Читать книгу Ein Weib-ein Narr-ein Mörder - Robert Heymann - Страница 6

2.

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Den zwei jungen Männern, die auf der Erde liegend an der Eisenbahnweiche arbeiten, rinnt trotz der Kälte der Schweiß in kleinen Bächen über das Gesicht.

„Fertig“, sagt der eine keuchend.

Der andere springt auf. In seinem blassen, schmalen Gesicht stehen unruhige und lasterhafte Augen.

Stirn und Nacken sind fahl, die Hände schmal trotz des gedrungenen Körpers. „Alles Weitere ist Sache von Marius“, sagt er träge. Er lacht — sein Blick sucht das Bahnwärterhäuschen. Weit draußen vor der kleinen Stadt liegt es. Von dem Häuschen aus erblickt man in weiter Ferne den Bahnhof wie ein Kinderspielzeug. Und doch ist er ein Riese aus Eisen und Beton, der unausgesetzt Rußwellen von sich stößt und mit roten und grünen Augen in die Dunkelheit starrt.

Schnaubend rasen die Expreßzüge vorüber. Donnernd fegen die schweren Lokomotiven über die glänzenden Stahlschienen. Der Weichenwärter tritt langsam aus der Tür des schmucken Häuschens. Der Expreß ist bald fällig.

Da kommt ein Arbeiter vorbei, bittet François Lorient um ein Glas Wasser.

Der nächtliche Himmel ist durchwebt mit grauen Dunstschleiern, die die Sterne verhüllen. Opalfarben liegen irisierende Lichter über dem stählernen Netz der Schienen. Der Weichensteller geht zurück in die kleine Küche. Strohblumen stehen auf dem Tisch. Es ist warm, der Ofen geheizt. Vor einem halben Jahr hat François seine junge Frau aus dem Fischerdörfchen in der Bretagne, aus dem er stammt, hierhergebracht. Sie selbst ist Irländerin. Ihr Vater ist vor vielen Jahren mit seinem Kutter gestrandet und ertrunken, das Kind blieb bei den Bretagne-Fischern.

François Lorient ist aber seit seiner Verheiratung des Lebens nicht mehr recht froh geworden. Das Glück war nur von kurzer Dauer. Bald genug fing Betsey an zu klagen. Sie könne das Dasein nicht länger hier ertragen. Täglich das gleiche Einerlei der grauen Pflicht! Keine Wiesen, keine Kühe, kein Meer — nur Schienen, Schienen, Züge, Weichen! Sie sehnte sich fort. Sie sehnte sich nach dem Bretagne-Dörfchen, wo sie die Schönste war, freilich auch die Koketteste. Die Burschen waren hinter ihr her — diable! Und doch hat sie ihn erwählt: François! — Immerhin: er war Beamter. Sie hat sich das wohl ganz anders vorgestellt: das Wunder der Stadt! Sie hat von schönen Menschen geträumt, von stetem Jubel und dem Glanz des Reichtums, der wie ein Stern über allen Häusern stehen würde. Aber sie fand nur das Bahnwärterhäuschen und dieses phantastische Eisengebilde: den Bahnhof, die Schienen, die donnernden Züge. Ein paar Blumen stehen im Sommer wohl dazwischen, aber Betsey kann sich nicht über Ausnahmen freuen. Und oft ist das ganze Land rauch- und nebelverhangen, dann — erklärt Betsey — ist es eine Totenlandschaft mit zischenden, sich jagenden Gespenstern.

„Mensch, dauert das lange!“ sagt der Mann draußen. Er ist vor ein paar Tagen in der nahen Eisenbahnwerkstatt eingestellt worden. François läßt das Glas mit Wasser volllaufen und geht hinaus. Der Bursche trinkt in langen Zügen. Vielleicht bin ich nicht mehr jung genug für Betsey, denkt François. Man müßte so ein junger Kerl sein wie dieser da. Ohne Sorgen, so in den Tag hinein! Ich habe sie doch noch auf den Knien gewiegt, als sie ein kleines, artiges Mädelchen war.

„Merci“, sagt der Arbeiter, wischt sich mit der Hand den Mund. Kratzt sich hinter dem Ohr.

„Sage mal: Duldest du das — mit deiner Frau?“

François schaut ihn verständnislos an.

„Wieso? Was meinst du?“

„Weißt du nicht, daß sie den ganzen Nachmittag schon in der ‚Arche‘ tanzt?“

François wird rot, als schlügen Flammen über sein Gesicht. „Tanzt? Betsey? In der ‚Arche‘?“

Der Arbeiter zündet sich umständlich eine Zigarette an. „Na also! Das ist doch nicht das erstemal! Überhaupt! — deine Betsey —“ Er schnippt mit Daumen und Mittelfinger.

„Nicht das erstemal?“ stößt François hervor.

Die Geste des Arbeiters macht ihn rasen. „Du Schuft!“ schreit er ihn an. „Das lügst du! Das ist nicht wahr! Betsey ist bei ihrer Freundin in der Stadt!“

„So? In der Stadt! Bon! Wir wollen nicht streiten! Schau nach!“

Der Bursche schlendert fort. François steht eine Weile wie erstarrt. Ein Blick auf die Uhr — er hat noch zehn Minuten Zeit. Bis zur „Arche“ sind es, wenn man’s eilig hat, nicht mehr als drei.

Aber das Telefon? Nun hat er den Hilfsarbeiter, der sich die Hand verletzt hat, weggeschickt. Muß der Ersatzmann aber nicht jede Minute eintreffen?

Betsey tanzt in der „Arche“!

Das brennt im Hirn. Das zuckt im Herzen. Wischt alle anderen Gedanken aus. Packt ihn, dreht ihn wie einen Wirbelsturm. Er rennt, was er rennen kann. Braucht nicht einmal drei Minuten. Die Wut trägt ihn.

Betsey!

Und die Leute! Was werden die Leute sagen?

Musik schlägt ihm aus dem Wirtshaus entgegen. Licht strömt aus den Fenstern. Er reißt die Türe auf. Es geht hoch her. Wie die Wellen der See wogen die Paare durcheinander. Die hellen Kleider der Mädchen schimmern wie gleitende Segel. Rauch und Dampf hängt in Wolken an der Decke.

Der Blick des Weichenstellers gleitet zu den Musikanten auf dem Podium. Lachen sie über ihn? Er ist nie mit Betsey zum Tanz gegangen. Jetzt fällt es ihm ein. Sein Beruf hat ihn zu ernst gemacht. Wie sie sich da wiegen, die Mädchen! Mit glühenden Gesichtern! Mit den drallen Hüften, den glänzenden Augen! Sind wie im Rausch!

Die Augen des Beamten weiten sich. Der Atem stockt. Eine heiße Hand preßt ihm die Kehle zu. Vor ihm tanzt Betsey im Arm eines andern. Der Rock fliegt, rosig schimmert das Fleisch durch die Strümpfe. Was? Schmiegt sich ihr Körper nicht wie in Hingabe in die Arme des Fremden? Ihre Brust liegt an seiner Brust. Sie wirft den Kopf zurück. Das kupferrote Haar brennt wie ein Feuerbündel um ihr erhitztes Gesicht. Aschgrau ist François geworden. Wie ein Raubvogel stößt er unter die Paare.

„Genug! Schluß!“ brüllt er den Musikanten zu.

Reißt Betsey aus den Armen ihres Tänzers. Still wird’s. Mit ihren meerblauen Augen schaut Betsey den Mann unsicher an. Da aber bricht Tumult los. Der Fremde lacht und will die Frau nicht von sich lassen. François schlägt mit der Faust nach ihm, zerrt die junge Frau zu sich. Betsey flammt ihn an, zornbebend:

„Hier vor allen Leuten! Führst dich auf wie ein Narr!“

François sieht rote Funken vor den Augen. Er hebt die Hand zum Schlag, aber die Umstehenden fallen ihm in den Arm. Betsey wünscht sich in den Erdboden. Aber muß sie sich nicht jetzt auf die Seite ihres Mannes stellen? Sie kann seinen Blick nicht ertragen, wischt die Hand ihres Tänzers mit einer Gebärde des Unwillens von der Hüfte.

„Schämst du dich nicht?“ fragt François heiser in seiner Hilflosigkeit. „Ich schäme mich! Ja —“ schreit er in den Saal: „Ich schäme mich, daß meine Frau —“

Jäh bricht er ab. Wie eine weiße Maske hängt sein Gesicht über der Masse. Die Augen starren auf die Uhr. Sein Mund steht weit offen. Er reißt sich herum, rast hinaus.

Hinter ihm her wirbelt Gelächter. Bricht wie durchgeschnitten ab. Betsey hat laut und gellend aufgeschrien. Was hat sie sich denn so? Soll sie doch zu Hause bleiben!

Wie eine Irre steht sie da, stößt sich die geballte Faust zwischen die Zähne. Eisiger Schreck jagt ihr den Atem in die Brust zurück.

Die Kreuzungsweiche!

Sie kennt den Dienst ihres Mannes auf die Minute! Mit den Händen verzweifelt um sich stoßend, drängt sie alle zurück und stürzt François nach in das Dunkel der Nacht.

Der rennt! Pfeilschnell fliegt er dahin, daß das Hämmern der Pulse in seinen Ohren wie Kanonendonner rollt.

Schon bebt die Erde.

Der Expreß!

Mit ratternder, brüllender Geschwindigkeit rast er heran. Aber François hat das Stellwerk erreicht. Mit einem tiefen Aufatmen hat er den Hebel der Weiche schon in der Hand — ein Ruck — ihr Heiligen! Was ist das? Die Weiche funktioniert nicht! Ein Ruck — Himmel hilf! Die Weiche! Ein Verbrechen! Sekunden noch — Sekunden — François rennt weg — dem Zug entgegen —! Da braust er schon heran mit funkelnden Augen —! Mit einem unartikulierten Schrei, der in dem Rattern des Zuges untergeht, schleudert der Weichensteller die Arme herum wie Mühlenflügel — signalisiert — — „Halt! Halt! Halt!“

Der Lokomotivführer starrt auf den Mann. Schon vorbei! Was war das? Da stimmt etwas nicht! Er ist noch verwirrt von dem Zwischenfall, der kaum eine halbe Stunde zurückliegt. Angst steigt auf, Angst läßt den Heizer schlottern. Ruhe jetzt! Blitzschnell den Dampfregulator schließen, den Hebel der Schnellbremse herumwerfen! Schweiß brennt in den Augen. Die Vakuumbremse knirscht. — Die Passagiere werden wie Gepäckstücke durcheinandergeworfen. Dann Stille — unheimliche, totenhafte Stille — wie lange? Niemand weiß — dann ein Pfeifen, Sausen, Heulen, als seien alle Dämonen der Hölle entwichen. Schlag, Krach und Prasseln! Dampf strömt zischend aus brechenden Stahlhälsen, die ihre Öffnungen steil gegen den sternbesäten Himmel stellen. Mammute scheinen in der Nacht aus der Erde zu stampfen, sich übereinander zu werfen in wildem Verwüstungskampf. — Und dann Schreie — Schreie — Menschen stürmen herbei, aus dem Schoß der Nacht gelockt durch die Explosion, den Dampf, das Beben der Erde.

Die Tanzenden stürzen aus der Höhle der „Arche“ mit schreckverzerrten Gesichtern. Eine lautlose schwarze Menschenwoge spült das Entsetzen heran. Sie schlägt zurück, diese lebendige Woge. Augen, erstarrt im Anblick des Grauenvollen, verschleiern sich hinter Tränen. Da stehen einige Wagen frei auf der Strecke. Die Maschine ist über die Böschung gestürzt, mit ihr der Postwagen und ein Wagen Erster Klasse. Der vordere der noch stehenden Wagen ist zusammengeklappt wie ein Pappkarton. Die Fetzen stehen unwirklich und eckig wie Soffitten auf einer Gespensterbühne.

Ein Mann von dreißig Jahren, halbnackt, kriecht aus dem Trümmerhaufen.

Eine Dame mit verstörten, fremden Augen, wachsbleich, reißt den schmalen Körper durch ein zersplittertes Fenster. Silhouetten huschen an den zertrümmerten Ungetümen entlang. Laternen irrlichtern durch die Dunkelheit. Scharfe Rufe brechen durch das Chaos des Jammers und der Vernichtung. Langsam ist das Unglück zu übersehen. Im Innern des Bahnhofs, der zwei, drei Kilometer entfernt liegt und in der Dunkelheit unwirklich weit gerückt erscheint, wird in fiebernder Hast der Hilfszug unter Dampf gebracht. Lokomotiven mit Verbandszeug und Sanitätspersonal rollen heraus. Das Netz der Telegrafendrähte schwingt. Aber noch immer läuft der Film des Grauens.

Menschen stürzen durcheinander, halb wahnsinnig die einen, zu retten die anderen. Beile krachen, Sägen ächzen.

„Liebster! Liebster!“ schreit die Dame aus dem ersten Wagen und ringt verzweifelt die Hände. Sie breitet die Arme nach allen Windrichtungen aus, als suche sie einen Unsichtbaren, hilflos sinken ihre Arme schließlich herab. Man sucht sie von allen Seiten zu beruhigen. Der Pelz, den sie trug, das Kleid, — Fetzen! Irgend jemand hüllt sie in einen Mantel. Ihr Gesicht ist wie eine von Naturgewalt zerrissene Landschaft. Die Augen wie hohlgebrannt, die Stirn wie ein Leichenfeld. Der Mund, grau, stößt unartikulierte Schreie hinaus. Endlich hat man sie in einer Ackerfurche geborgen. Hier wird sie still, die Augen sind nach innen gerichtet, der Mund rötet sich langsam. Ihre zitternden Hände gleiten wie suchend durch den matten Lichtschacht einer elektrischen Lampe. Die ersten Samariter sind da. Einer beschäftigt sich mit der Geretteten. Sie schaut ihn mit fernen, fremden Augen an.

Andere Gerettete scharen sich um sie. Der Mann, der noch vor der jungen Dame unter den Trümmern des Wagens hervorgekrochen war — man hat ihm eine Plandecke umgehängt —, bahnt sich einen Weg. Sein Gesicht ist von Blut entstellt. „Lassen Sie mich die Gerettete des Wagens Erster Klasse sehen!“

Ein Passagier flüstert: „Die beiden sind die einzigen Überlebenden aus dem vordersten Wagen.“

„Wer sind sie?“

Achselzucken.

Der Mann beugt sich über die junge Dame. Er hebt ihr Kinn und schaut ihr in die Augen. Ebenso maskenhaft ist sein Gesicht wie das ihre.

„Fräulein Zairis“, sagt er leise. Und lauter, als ermuntere er sich selbst zum Sprechen: „Roxane! Roxane Zairis!“ Sie hebt mühevoll den Arm, als hebe sie ein unendlich schweres Gewicht, und streift des Mannes Hand von sich. „Die Dame ist Griechin“, sagt der Mann in der Plandecke. „Ich bin Arzt. Mein Name ist — mein Name ist — Dr. Berton.“ Ein zweiter Arzt kommt hinzu. Blendend fließt das Licht seiner Laterne in die Pupillen der Frau.

„Nervenschock“, sagt der Bahnarzt. Er legt die Hände um den Kopf der Geretteten:

„Wie heißen Sie?“

Sie schaut ohne ein Zeichen von Anteilnahme in sein Gesicht.

„Wie Sie heißen, junge Dame? Ihr Name?“

Ihre Brauen fliegen hoch wie flüchtende Schatten. Ihr Mund zieht sich mühevoll suchend zusammen, wie bei Kindern, die ein Wort sprechen wollen und es noch nicht formen können. Mehrmals setzt sie an. Die Augen schauen schmerzhaft. Sie holt stoßweise Atem wie eine Ertrinkende. Ihre Hand geht langsam weit hinaus in die Nacht, bis der Arm wagerecht in der Luft steht. Die andere Hand gleitet schemenhaft über die Stirne.

„Roxane Zairis“, sagt sie endlich.

Der Arzt tastet ihren Kopf ab.

„Keine Verletzung, scheint es. Die Dame wird bald hergestellt sein — und Sie —?“

Er wendet sich an den Mann.

„Dr. Berton, Herr Kollege!“

„Ach! Arzt? Sehr erfreut! Sie gestatten?“

Er hebt Bertons Augenlider. „Ihr Vorname, Herr Kollege?“

„Mein Vorname? — Mein Vorname?“ Berton denkt nach. Dann lacht er gezwungen auf. „Was sagen Sie, Kollege? Fällt mir nicht ein!“

„Guy“, sagt die Griechin.

Berton lacht noch lauter. „Natürlich, Guy! Ich habe wohl ’ne leichte Gehirnerschütterung, Herr Kollege?“

„Momentan nicht feststellbar! Ich hoffe aber, Sie sind nicht gefährlich verletzt!“

Händeschütteln. Keine Zeit! Rufe, Schreie von überall her! Der Arzt eilt weiter, Berton schließt sich ihm an, Hilfe zu leisten. Aber er ist noch benommen, der leitende Arzt übergibt ihn dem Sanitätskommando.

Beamte versuchen inzwischen, während die Rettungsarbeiten fortgesetzt werden, einen Überblick über die Zahl der Geretteten und über die Verluste zu erhalten. Der Hilfszug ist herangekommen, von allen Seiten greifen hilfreiche Hände zu. Neue Ärzte, Sanitätskolonnen mit Tragbahren arbeiten fieberhaft. Züge rasen vorüber, das Leben der nahen Stadt pulst weiter, das Leben des ganzen Landes geht unbeirrt seinen Gang.

*

„Herr Dr. Berton?“ fragt der Polizeibeamte, der vom Hauptbahnhof entsandt wurde, das Notizbuch in der Hand.

„Ja. Aus Marseille.“

„Die Dame?“ Der Beamte weist auf die vollkommen apathisch Dastehende. Sie erinnert an eine Wachsfigur.

„Eine mir bekannte Dame, Fräulein Roxane Zairis aus Athen!“

„Fräulein Zairis. — Danke!“

Die Geretteten werden zu dem Zug geleitet, der sie in den Bahnhof bringt. Ein Teil legt unter Führung eines Beamten den Weg zu Fuß zurück, über Schienenstränge, an blinzelnden Lampen vorüber, aufgeregt, froh, denn der Tod ging an ihnen vorüber. Sie leben.

Dr. Berton hält sich nur kurze Zeit in dem Empfangszimmer des Bahnhofs auf, wo man in der Eile die Geretteten zu stärken sucht. Er redet vergeblich auf Roxane Zairis ein, mit ihm die Fahrt fortzusetzen, nach Marseille zu kommen, sich dort von dem furchtbaren Schrecken zu erholen. Sie schüttelt stumm und eigenwillig den Kopf.

„Ich warte hier!“ sagt sie endlich.

„Aber auf wen denn? Sie haben hier doch niemand, der sich um Sie bekümmert!“

„Ich warte hier!“ beharrt sie.

Schließlich überläßt er sie ihrem Schicksal. Er will mit dem nächsten fälligen Zug nach Marseille weiterreisen. Der kleine Schock ist überwunden. Er hat sein seelisches Gleichgewicht wiedergefunden. Die Frage nach seinen beiden Reisegefährten wird mit Schweigen beantwortet. Sie gelten als verunglückt.

In der Tat: Der Kommissar ist ein Opfer der Katastrophe geworden. Nicht aber Durand. Er war nur besinnungslos. Die Rettungskolonne hat ihn aus den Trümmern des Wagens gehoben. Seine Verletzungen sind aber bedeutend. Man überführt ihn ins Krankenhaus. Hier muß er längere Zeit bleiben. Er läßt ein beruhigendes Telegramm an seine Braut in Marseille absenden.

*

Inzwischen ist eine Fahndungsabteilung unterwegs, die den Weichenwärter zur Stelle bringen soll. Sie findet das Häuschen leer.

Als das Unglück geschehen war, als es Betsey ganz klar wurde, daß das kein böser Traum war, daß auf diese entsetzliche dumpfe Finsternis niemals mehr ein helles Erwachen folgen würde, da war sie zurückgerannt.

Der Tanzsaal war leer. Die Guirlanden schwankten farblos im Zugwind. Niemand war mehr da — Doch da steht plötzlich der Fremde vor ihr, nimmt sie bei den Armen und sagt: „Nun ist es geschehen! Wo willst du jetzt hin?“

Sie antwortet mit einem unartikulierten Schrei. Die Züge ihres fahlen Gesichtes sind völlig haltlos und fallen nach unten. Sie schreit und schreit, als halle der Jammer einer Welt durch ihre Kehle. Der Mann hält ihr den Mund zu.

„Das hat doch nun gar keinen Zweck mehr. Was soll werden?“ Sie gleitet zu Boden, windet sich auf den blanken Bohlen. „Zurück kannst du nicht, oder —?“

Wimmernd schüttelt sie den Kopf.

„Dann komm mit mir!“

Sie fragt nicht wohin, sie folgt ihm wie ein müdes Tier. Sie fragt auch nicht, als sie in einem schmutzigen Zimmer der Vorstadt landen. Sie liegt apathisch auf dem schmutzigen Bett, in einen Abgrund versunken. Sie liegt in einem Grab, aus dem es keine Auferstehung mehr gibt.

Der Mann wartet am Fenster.

Von unten herauf gellt ein Pfiff. Er geht hinab. In der dunklen Straße wartet ein Komplice. Das Hemd offen über der behaarten Brust. Das Licht der Laterne fällt auf blaue Tätowierungen. Er atmet erregt und keuchend.

„Wir haben große Beute gemacht. Viele Opfer, Mensch! Das ist eine böse Sache! Hoffentlich finden sie nicht unsere Spur!“

Der andere verzieht den Mund. „Wann bekomme ich meinen Teil?“

„Ich bringe ihn dir nach Paris!“

„Bon!“

*

Die Fahndungsabteilung hat inzwischen François Lorient gefunden. Unweit des Stellwerks hing er steif und leblos an einem Mauerhaken. — —

*

In dem Empfangszimmer des Bahnhofs sitzen nur noch einige müde Leute und eine elegante Dame. Sie hat alle Hilfeleistungen dankend angenommen. Sie hat scheinbar verständnisvoll alles um sich her beobachtet, aber sie hat in Wirklichkeit nichts begriffen, sie war weltentrückt. Die Schwestern, die unter Anleitung eines Arztes sich immer wieder um die Hilfsbedürftigen bemühen, fragen, ob sie nicht Wünsche hätte wegen ihrer Weiterreise. Sie will unbedingt die Namen der Opfer wissen. Man kennt sie noch nicht alle.

Sie will zu dem verunglückten Zug. Man verweigert ihr die Erlaubnis.

„Hat man nicht einen Unbekannten gefunden? Einen Mann, der keine Papiere hatte? Einen Mann ohne Namen?“

Die Schwester ruft den Arzt. Aber er hat kaum Zeit. Die Fremde ist nicht die einzige, die irre spricht — —

„Ich will also doch nach Marseille“, sagt die junge Dame schließlich und heftet die mandelförmig geschnittenen Augen auf die Schwester.

„Vielleicht können wir depeschieren, Ihre Angehörigen beruhigen?“ erkundigt sich die Schwester.

Die Dame schüttelt den Kopf. Ein Schatten fliegt über ihr Gesicht. Ein matter Goldton liegt darüber.

„Ich habe keine Angehörigen. Ich suche in Marseille einen Bekannten.“

„Sagen Sie uns seinen Namen, die Adresse! Wir müssen ihn doch benachrichtigen!“

Die Dame schüttelt schweigend den Kopf.

„Aber man wird sich sehr ängstigen um Sie!“ beharrt die Schwester.

Ein müdes Lächeln. Die Dame schaut auf, legt die Hand auf den Arm der Samariterin.

„Danke, Schwester!“

„Haben Sie Angehörige verloren — heute?“

„Heute? Nein. Vielleicht. Ja, es ist wohl sicher. Ich bin allein auf dieser Welt. Ganz allein!“

Schließlich fährt sie mit dem nächsten Zug nach Marseille. Dr. Berton hat bereits einen früheren benutzt. —

Es ist Tag geworden, ein strahlender Wintertag. Das Zimmer im Bahnhof, das soviel Kummer, Schmerz und Jammer gesehen hat, ist leer. Züge rasen durch das Land, die Zeitungen bringen bereits in großen Überschriften Einzelheiten der Katastrophe. Die kleinen Tragödien, die sich zwischen den Etappen des schrecklichen Ereignisses abgespielt haben, sind wie Blätter, die der Wind verweht hat. Bald weiß niemand mehr von ihnen. —

Ein Weib-ein Narr-ein Mörder

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