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Schreibe mir bald

Per fährt mit seinem Roller durch die Stadt. Von der Wohnung, in der er und seine Mutter leben, zu der Wohnung von seiner Urgroßmutter dauert es eine Viertelstunde, wenn man zu Fuß geht. Aber mit dem Roller schafft Per es in zehn Minuten. Er kennt den Weg. Die erste Hälfte geht er jeden Tag zur Schule. Und die zweite führt direkt an einem Kanal entlang. Per trägt einen Rucksack auf dem Rücken, darin ist der Karton mit dem Album und den Briefmarken.

Gestern hat er mit seiner Mutter zumindest noch die Jahreszahlen auf den Briefen entziffern können: 1932, 1934 steht dort. Als Per die Zahlen ansah, wurde ihm klar, wie alt die Briefmarken tatsächlich waren. Heute steht ja eine Zwei ganz vorn bei den Jahreszahlen. Die Briefmarken sind aus dem letzten Jahrtausend!

„Ist Uroma schon tausend Jahre alt?“, hat er seine Mutter gefragt, obwohl er eigentlich wusste, dass das nicht sein kann. Seine Mutter lächelte und sagte, dass die Urgroßmutter zweiundneunzig sei.

Nun durchquert er den Park, der zum Kanal führt. Ihm ist es etwas mulmig zumute. Es ist lange her, dass er seine Urgroßmutter zu Hause besucht hat. Da hört er jemanden seinen Namen rufen. Er dreht sich um und bremst.


Da sitzt seine Urgroßmutter auf einer Parkbank, das Gesicht zur Sonne gewendet, ein Buch auf dem Schoß.

Per könnte über den Rasen direkt zu ihr fahren, aber er hat Angst, dass seine Urgroßmutter schimpft, wenn er mit den Rädern tiefe Spuren im Gras hinterlässt. Deshalb wählt er den Weg, der weit außen um die Wiese herumführt.

Als er bei ihr ist, reicht er ihr die Hand. „Guten Tag“, sagt er.

Sie drückt sie fest. Dabei sehen sie sich in die Augen.

„Deine Schnürsenkel sind auf“, sagt sie und blickt missbilligend auf seine Turnschuhe.

Wie man es macht, man kann ihr nichts recht machen, denkt Per, als sie sagt: „Ich freue mich, dass du mich mal besuchen kommst.“

Für Per klingt es vorwurfsvoll.

„Oder wolltest du gar nicht zu mir?“, hakt die Urgroßmutter nach.

„Doch. Klar. Schon, meine ich. Ja, also, es ist wegen der Briefe …“, sagt Per.

„Wegen der Briefe?“

„Ja, in dem Karton mit den Briefmarken, da waren auch noch Briefe.“ Per setzt sich, stellt den Roller neben die Bank und nimmt seinen Rucksack ab. Er zieht das Paket hervor.

„Wusstest du das nicht?“, fragt er. Aber er kann die Antwort sehen. Seine Urgroßmutter wiegt das Paket in der Hand hin und her und schaut es verwundert an.

„Mama sagt, die Schrift heißt Safarin, und nur du kannst sie lesen.“

„Sütterlin. Ja, ich konnte sie mal lesen. Weißt du, so habe ich schreiben gelernt. Aber das ist schon so lange her. Ich habe seit vielen Jahren nicht mehr Sütterlin gelesen.“

„Willst du es probieren? Vielleicht stehen da ja spannende Geschichten drin?“, fragt Per.

Die Urgroßmutter blickt ihn an. Sie blickt ihn komisch an, findet Per. Sonst strahlen ihre hellen Augen immer und funkeln, fast wie Katzenaugen sehen sie aus, irgendwie angriffslustig. Aber jetzt sind sie ganz groß. Sie sehen eher wie Kinderaugen aus.

„Ich kann es mal probieren …“, sagt die Urgroßmutter. Dann nimmt sie den obersten Brief und zieht vorsichtig einen Briefbogen aus dem Umschlag. Sie setzt ihre Brille auf und hält ihn aus dem Sonnenlicht. Per denkt im ersten Moment, sie macht das, um ihn vor der Strahlung zu schützen. Aber dann sieht er, dass das Papier ganz dünn ist und die Tinte sonst von der Rückseite durchscheint.

„Mein lieber vermisster Freund“, fängt die Urgroßmutter an. Sie setzt ab. Dann liest sie weiter, mit stockender Stimme.

„Ich würde gern mal wieder Regen sehen. Hier ist alles trocken und staubig. Und es ist heiß. Man kann mittags nicht nach draußen gehen. Habt Ihr Schnee in Deutschland? Oder ist es schon Frühling geworden? Gehst Du noch immer an der kleinen Kastanie vorbei, an der wir uns immer getroffen haben? Ich bin hier ganz allein. Eine Farm weiter lebt ein Junge. Aber er ist viel älter und spricht auch kein Deutsch. Mutter gibt mir Unterricht. Aber sie hat wenig Zeit. Immer muss sie nach den Rindern schauen. Und sie muss die Arbeiter anweisen. Wir haben viele auf der Farm.

Und ihre Familien leben auch hier. Mutter hat wirklich viel zu tun. Aber es ist besser, sie kümmert sich um alles, als Vater. Er schimpft ganz viel.“

Die Urgroßmutter dreht die Seite um. Per lauscht ihrer Stimme nach. So weich hat ihre Stimme noch nie geklungen. Sie klingt wie, wie – wie große Augen, findet Per. Wie eine Märchenstimme.

„Ich habe mich auf Afrika gefreut. Ich habe gedacht, das wird ein großes Abenteuer. Aber das ist es nicht geworden.

Es gibt die Sonne, und ich habe auch Giraffen und Nashörner und einen Löwen gesehen.


Den hat Vater geschossen. Das war sehr traurig. Da kommt schon mal ein Löwe zu uns, und Vater erschießt ihn. Aber ich würde lieber wieder zurück. Erzählst Du mir von Dir? Habt Ihr die neue Fibel der Schule? Hast Du die Zinnsoldaten bekommen, die Du Dir gewünscht hast? Und wer ist in die Wohnung neben Euch gezogen?

Bitte schreibe mir bald, Ska.“

Die Urgroßmutter lässt den Brief sinken. Auch Per sagt nicht gleich etwas. Wenn er einen Film sieht und der plötzlich zu Ende ist, dann gibt es so eine komische Sekunde, in der man nicht weiß, ob man noch im Film ist oder vor dem Fernseher sitzt. So fühlt sich Per in diesem Moment. Die Vergangenheit und die Gegenwart stoßen zusammen. Und mitten in dem Aufprallen sitzen Per und seine Uroma und blicken sich an.

„Du kannst das wirklich gut lesen“, sagt Per.

„Ja, man erinnert sich wieder …“, sagt sie.

Aber Per meinte gar nicht die Schrift. Er meinte, dass seine Uroma diese merkwürdige Stimme gehabt hat. Sie war jung und hell. Wenn man die Augen zugemacht hätte, hätte man sich vorstellen können, dass Ska selbst da sitzt.

„Sollen wir noch einen Brief lesen?“, fragt die Uroma.

Per überlegt. Eigentlich würde er schon gern wissen, was in den anderen Briefen steht. Aber dann sagt er etwas, das ihn selbst fast überrascht. „Lieber nicht. Ich komme morgen wieder, und du liest mir dann den nächsten Brief vor, okay?“ Vorhin hatte er noch so gar keine Lust, sich mit seiner Urgroßmutter zu treffen, und jetzt verabredet er sich für morgen schon gleich wieder.

„Okay?“, fragt die Uroma und zieht die Stimme hoch.

„Okay – das sagt man so. Es heißt in Ordnung“, erklärt Per.

Da lächelt seine Urgroßmutter.

„Ich weiß doch, was okay heißt“, sagt sie. „Und ja: Das ist voll okay!“ Sie grinst Per an. Per grinst zurück. Dann hüpft er auf seinen Roller und sagt: „Tschüss, bis morgen!“

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