Читать книгу Kleine Helden, große Abenteuer - Robert Habeck - Страница 11
ОглавлениеPer sitzt an seinem Schreibtisch und schreibt:
„Liebe Ska,
ich möchte dich sehr gerne treffen. Aber wie soll das gehen? Und ich habe immer noch nicht verstanden, wie du meine Briefe lesen kannst und wo deine Briefe herkommen. Wieso schickst du sie an meine Uroma? Ich komme immer um zwei aus der Schule. Dann gucke ich in den Briefkasten.
Viele Grüße Per“
Per legt den Bleistift weg. Er blickt auf und sieht, wie seine Uroma ihn anlächelt.
„Glaubst du, dass es Gespenster gibt? Vielleicht ist Ska tot, und das sind alles Nachrichten aus dem Jenseits“, sagt er.
Seine Uroma lacht nicht. Sie schüttelt entschieden den Kopf. „Nein! Ich habe noch kein Gespenst gesehen. Und ich lebe schon sehr lange auf der Welt. Nein, Gespenster gibt es nicht! Soll ich dir einen Teller mit Apfelspalten machen?“ Per erinnert sich, dass sie früher einmal sehr geschimpft hat, als seine Mutter ihm einen Apfel geschält hat. Damals hat sie streng gesagt, dass in der Schale das Beste des Apfels sei und dass Per doch gesunde Zähne habe und Äpfel ungeschält essen könne.
Aber seit seine Uroma ihm die Briefe vorliest, findet Per sie gar nicht mehr so streng. Im Gegenteil.
„Ska hat gesagt, dass sie nicht mehr in Afrika wohnt. Wo wohnt sie wohl?“, fragt Per.
Seine Uroma zuckt die Schultern und geht in die Küche. Da kommt ihm eine Idee. Er schnappt sich den Stapel alter Briefe und läuft ihr hinterher.
„Vielleicht hilft uns ja die Adresse“, sagt er. Die Adresse hat seine Uroma noch nie vorgelesen. „Was steht da?“
Seine Uroma nimmt den Brief und liest: „Dorotheenstraße 64, hier in der Stadt.“
„Steht da ‚hier in der Stadt‘?“
„Nein, das habe ich gesagt. Die Dorotheenstraße gibt es noch. Wollen wir hingehen?“
„Meinst du, dass Ska da wohnt?“
„Ich weiß es nicht. Lass uns nachsehen. Aber erst musst du deine Hausaufgaben machen.“
Per ärgert sich ein bisschen. Seine Uroma ist wieder ganz die strenge Großmutter. Er nimmt die Apfelstücke mit in sein Zimmer und setzt sich an seine Matheaufgaben. Es dauert länger, als es normalerweise gedauert hätte, weil er immerzu an die Dorotheenstraße 64 denken muss. Endlich ist er fertig. Seine Uroma hat ihre Handtasche über dem Arm und wartet im Flur auf ihn, als er aus seinem Zimmer kommt. Dann gehen sie hinunter auf die Straße und den Kanal entlang.
Die Dorotheenstraße liegt in der Innenstadt. Während sie nebeneinander hergehen, hakt sich seine Uroma plötzlich bei ihm ein.
Per ist es nur einen kurzen Moment peinlich. Immerhin gehen ja Liebespaare so spazieren, und er will nicht wie ein Liebespaar aussehen. Aber dann beginnt seine Uroma zu reden. Und obwohl sie keinen Brief von Ska vorliest, ist ihre Stimme genau so weich und hell, als sie sagt: „Ich kann mich erinnern, dass es hier nur ganz wenige Autos gab und später die Straßenbahnen. Und die Häuser, die gab es früher auch nicht. Dafür waren hier Stege am Kanal, und hinter der Straße waren große Schuppen, in denen Kohle gelagert wurde. Kannst du dir das vorstellen, dass in jeder Wohnung ein Kohleofen stand und man im Keller einen riesigen Kohleberg hatte?“
Per antwortet nicht. Es ist auch nicht nötig. Seine Uroma erzählt schon weiter. Sie gehen vom Kanal ein paar Treppen hoch und müssen an einer Ampel warten, dann biegen sie erneut rechts ab. „Das muss die Dorotheenstraße sein“, sagt die Uroma.
Sie suchen das Straßenschild und sehen: Ja, es ist die Dorotheenstraße. Sie ist breit, links und rechts ragen hohe, neumodische Häuser aus Stahl und Glas auf. Per stellt sich Pferdewagen vor, die Fässer oder Säcke oder Kohle liefern. Die Männer tragen Hüte, die Frauen Kleider, Kutschen rattern übers Kopfsteinpflaster. Vielleicht sind auf dem Dachboden des Hauses 64 ja noch mehr Briefe von Ska? Vielleicht lebt sie ja sogar da. Sie zählen die Hausnummern runter bis zur 68, dann 67, 66, 65, 64 – sie stehen vor dem Haus, an das Ska ihre afrikanischen Briefe adressiert hat. Es ist mit poliertem Marmor verkleidet, hat einen breiten Eingang und viele goldene Schilder an der Türseite. Per liest sie.
Die Hälfte davon sind englische Namen, die andere Hälfte sind Rechtsanwaltskanzleien und Ärzte.
„Sie wohnt nicht hier“, sagt Per und blickt sich um. Nichts in dieser Straße sieht so aus, wie er es sich vorgestellt hat. Alles ist neu. Er kommt sich einen Augenblick lang vor wie seine Uroma, die die Welt nicht mehr versteht. Dann hört er ihre Stimme: „Schau!“
Zwischen den beiden Glastüren mit dem Stahlrahmen, die den Eingang zum Haus 64 bilden, steckt ein Brief. Ein Ska-Brief. Für Per, steht darauf. Er starrt die Schrift an. Seinen Namen kann er jetzt schon auch in der alten Sütterlin-Schrift entziffern. Er zieht den Brief aus Tür und reißt ihn auf:
„Lieber Per,
wir treffen uns morgen Nachmittag im Park am Kanal. Ich habe eine afrikanische Maske. An der kannst Du mich erkennen. Dann werde ich Dir alles erklären.
Bis morgen, Deine Ska.“
„Wie kann sie wissen, dass ich hier bin?“, entfährt es Per.
„Vielleicht beobachtet sie dich“, sagt seine Uroma.
„Wie denn? Sie kennt mich doch gar nicht. Sie weiß nicht, wie ich aussehe!“, ruft er und murmelt dann: „Das ist alles echt merkwürdig. Irgendetwas stimmt hier nicht. Entweder gibt es Ska nämlich gar nicht, oder sie ist schon total alt.“
Seine Uroma antwortet nicht. Stattdessen sagt sie: „Hier war Markt, als ich ein Mädchen war, jeden Tag. Es gab ja keine Supermärkte. Alles, was man essen wollte, musste man sich hier kaufen. Kartoffeln und Hühner und Fisch. Immer dienstags hat hier eine Küche Erbsensuppe verkauft. Und weißt du was? Meine Eltern fanden das furchtbar, weil es neumodisch war. Und hier, hier war ein Buchladen. Und als ich mir ein Buch wünschte, da haben meine Eltern gesagt, ‚Bücher verderben die Jugend‘. Kannst du dir das vorstellen? Sie wollten nicht, dass ich lese, sondern dass ich etwas lerne.“
Per kann sich das nicht vorstellen. Lesen darf er immer. Sogar, wenn er eigentlich schlafen soll. Und Lesen zu lernen, das scheint das Wichtigste in der Schule zu sein.
„Na ja, so ist das heute mit Computern“, sagt er und erschrickt im selben Moment darüber, dass er das so sagt. Denn der Mensch, der Computer mit Abstand am doofsten findet, ist seine Urgroßmutter. Aber nun nickt sie nur. „Ja, da hast du recht. Ich verstehe Computer genau so wenig, wie meine Eltern Bücher verstanden haben.“
„Und Ska …“, wirft Per ein. „weiß nicht mal, was Computer sind!“
„Ja, Ska …“, sagt seine Uroma. Aber sie beendet den Satz nicht.