein.

»Können Sie die Lok ein Stück zurücksetzen?«

»Sicher, Doktor!«, antwortete der Lokführer.

Während der Zug kurz darauf langsam rückwärts zu rollen begann, sah sich Stableford um. Da waren die tiefen Fußspuren, die der »Weihnachtsmann« im Schnee hinterlassen hatte. Sie kamen direkt vom Wäldchen und es sah so aus, als ob dort ein schmaler Weg hineinführte. Von da musste der Mann gekommen sein.

Die Bäume ringsherum waren schneebedeckt. Eine Ausnahme bildete lediglich eine Buche auf der anderen Seite des Schienenstranges, etwa auf der Höhe, auf der die Lok jetzt wieder zum Halten gekommen war. Sie stand nur wenige Yards von den Gleisen entfernt. Das schwarze Holz und die kahlen Äste, die sich wie dünne Finger nach ihm auszustrecken schienen und sicher fast bis an das Dach der Zugmaschine heranreichten, wirkten gespenstisch. Dazu kam das flackernde Licht der roten Laterne, die wie durch ein Wunder nicht erloschen war. Sie musste wohl im Moment des Aufpralls über das Gleisbett geschleudert worden sein und lag nun unweit des Baumes im Schnee.

Unwillkürlich musste Stableford an einen funkelnden Rubin oder das Auge eines auf der Lauer liegenden Drachen denken. Er schüttelte sich. Wie kam er auf solche trivial-kitschigen Vergleiche, die er in seinen Detektivromanen stets zu vermeiden suchte? Waren sie dem Einfluss von Holmes’ Kritik geschuldet? Träumte er das alles nur und saß immer noch im Zug nach Tavistock?

Er blickte an sich hinunter und wandte sich um. Die Bemerkung des Doktors, zu mehreren sei man sicherer, hatte für ihn ganz plötzlich ihren albernen Beigeschmack verloren. Und so trat er zu Holmes und Dr Lake, der bereits dabei war, den nun freigelegten Toten zu untersuchen.

»Das linke Bein wurde kurz unter dem Becken abgetrennt und der rechte Arm wird wohl nur noch durch den Ärmel seiner Kostümjacke am Rumpf gehalten. Aber ansonsten ist der Leichnam überraschend gut intakt. Selbst die schwere Wunde am unteren Torso wirkt auf den ersten Blick erstaunlich sauber. Angesichts der anzunehmenden Wucht des Aufpralls ist der Zustand bemerkenswert.«

»Ich kann das, glaube ich, erklären«, sagte der Lokführer, der mit dem Heizer der Untersuchung bis dahin aus einiger Entfernung gefolgt war und jetzt langsam näherkam. »Es gab keinen Aufprall.«

»Aber …«

»Der Mann rannte. Er wollte augenscheinlich die Schienen vor dem Zug überqueren. Ich entdeckte ihn am Rande des Wäldchens und gab ein erstes Warnsignal.«

»Hätte er denn eine Chance gehabt, es zu schaffen?«, wollte Holmes wissen.

»Ich denke schon. Als ich das zweite Signal gab, hatte er das Gleisbett erreicht und ich war mir fast sicher, dass er sich mit einem Sprung retten würde. Aber dann stürzte er, vielleicht über ein im Schnee verstecktes Schwellenende.«

»Und es war zu spät, um zu bremsen?«, fragte Dr Lake.

»Ja. Wir fuhren schon langsam wegen der alten Kurvenschienen und der leichten Steigung, aber an ein rechtzeitiges Anhalten war trotzdem nicht mehr zu denken. Wir haben ihn einfach überrollt.«

»Können Sie den geschilderten Unfallhergang so bestätigen, Mr Miller?«, fragte Stableford den Heizer.

»Ich, Sir? Sie sind wohl noch nie auf einer Lok gefahren, was? Der Lokführer steht links und hat immer die Schienen vor sich im Blick. Der Platz des Heizers ist auf der rechten Seite beim Kohlevorrat. Paddy rief mir zu, dass der Weihnachtsmann auf die Gleise zulaufen würde, aber ich hielt das natürlich für einen Scherz und war zudem damit beschäftigt, die letzten Kohlen für den steilen Anstieg hinter der Station von Graves Manor zu schaufeln. Erst als Paddy das zweite Mal die Dampfpfeife bediente, blickte ich durch das Fenster auf meiner Seite. Allerdings habe ich weniger auf den Mann als vielmehr auf die fliegende Laterne geachtet.«

»Der arme Teufel!«, sagte Holmes. »Wollen wir ihn einmal umdrehen? Vielleicht können Sie oder Ihr Kollege ihn identifizieren.«

Sie drehten den Leichnam auf den Rücken und nahmen ihm den über das Gesicht gerutschten falschen Bart ab.

»Nun?«, fragte Holmes. »Kennt jemand diesen Mann?«

»Es ist Sebastian Heskett«, antwortete Dr Lake.

»Es könnte tatsächlich der Professor sein«, bemerkte der Heizer nachdenklich. »Man sieht ihn selten in Gore und er ist oft monatelang auf Reisen. Aber er könnte es sein.«

Dr Lake beugte sich dicht über das Gesicht des Toten, dessen Augen halb geöffnet waren. Als er sich wieder aufrichtete, war der Doktor kaum wiederzuerkennen. Er zitterte und weinte. Aber diesmal wirklich.

»Nein«, begann er mit tränenerstickter Stimme. »Nein. Nach all den Jahren! Es kann – es darf nicht sein. Ich hätte nicht kommen dürfen. Das Blut! Warum habe ich es nicht …?« Er begann zu wanken.

Holmes, der neben ihm stand, bekam ihn gerade noch zu fassen und ließ ihn behutsam neben dem Gleisbett nieder. »Er ist ohnmächtig«, sagte er ernst. »Hat jemand einen Schluck Brandy oder etwas Ähnliches?«

»Sicher.« Der Heizer verschwand hinter der Lok.

Stableford schaute ratlos auf den Leichnam. Was war das für ein Arzt, der beim Anblick von etwas Blut die Besinnung verlor? Tatsächlich hatte er sich einen Unfall dieser Art um ein Vielfaches blutiger vorgestellt. Oder hatte der Zusammenbruch des Doktors einen anderen Grund?

Der Heizer kehrte mit einer Flasche Whisky zurück und Holmes gelang es, dem Doktor etwas davon einzuflößen.

»Da ist noch etwas«, begann der Lokführer zögerlich, als Dr Lake nach mehreren Schlucken wieder die Augen aufschlug. »Ich glaube, ich habe Schüsse gehört.«

»Schüsse?«, wiederholte Stableford überrascht.

»Ja. Zwei oder drei vor dem Unfall und einen kurz danach.«

»Dann denken Sie, dass er verfolgt wurde?«, mischte sich Holmes ein. »So wie es aussieht, hatte er selbst ja wohl keine Waffe dabei.«

»Machen Sie sich doch nicht lächerlich!« Die Stimme gehörte Miss Crofts, die an der Lok lehnte und im Begriff war, sich eine Zigarette anzuzünden.

Miss Colefax stand ein Stück hinter ihr. Die beiden Damen hatten wahrscheinlich das Warten im dunklen Abteil sattgehabt.

»Es gibt hier keine Ganoven oder gar bewaffnete Gangs, die sich des Nachts durchs Tal hetzen«, fuhr Miss Crofts gereizt fort. »Wahrscheinlich sind es ein paar Wilderer auf Kaninchenjagd gewesen. Die gibt es hier nämlich. Und haben Sie den Toten jetzt nicht lange genug beäugt? Wir haben heute ja wohl alle noch etwas vor, nicht wahr? Es ist schließlich der Weihnachtsabend! Meinen Sie nicht, dass es an der Zeit wäre, weiterzufahren?«

»Das ist leider unmöglich, Miss«, sagte der Lok­führer, während er jeden Augenkontakt mit der Dame vermied. »Bei einem Unfall mit einem Personenschaden dürfen wir den Streckenbetrieb nicht einfach wiederaufnehmen. Wir müssen die Polizei verständigen.«

»Und wo befindet sich die nächste Polizeistation?«, fragte Stableford.

»In Yelverton, Sir. Natürlich gibt es bei diesen Wetter­verhältnissen kein Durchkommen für die Jungs in Uniform, aber uns bleibt trotzdem nichts anderes übrig, als den Zug hier stehen zu lassen, den Unfall telefonisch von Gore aus zu melden und auf weitere Instruktionen zu warten.«

»Dann verlangen Sie von uns, dass wir den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen?« Miss Crofts’ Stimme drohte, sich zu überschlagen.

»Nun, Miss, so sieht es wohl aus.«

»Und was machen wir mit dem Toten?«, fragte Holmes. »Wie wollen Sie den Leichnam vor Tieren schützen?«

»Wir legen ihn in den ersten Wagen, Sir. Mir ist klar, dass das nicht vorschriftsgemäß ist, aber in Anbetracht der Situation haben wir, denke ich, keine andere Wahl.«

In der Ferne waren plötzlich zwei Schüsse zu hören. Miss Crofts hatte wohl recht mit ihrer Vermutung, dass irgendwo in der Gegend Wilderer unterwegs waren.

Bis auf Dr Lake, der auf den Schienen saß und ein ums andere Mal am Whisky nippte, machten sich die Männer sofort ans Werk, sodass die sterblichen Überreste des Verunglückten schnell eine vorübergehende Ruhestätte im ersten Wagen fanden.

»Paddy und ich bleiben hier, bis die Glut in der Feuer­büchse erloschen ist«, sagte der Heizer, als sich kurz darauf alle vor der Lok versammelt hatten.

Sogar der Doktor stand nun wieder, wenn auch noch etwas wackelig.

»Sie können gerne ebenfalls warten und dann mit uns gemeinsam auf den Schienen bis zur Station von Gore zurücklaufen. Der Weg hinunter ins Tal ist dort sicher am leichtesten und mit etwas Glück finden Sie alle Zimmer in unserem Pub, der Knell. Wir haben zu dieser Zeit wenig Gäste im Ort.«

»Das klingt ja nach einem richtigen Mottoabend«, sagte Miss Crofts mit beißender Ironie in der Stimme. »Werden Sie Zeuge eines tödlichen Eisenbahnunfalls und verbringen Sie die anschließende Nacht in der ›Toten­glocke‹ im wunderschönen Örtchen Gore! Ich danke und schlage vor, dass sich Dr Lake mit mir und Miss Colefax zum Herrenhaus durchschlägt. Das ist sicher nicht weiter, aber dafür garantiert komfortabler und weniger morbide.«

»Ausgezeichnet«, sagte der Doktor leise.

Nach allem, was Stableford von dem Mann gehört hatte, gab es für ihn auch keine Alternative zu Miss Crofts’ Angebot.

»Ich würde Sie jedoch bitten, die beiden Herren mitzunehmen«, fuhr Dr Lake nach einer kurzen Pause fort. »Sie sind Freunde von Lord Sampford und auf dem Weg nach Hatton Hall. Es könnte durchaus sein, dass ich unterwegs noch die eine oder andere stützende Hand benötige.«

Und zu mehreren ist man sicherer, setzte Stableford in Gedanken hinzu.

Miss Crofts blickte von Dr Lake zu Miss Colefax. Sie musterte die Dame unverhohlen.

Wahrscheinlich wägt sie ab, ob sie den Doktor allein stützen kann, dachte Stableford.

»Einverstanden«, sagte die junge Frau schließlich und nachdem die beiden Freunde das Gepäck aus den Abteilen geholt hatten, machte sich die kleine Gruppe unter der Führung von Miss Crofts parallel zu den Fußspuren des »Weihnachtsmannes« auf den Weg zum Waldrand.

Der Pfad verlief mäandernd zwischen den Bäumen und führte bald immer steiler hinab. Als sie ihm eine Weile gefolgt waren, hörte Stableford zum ersten Mal die Glocke schlagen. Bam, bam, bam, ertönte es aus dem Tal. Doch bevor er sich bei ihrer Anführerin nach der Bedeutung dieser Beschallung erkundigen konnte, ergriff sie selbst das Wort.

»Es war Professor Heskett, nicht wahr?«, fragte sie ganz unvermittelt über ihre Schulter.

»So scheint es. Kannten Sie ihn?«, wollte Stableford wissen.

»Natürlich. Mein Großvater und er sind zwar seit Jahren verfeindet, aber wir sind Nachbarn und haben zum Rest seiner Familie ein gutes Verhältnis.«

»Spielte er eigentlich traditionell den Weihnachtsmann am Heiligen Abend?«

»Oh nein! Aber er war für jede Überraschung gut. Es würde mich nicht wundern, wenn er auf dem Rückweg von einer seiner Affären war. Trotz seines Alters hatte er einen gewissen Ruf in dieser Hinsicht.«

»Ich verstehe«, sagte Stableford und ließ sich dann so unauffällig wie möglich ein Stück zurückfallen.

Er hatte kein Interesse an den amourösen Abenteuern eines Mannes, den er nicht kannte und nun auch nicht mehr persönlich kennenlernen konnte. Selbst sein fraglos tragischer Tod war aus kriminalistischer Sicht uninteressant. Ein klassischer Unfall. Alle Indizien wiesen in diese Richtung: die Zeugenaussagen des Zugpersonals, die Fußspuren im Schnee, die an den Schienen endeten. Nur die Schüsse, die der Lokführer gehört haben wollte, hatten Stableford für einen Moment irritiert. Doch noch während er damit begonnen hatte, sich den als Weihnachtsmann verkleideten Professor auf einer wilden Flucht vorzustellen, die tragisch endete, weil er den Zug um jeden Preis zwischen sich und seine bewaffneten Verfolger bringen wollte, hatte Miss Crofts die Wilderer ins Spiel gebracht – eine völlig logische Erklärung, die durch die späteren Schüsse, die alle vernommen hatten, unzweifelhaft bestätigt worden war. Professor Hesketts Tod war schockierend, bestürzend, traurig und trostlos, aber er war zum Glück kein neuer Fall für Stableford. Denn der wollte nur noch zu Harriet und Charlotte und hoffte, dass man ihnen auf Wicked einen passierbaren Weg nach Hatton Hall weisen würde.

Es war Holmes, dessen Stimme das monotone Geläut als Nächstes unterbrach. »Ich hätte gedacht, dass Gore viel weiter taleinwärts liegen würde«, stellte er überrascht fest, ohne jemanden im Speziellen anzusprechen.

Auch Stableford hatte jetzt die schwarze Silhouette von Gebäuden entdeckt, die durch die letzten Baumreihen des Wäldchens sichtbar geworden war und sich deutlich gegen die dahinterliegende schneebedeckte Senke abzeichnete.

»Das ist nicht Gore«, erklärte Miss Crofts kühl. »Sie blicken auf die Totenstadt, die übrigens bei Weitem mehr Einwohner zählt als das Dorf, das ihren Zuzug speist. Und falls Sie sich über die massiven Gebäude wundern, die selbst die stattliche Mauer unserer Nekro­pole überragen, so kann ich Ihnen versichern, dass ihre robuste Bauweise nichts mit einer über den Tod hinausgehenden Geltungssucht ihrer ›Bewohner‹ zu tun hat.«

»Sondern?«, fragte Holmes.

»Sie haben tatsächlich noch nie etwas von unserem Fluch gehört? Nun, wenn es Sie interessiert, fragen Sie meinen Großvater! Es ist eines seiner Lieblingsthemen. Doch für jetzt nur das: Die massive Bauweise erklärt sich aus dem Wunsch der Lebenden, die Toten in Schach zu halten. Es handelt sich um kerker­artige Gruften mit teils doppelten Wänden und geheimen Ein- und Ausgängen, die die Wiedergänger und Un­toten bei ihrem Versuch zu entkommen verwirren sollen. Die Familien, die sich derlei aufwändige Maurer­arbeiten nicht leisten konnten, wählten übrigens rustikalere Methoden, über die man heute aber im Allgemeinen nicht mehr spricht. Dr Lake wird sie noch kennen, zumindest hat das mein Großvater einmal angedeutet. Ist es nicht so, Doktor?«

Dr Lake antwortete nicht, aber Stableford vernahm ein leises, fast ersticktes Stöhnen hinter sich.

»Doch genug davon! Wir müssen nur noch der Mauer folgen, ein Stück bergan gehen, den Rudh überqueren, und schon haben wir Wicked House erreicht. Und lassen Sie sich bitte nicht von dem ständigen Läuten verunsichern! Es gibt kein Feuer oder sonst irgend­eine Not. Was Sie da hören, ist das sogenannte Schreckläuten, der Ton gewordene Aberglauben von Hinterwäldlern.«

Stableford hatte als Kind von diesem Brauch in Deutschland gehört und war überrascht, dass er auch in der englischen Provinz vorkam. Aber er hatte kein Interesse an einer längeren Unterhaltung und so gingen sie schweigend weiter. Erst auf einer kleinen Stein­brücke, die über den River Rudh führte, blieben die fünf Reisenden nebeneinander stehen und sahen ins Tal hinab.

Es ist tatsächlich eine Schneekugellandschaft, die von einer Miniatur-Tischbahn umrundet wird, dachte Stableford müde. Eine traumhaft-unwirkliche Welt, die sie als erste Charaktere einer noch zu schreibenden Geschichte vor nicht einmal zwei Stunden betreten hatten.

Doch was waren sie? Protagonisten? Einige von ihnen vielleicht. Aber sie alle waren Spielfiguren. Figuren im Spiel einer unbekannten Größe, ohne Kenntnis der Regeln und ohne Garantie, heil aus der Sache herauszukommen.

Stableford musste an die Unterhaltung denken, die er mit Holmes im Zug geführt hatte. Sein Freund wollte nie in der Haut solch einer Figur stecken und doch hatte Stableford in diesem Moment das Gefühl, dass sie genau das taten. Sie waren »Läufer«, die Zug um Zug ihrem Schicksal entgegengeführt wurden.

Er blickte in den Himmel hinauf – und musste blinzeln. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Im nächsten Moment übertönte ein gellender Schrei das Glockengeläut.

»Das kam von Wicked House«, sagte Miss Crofts fast flüsternd. »Kommen Sie, schnell!«

Der Fall Lazarus

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