Читать книгу Kleine Helden, große Abenteuer - Robert Habeck - Страница 10
ОглавлениеEs ist lange hell im Sommer in der Stadt. Aber es ist nicht so lange hell, wie Per wach ist. Er muss eigentlich um halb acht ins Bett gehen. Dann darf er noch ein wenig lesen. Um acht oder spätestens halb neun muss er aber das Licht ausmachen. Das ist auch nicht so besonders schlimm, denn abends ist Per immer so hundemüde, dass er meistens schon nach dem Lesen einer halben Buchseite einschläft. Aber heute nicht. Heute hat sich Per in seinem Schlafanzug wieder aus dem Bett geschlichen und sitzt an seinem Schreibtisch. Die Lampe brennt. Per kann nicht schlafen. Die Briefe aus der Vergangenheit lassen ihn nicht los. Er setzt sich im Schlafanzug an seinen Schreibtisch und schreibt dem Mädchen erneut:
„Liebe Ska,
ich verstehe das nicht. Wie kannst du meine Briefe kriegen? Wie kann ich dir schreiben? Kann man Briefe auch durch die Zeit schicken? Du weißt gar nicht, wie es hier ist, oder?
Autos fahren heute 150 km schnell, einige noch schneller. Und kennst du Telefone? Wir haben so kleine tragbare Telefone, die Handys heißen. Und es gibt Computer. Die sind kleiner als Fernseher, aber größer als …“
Da fällt Per plötzlich ein, dass Ska wohl auch keine Fernseher kennt. Woher auch, wenn ihre Briefe fast neunzig Jahre alt sind. Er streicht das Wort also durch und schreibt stattdessen: „Ein Computer ist so groß wie eine Schultasche.“
Und dann will er alles schreiben, was es heute noch gibt: Tabletcomputer, YouTube, elektrische Herde, Mikrowellen und Essen in Plastik, das vorgekocht ist und das man in der Mikrowelle nur warm machen muss – aber was eine Mikrowelle und Plastik ist, das wird Ska auch nicht wissen.
Per denkt an seine Uroma. Sie hat auch keine Mikrowelle. Bei ihr gibt es immer Kartoffeln und Gemüse, Braten und Fisch, niemals Pizza oder Spaghetti oder Pommes. Seine Urgroßmutter weiß auch wenig über die Welt heute. Sie findet, dass Pers Haare zu lang sind und seine Hände zu dreckig und dass er zu viel mit seinem Roller fährt. Das schreibt Per in seinen Brief.
„Und ein Mensch ist sogar bis zum Mond geflogen“, schreibt er. Das allerdings ist auch schon lange her, und Per versteht es auch nicht richtig. Er denkt an die Briefe aus Afrika und dass er lachen musste, als seine Urgroßmutter einmal mit einer selbstklebenden Briefmarke auf der Zunge durch die Wohnung gelaufen ist.
Er schreibt: „Heute gibt es auch Briefmarken, die man nicht mehr anlecken muss, sondern die selber kleben.“
Und dann fällt ihm etwas auf. Etwas Merkwürdiges.
„Liebe Ska, dein Brief von heute hatte gar keine Briefmarke. Wie ist er denn von Afrika hierhergekommen? Oder wohnst du gar nicht mehr in Afrika?
Viele Grüße Per.“
Per legt den Bleistift nachdenklich auf das Blatt. Er hört, dass seine Mutter ins Badezimmer geht. Und er spürt, dass die Müdigkeit mit dumpfem Pochen an seine Stirn klopft. Er klettert ins Bett und denkt an Afrika, an ein Farmhaus in der glühenden Savanne, an Palmen und wilde Affen. Und darüber schläft er ein.
Als Per am nächsten Tag von der Schule nach Hause kommt, ist er enttäuscht. Noch immer liegt sein Brief genau so da, wie er ihn liegen gelassen hat. Aber was hat er erwartet? Dass ein unsichtbarer Postbote ihn abholt? Ein Roboter oder eine Drohne vielleicht? Er geht zum Telefon und schaut, ob seine Uroma angerufen hat. Aber weder blinkt das rote Lämpchen, das Anrufe anzeigt, noch hat jemand auf den Anrufbeantworter gesprochen.
Per isst eine Banane und blickt aus dem Fenster. Eine kleine Frau in einer blauen Strickjacke kommt den Bürgersteig entlang. Die weißen Haare hat sie zu einem Dutt zusammengebunden. Sie blickt hoch und winkt, als sie ihn sieht. Es ist seine Uroma. Und dann sieht Per, dass sie etwas in der Hand hält, mit dem sie winkt: einen Brief.
Per rennt ihr entgegen das Treppenhaus hinab. Und als seine Uroma an der Haustür ist, reißt Per sie vor ihrer Nase auf.
„Oh“, sagt seine Uroma, „sehr zuvorkommend!“
Per muss grinsen. Er liebt seine Uroma für ihre altmodische Sprache.
„Du hast Post“, sagt sie und reicht ihm den Brief.
Per mustert ihn. Skas eigentümliche, schwer lesbare Handschrift auf neuem Papier. Keine Briefmarke.
„Wo hast du ihn her?“, fragt er.
„Er lag auf meinem Küchentisch, als ich vom Einkaufen kam“, sagt seine Uroma.
„Wo kommen diese Briefe nur her?“, will Per wissen.
„Ich weiß es nicht. Aber … wollen wir ihn nicht lesen? Vielleicht verstehen wir es ja dann.“
Sie gehen hoch in die Wohnung, und dann geschieht etwas, was noch nie geschehen ist. Seine Uroma geht nicht in die Küche oder ins Wohnzimmer, sondern in sein Zimmer und setzt sich an seinen Schreibtisch. Per setzt sich auf den Fußboden. Seine Uroma legt den Brief von Ska auf seinen Brief und liest:
„Lieber Per,
Du lebst in einer anderen Welt als ich. Ich lebe nicht mehr in Afrika. Aber dass Menschen aus Afrika nach Deutschland oder aus Deutschland nach Afrika fliegen, das finde ich ganz unglaublich. Meine Reise damals von Afrika zurück nach Deutschland hat viele Wochen gedauert. Weißt Du, es gab ein großes Feuer, das unser Haus und einen großen Teil von unserem Land vernichtet hat. Danach war die Farm bankrott, und wir mussten sie verlassen. Wir hatten nichts mehr, nur noch das Geld für die Reise. Erst sind wir mit einer Kutsche gefahren und dann zu Fuß sehr lange gewandert. Noch heute tun mir die Füße weh, wenn ich daran denke. Und dann waren wir am Hafen, und da lag ein großes Dampfschiff. Jetzt weißt du bestimmt nicht, was ein Dampfschiff ist. Und ich weiß nicht genau, was eine Mikrowelle ist. Jedenfalls weiß ich nicht, wie sie funktioniert. Als wir von Afrika ablegten, da sah ich so lange aufs Land, bis es zu einem kleinen Strich geworden ist. Es war traurig, Afrika zu verlassen. Ich finde es gut, dass ich damals Zeit hatte, traurig zu sein. Deine Welt klingt so schnell. Hast Du Lust, dass wir uns einmal treffen?
Schreibe mir einfach wieder einen Brief. Ich finde ihn dann schon. Ich freue mich, dass wir uns schreiben!
Viele Grüße, Deine Ska.“
Die Urgroßmutter lässt den Brief sinken, und als Per ausruft: „Sie will mich treffen!“, fragt sie ihn: „Und du? Willst du dich mit ihr treffen?“
Aber Per antwortet nicht. Er hat sich schon einen Zettel und einen Bleistift geschnappt und angefangen, an Ska zu schreiben.