Читать книгу Ein Weib-ein Narr-ein Mörder - Robert Heymann - Страница 7

3.

Оглавление

Tage gingen um. Aus Tagen wurden Wochen, Monate. Das Leben ging seinen Gang wie früher.

Dr. Berton übte wieder seine Praxis aus. Durands Verletzungen hatten sich schwerer erwiesen, als die Ärzte erst angenommen hatten. Seine Braut hatte ihn in dem Krankenhaus besucht, dann war sie nach Marseille zurückgefahren, um einen neuen Termin für die Hochzeit festzusetzen. Die Pariser Sûreté hatte den Urlaub des verdienstvollen Detektivs verlängert. Durand dachte jetzt nur noch an seine Julia, an die Hochzeitsreise, an hundert ergötzliche Dinge, nicht mehr an Roxane Zairis, nicht mehr an seinen Reisegenossen Dr. Berton. Und doch hatte ihn ein seltsames Geschick mit diesen beiden Menschen in abenteuerlicher und tragischer Weise verbunden.

Denn um diese Zeit wurde die Bevölkerung von Marseille durch das geheimnisvolle Verschwinden von zwei Personen in die größte Aufregung versetzt. Zuerst nahm man verschiedene Verbrechen an, die untereinander nicht zusammenhingen. Erst später und im Laufe der polizeilichen Nachforschungen, an denen Durand sich mit zunehmender Hartnäckigkeit beteiligen sollte, stellte sich heraus, daß diese Kriminalfälle eine gemeinsame Quelle hatten. Die erste Bekundung machte die Gattin des Marseiller Arztes Dr. Berton, Moina Berton, am Morgen nach dem geheimnisvollen Verschwinden des Zahlmeisters Cassagnac. Dies ist Frau Dr. Bertons Aussage:

„Herr Cassagnac kam gestern später als gewöhnlich, gegen sieben Uhr abends, in unsere Wohnung und verlangte meinen Gatten zu sprechen. Ich erklärte ihm, Herr Dr. Berton sei von dem Besuch seiner Patienten noch nicht zurückgekehrt. Da ich wußte, daß diese Besuche sich oft bis in die späten Abendstunden ausdehnten, riet ich Herrn Cassagnac, am nächsten Tage wiederzukommen. Er erklärte aber sehr aufgeregt, er habe heftige Schmerzen und wünsche meinen Mann unbedingt noch am gleichen Abend zu konsultieren. Ob ich in der Lage sei, ihm eine Spritze Morphium zu verabreichen. Ich verneinte das.

Als Frau eines vielbeschäftigten Arztes habe ich natürlich öfter meinen Gatten unterstüzt, wenn die Hilfe seiner Assistentin nicht ausreichte und die Zuziehung eines Kollegen unnötig schien. Ich hätte Herrn Cassagnac auch eine Morphiumeinspritzung geben können, aber es war mir bekannt, daß die Vornahme einer subkutanen Injektion einer Frau nicht gestattet ist.

Cassagnac schien das nicht zu verstehen. Er ging, unverständliche Worte vor sich hinmurmelnd, im Vestibül hin und her. Mir war etwas unheimlich zumute, denn dieser Patient machte den Eindruck eines sehr nervösen Menschen, der seine Gedanken nicht in Ordnung hält. Er blieb plötzlich stehen und sah mich mit einem Blick an, der innere Gereiztheit und eine solche Verwirrung ausdrückte, daß ich beschloß, Babette, unser Mädchen in Rufweite zu halten. Immerhin wußte ich, daß der Zahlmeister ein langjähriger Freund meines Mannes war. Dr. Berton schätzte ihn sehr. Ich führte Herrn Cassagnac deshalb in das Wartezimmer, das zu ebener Erde unseres Hauses neben dem Sprechzimmer meines Mannes liegt. Nachdem ich das Licht angedreht und mich vergewissert hatte, daß im Kamin das Feuer brannte, ging ich auf seine Unterhaltung ein. Er erzählte mir, er habe einen Betrag von 20.000 Francs bei sich, Gelder seines Bataillons, die er eigentlich am selben Abend noch in der Bataillonskasse einschließen sollte.

‚Nun, morgen vormittag in aller Frühe wird das Geld ohnehin benötigt‘, beschwichtigte er sich selbst. ‚Schließlich kann niemand von mir verlangen, daß ich die ganze Nacht hindurch diese Schmerzen ertrage.‘

‚Was fehlt Ihnen eigentlich?‘ fragte ich ihn, um das Gespräch von dem Gelde abzulenken, dessen Besitz ihn sichtlich übernervös machte.

‚Wenn ich das wüßte!‘ antwortete er. ‚Die Doktoren sind sich nicht klar darüber! Überhaupt die Ärzte!‘

Er verbreitete sich des längeren über sein Mißtrauen gegen den ärztlichen Stand, was ich ihm ziemlich streng mit dem Bemerken verwies, daß er doch ein Freund meines Mannes sei.

‚Guys Freund bin ich, das ist wahr! Aber die Kunst des Dr. Berton, — das ist wieder ein anderes Kapitel.‘ Er lachte und schien seine Schmerzen vergessen zu haben. Ganz unvermittelt kam er auf gemeinsame Jugenderinnerungen mit meinem Manne zu sprechen. Er erzählte ein Erlebnis mit einem Mädchen, was mich veranlaßte, mich mit einer Entschuldigung zurückzuziehen. Diese Geschichte war kein Gesprächsstoff zwischen einem Mann und der Gattin seines Freundes, sie entsprach auch nicht der Bildung des Herrn Cassagnac, der doch immerhin Offiziersrang hat. Ich habe Herrn Cassagnac nie näher kennengelernt, aber mein Mann hat sich öfter über ihn geäußert und ihn einen Durchgänger genannt, vor dem eine Frau sich in acht nehmen müsse.

Unser Kleines schlief bereits. Ich setzte mich allein zu Tisch in das Eßzimmer, überzeugt, es werde noch mindestens eine Stunde dauern, ehe mein Gatte zurückkäme. Aber es vergingen zwei Stunden, er war noch immer nicht da. Ich begab mich nun in das Wohnzimmer, das dem Wartezimmer gegenüberliegt, nahm ein Buch vor und las. Plötzlich überfiel mich wieder eine unerklärliche Angst. Ich klingelte, und Babette erschien.

‚Bleiben Sie immer in der Nähe‘, sagte ich zu ihr. ‚Es ist mir unheimlich, zu so später Abendstunde einen Fremden im Hause zu wissen!‘

Babette entgegnete, sie begebe sich nur in das Schlafzimmer meines Mannes im ersten Stock, aber sie würde auf jedes Geräusch achten.

Ich war mit dem Mädchen allein, denn unser Diener Jean weilt bei seiner kranken Mutter in der Heimat. Mein Mann hat ihn für mehrere Tage beurlaubt. — Babette machte sich also im oberen Stockwerk zu schaffen. Ich hörte noch, wie sie die Treppe hinaufstieg und dann über mir hin und herging. Plötzlich ist es mir, als nähere sich jemand unserem Hause. Es war ein leichter, leiser Schritt, er verhallte. Ich glaubte, mich getäuscht zu haben, als ich wieder ein Geräusch hörte, diesmal, als schnappe eine große Schere zu. Unser Haus liegt am äußersten Ende des Boulevard de la Madeleine, der Verlängerung der Rue Canebière, also ziemlich abseits des Verkehrs und überdies von der Straße noch durch einen tiefen Vorgarten getrennt. An diesem Abend war ich vielleicht besonders hellhörig. Oder war ich unnatürlich erregt? Ich hatte eigentlich keinen Grund dazu. Der Gedanke, eine große Schere hätte geklappt, ließ mich über mich selbst lächeln. Alle möglichen Ideen schossen gleich einer Fontäne aus meiner Einbildung hoch. Poes Geschichten kamen mir in den Kopf. Unwillkürlich dachte ich an das Herz, das immer in der Bodenspalte klopfte, in der das Opfer eines Mörders lag, das Herz, das nie zur Ruhe kam und den Mörder schließlich entlarvte — sein eigenes Herz, angetrieben und rasend gemacht von seinen Gewissensqualen.

Plötzlich aber kam mir eine neue Idee: Wie?

Wenn man den Draht der Alarmvorrichtung durchschnitten hätte?

Mein Mann hat, da er mich als Arzt oft allein lassen muß, einen Alarmmelder in der Wohnung anbringen lassen. Er hatte schon damals das Bedenken geäußert, ein Berufseinbrecher könnte die Leitungen durchschneiden. Auf meine erschreckte Frage, wie denn das möglich sei, erklärte er mir, daß sich das mit der entsprechenden Sicherung ohne weiteres durch eine Drahtschere bewerkstelligen ließe. Dieses Gespräch fiel mir sofort ein.

Ich erhob mich.

In der nächsten Sekunde schrillte es durch das ganze Haus:

Alarm!

Ich begriff: Der Eindringling hatte die Selenzelle, die in die zweite elektrische Alarmanlage eingebaut war, mit der Blendlaterne belichtet!

Mein Herz setzte aus!

Es befanden sich also Verbrecher im Hause!“

*

Der Kommissar, dem Frau Dr. Berton diese Schilderung gab, benutzte die Pause, die sie noch zitternd in der Erinnerung des ausgestandenen Schreckens machte, um einzugreifen:

„Ihr Gatte hatte also sein Haus doppelt gesichert!“

„Ja. Er lebte in beständiger Sorge um mich!“

„Wurden Sie denn schon früher einmal von Einbrechern heimgesucht?“

„Nein. Aber seit längerer Zeit trieb sich in unserer Umgebung Gesindel umher, das — immerhin so nahe der Hauptverkehrsstraße — früher niemals hier gesehen worden war. Es schien bestimmte Pläne zu verfolgen. Einmal ging ich spät abends vor das Haus, um nach meinem Gatten Ausschau zu halten, da trat ein grobschlächtiger Kerl auf mich zu und beleidigte mich durch unflätige Redensarten. Als ich flüchten wollte, packte er mich am Arm, aber ich schrie laut auf. Unser Diener Jean kam heraus und vertrieb den Verbrecher. Seitdem lebte mein Mann in ständiger Angst, man könnte seine Abwesenheit benutzen, um einzubrechen.“

Der Kommissar nickt. „Die Benutzung des Selen war ein kluger Gedanke des Herrn Dr. Berton. Es hat die Eigenschaft, sowie es belichtet wird, seinen hohen elektrischen Widerstand zu verringern. Die Empfindlichkeit war gut abgestimmt, das Selen hat vielleicht schon auf ein angezündetes Streichholz hin reagiert. Nun, Sie vernahmen — ich kann mir vorstellen, mit welchem Schrecken — den Alarm! Was nun, gnädige Frau?“

„Nach einem Augenblick der Betäubung, in dem ich regungslos verharrte, unfähig mich zu bewegen, riß ich die Tür auf, um bei Herrn Cassagnac Hilfe zu suchen. Kaum aber blicke ich in den dunklen Gang, da steht vor mir eine Gestalt. Ein Mann, von dem ich nicht mehr gesehen habe, als daß er jung und kräftig war und die Mütze tief in die Stirn gezogen hatte. Schon fiel mein Blick auf den vorgehaltenen Revolver des Eindringlings, er zischte mir zu:

‚Rühren Sie sich nicht! Beim ersten Laut sind Sie verloren!‘

Ich war so überrascht, daß ich nicht hätte schreien können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Die Stimme versagte mir. Die Tür in das Wartezimmer stand halb offen. Ich sehe mit Entsetzen in dem Lichtschein der elektrischen Lampen den Schatten eines Menschen auf dem Boden.“

Hier wird Frau Dr. Berton wieder von dem Kommissar unterbrochen: „War auch die Tür in das Ordinationszimmer geöffnet?“

„Das konnte ich nicht sehen, denn dieser Raum befindet sich ja auf der Seite des Wohnzimmers!“

„Darf ich Sie bitten, gnädige Frau, mir die Lage der Räume kurz zu skizzieren?“

„Gern!“

Der Beamte schiebt der eleganten Frau einen Bogen Papier und einen Bleistift zu.

„Alle Räume?“

„Nur die, die im Entresol liegen, gnädige Frau!“

Der Beamte betrachtet sehr aufmerksam die Zeichnung.

„Sie konnten von der Tür des Wohnzimmers aus das Wartezimmer nur angeschnitten sehen, gnädige Frau! Der Mann auf dem Boden muß also ganz nahe der Tür zum Korridor oder zum Eßzimmer gelegen haben!“

„Das mag sein. Ich dachte in jenem Augenblick nur eins: Ein Überfall! — Die Löhnungsgelder! — 20.000 Francs! — Der Zahlmeister Cassagnac! —

Das Bewußtsein, daß sich außer mir ein fremder Mensch in größter Not befand, gab mir die Besinnung und geistige Kraft zurück.

Ich schrie laut und gellend um Hilfe und schlug zu gleicher Zeit instinktiv nach der Waffe des Verbrechers, der den landläufigen Eindruck eines Apachen machte. Er führte seine Drohung, mich niederzuschießen, nicht aus, vielleicht, weil es mir gelungen war, die Waffe beiseite zu stoßen. Aber er versetzte mir einen Schlag ins Gesicht, der mich betäubte. Ich sank in die Knie. Trotzdem glaube ich mit überwachen Sinnen noch beobachtet und gehört zu haben, wie er in das Ordinationszimmer lief und wieder zurückkam. Der wohlbekannte Geruch des Chloroforms umschwebte mich. Ich hörte noch Babette im ersten Stock laut nach der Polizei rufen, dann verlor ich die Besinnung und erwachte erst wieder in den Armen meines Mannes, der alle Mühe hatte, mich ins Leben zurückzurufen. Die Barbaren hatten mich hilflos liegen gelassen, einen Schwamm mit Chloroform auf dem Gesicht. Nur dem glücklichen Zufall, daß der Schwamm durch eine unbewußte Bewegung meines Kopfes bald wieder abgeglitten ist, verdanke ich mein Leben.“ —

Soweit die Bekundung der Frau Moina Berton.

Babette, das Mädchen des Arztes, hatte dieser Schilderung nur einige Worte hinzufügen können, denn sie war nicht vernehmungsfähig. Schon ehe sie ihre Herrin schreien hörte, wollte sie — und dies rein zufällig — die Treppe wieder hinabgehen. Entsetzen faßte sie, als sie unten einen fremden Menschen sieht, der zu ihr emporstarrt. Von Angst geschüttelt stürzt sie in ein Zimmer zurück, unfähig, einen Entschluß zu fassen. Sie ist nicht einmal in der Lage, Frau Dr. Berton zu warnen, die in diesem Augenblick offenbar noch ahnungslos war. Der Verbrecher lauerte aber schon vor ihrer Türe. So vergingen Minuten. Da hörte Babette hinter der Tür des Wohnzimmers im ersten Stock den Hilferuf ihrer Herrin. Sie riß das Fenster auf und schrie nach der Polizei. Als sie den Verbrecher dann nach oben eilen hörte — vielleicht bildete sie sich auch nur ein, den Verfolger auf der Treppe zu hören —, sprang Babette in sinnlosem Entsetzen aus dem Fenster und blieb besinnungslos in der dunklen Seitenstraße liegen.

Ihre Verletzungen sind so schwer, daß man an ihrem Aufkommen zweifeln muß. — —

Die Polizei hat inzwischen ihren ersten flüchtigen Pressebericht herausgegeben. Sie vermutet in den Einbrechern Mitglieder einer Apachenbande, die schon seit Monaten von sich reden macht. Sie waren durch ein Fenster des Ordinationszimmers, dessen Scheiben sie geschickt eingedrückt hatten, in das Haus Dr. Bertons gelangt. Auch dieses Fenster lag nach der stillen Seitenstraße zu. Aber jede Spur von den Banditen fehlte.

Das Seltsamste, Unbegreiflichste aber war:

Von dieser Nacht an war auch der Zahlmeister Henri Cassagnac verschwunden.

Ein Weib-ein Narr-ein Mörder

Подняться наверх