Читать книгу Ein Weib-ein Narr-ein Mörder - Robert Heymann - Страница 8

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Der Journalist Eugen Peytral, Redakteur an einem Boulevardblatt, war der erste, der bis zum Schauplatz des Verbrechens vordrang. Er war der Neffe eines Generals, weshalb man die vielen Rügen, die er der Polizei immer wieder erteilte, stillschweigend hinnahm. Eigensinniger als die Detektive, stellte er sofort persönliche Nachforschungen an, obgleich die Polizei, die im Morgengrauen auf den Telefonruf des Arztes hin in dessen Haus erschienen war, bereits alles Nötige veranlaßt hatte. Peytral sandte seinem Blatt einen leidenschaftlichen Artikel, zwar nicht getragen von krimineller Erfahrung, aber von einer Schärfe der Beobachtung, die das Publikum noch mehr erregte, während der Präfekt den Aufsatz mit einem ärgerlichen Achselzucken zu den Akten legte.

„Der verschwundene Zahlmeister“

überschrieb Peytral sein Feuilleton:

„Ein Mensch verschwindet spurlos — und die Polizei steht machtlos! Hat man dergleichen je gehört? Ein Mensch befindet sich in einem bestimmten Zimmer eines Hauses. Er hat eine große Geldsumme bei sich. Ein Apache, nein, mehrere Apachen erscheinen, verschaffen sich Eingang in dieses Haus, und der besagte Mann verschwindet spurlos, er löst sich sozusagen auf, er wird Rauch, Illusion, ein Name, ein Nichts.

Man könnte annehmen, der Zahlmeister Cassagnac sei von den eingedrungenen Apachen ermordet worden. Das würde natürlich voraussetzen, daß den Mördern die Tatsache bekannt war: Cassagnac trug eine größere Geldsumme bei sich! Woher sollen die Apachen das gewußt haben? Die Polizei hat es ihnen doch nicht vorher gesagt, und das ist bis jetzt das einzige Verdienst, das man ihr in dieser mysteriösen Angelegenheit zubilligen kann.

Der Weg Cassagnacs zu dem Hause des Herrn Dr. Berton läßt sich genau verfolgen: Er hob die Summe von 20.000 Francs bei der Société Méditerranée de Banque in der Rue de la République ab und begab sich von da sofort nach Hause. Die Wohnung Cassagnacs liegt in der Rue Breteuil. Er blieb einige Stunden bei seiner Frau, dann ging er zu Dr. Berton. Auf dem Wege dorthin hielt er sich nirgends auf. Woher also sollen Apachen gewußt haben, daß Herr Cassagnac 20.000 Francs in der Tasche hatte? Die Polizei hat keinen Anhaltspunkt für ein Verbrechen! Parbleu! Hält man das für möglich? Sie findet keinen Blutstropfen. Aber kann man Menschen nicht töten, ohne Blut zu vergießen? Die Polizei sagt: ‚Die Annahme, die Banditen hätten den leblosen oder bewußtlosen Körper des Zahlmeisters mit sich geschleppt, ist kaum haltbar. Die eifrigsten Nachforschungen im Hause, die genauesten Untersuchungen der kleinsten Merkmale, die in dem polizeilichen Laboratorium vorgenommen wurden, konnten keinen Nachweis für einen Gewaltakt gegen den Zahlmeister erbringen. Man hätte doch auf dem Fenstersims, an einem umgeworfenen Sessel oder sonstwo Wollfäden von dem Mantel des Verschleppten finden müssen! Man hätte Haare entdecken können! Aber die sofort vorgenommene mikroskopische Untersuchung des Teppichs ergab weder Schleifspuren noch sonstige Anhaltspunkte. Die Photographien der vorgefundenen Fingerabdrücke brachten nicht mehr Erfolg.‘ Dies ist die Ansicht der Polizei! Ich erlaube mir, zu behaupten, daß Verbrecher, die nach einem so wohlerwogenen Plan arbeiten, durchaus mit den Spuren rechnen, die ein mit Gewalt verschleppter Körper hinterläßt. Der Zahlmeister war schlank, mittelgroß. Es konnte für mehrere Männer nicht schwer gewesen sein, den Toten aus dem Fenster zu heben, ohne daß ‚Wollspuren‘ hinterblieben. Aber warum nimmt die Polizei nicht an, der Zahlmeister sei entführt worden? Warum geht sie über diese Möglichkeit stillschweigend hinweg? Glaubt sie nicht daran? Nein, sie glaubt nicht daran, weil sie keinen Grund für die Entführung eines Marseiller Zahlmeisters entdecken kann. Man höre! Dieser noch junge und erst seit kurzem verheiratete Cassagnac hatte ein ziemlich abwechslungsreiches Leben hinter sich. Wie — wenn nun eine Frau die Hand im Spiele hätte? Viele werden diese Annahme phantastisch finden. Aber es ist gar nicht mehr neu, Menschen zu entführen. Und Frauen haben schon durch ihre Helfershelfer viel schwierigere Dinge fertiggebracht. Damals, als Madame Steinheil in Paris wegen Gattenmordes angeklagt, dann aber freigesprochen wurde, hatte die Justiz dieser Frau ganz andere, viel ungeheuerlichere Pläne zugetraut!

Ich will keine Schlüsse ziehen. Ich bin Journalist. Aber ich stelle an die Polizei und die gesamte Öffentlichkeit folgende Fragen:

Wenn die Apachen wirklich Kenntnis davon hatten, daß Cassagnac eine große Geldsumme bei sich führte — warum überfielen sie ihn nicht in einer der dunklen Seitenstraßen, die das Haus des Dr. Berton flankieren?

Warum ließen sie ihr Opfer erst in dem Hause Sicherheit finden und wählten dann diesen mühevollen und gefährlichen Überfall?

Denn dieser Überfall war riskant! — Konnte nicht Dr. Berton jeden Augenblick zurückkehren?

Wußten das die Apachen nicht?

Oder wußten sie, daß Dr. Berton erst gegen Morgengrauen heimkehren würde?

Woher wußten sie das?

Wem hat denn Cassagnac nachweislich mitgeteilt, daß er 20.000 Francs bei sich trug?

Seiner Frau. Sie gibt es zu.

Einige Militärpersonen wußten es.

Und Frau Dr. Berton, der Cassagnac von der Geldsumme erzählt hat — nach ihrer eigenen Aussage.

Hier ist irgendwo der Schlüssel zu dem Geheimnis des Verschwindens Cassagnacs!

Die Polizei sagt:

‚Die nochmals vorgenommene Untersuchung der Räume, in die die Verbrecher eingedrungen waren, des Arbeitszimmers, des Wartezimmers und des Ordinationsraumes, führte zu nichts!‘

Nun, ich habe an einer Stelle des Wartezimmers eine ganz neue Verletzung der Tapete festgestellt. Gewiß, sie beweist nichts. Wer unsere Apachen kennt, wird ihnen zutrauen, auch ohne Verletzung der Zimmertapete einen Menschen kaltzumachen. Ich kenne ihre Methode: Zwei werfen sich blitzschnell an die Beine ihres Opfers und ziehen sie unter ihm fort. Sie halten die Beine fest, während zwei andere den fallenden Körper auffangen und den Unglücklichen ohne Lärm zu ewigem Schweigen bringen.

Wie dem auch sei: Ob ein Kampf stattgefunden hat, bei dem die Tapete verletzt wurde, oder nicht: Cassagnac muß noch im Hause des Herrn Dr. Berton zu finden sein! —

Die Banditen hatten Zeit!

Sie haben sich die halbe Nacht in dem Ordinationszimmer des Arztes aufgehalten und sich aus der Küche mit Bier, Wein und eßbaren Vorräten versorgt. Die Flaschen standen noch umher, als ich das Zimmer mit Genehmigung des Herrn Chefs des Hôtel de la Police besichtigte. Das war aber auch alles, was die Bande als Beweis ihrer Tätigkeit für die Polizei zurückgelassen hatte. Das Präsidium hat sofort eine Razzia im Hafenviertel angesetzt. Aber diese Maßnahme wirkt nur als Demonstration, zu einem Ergebnis führt sie nicht. Wir kennen ja diese Razzien in den schmutzigen Kneipen, das Aufgreifen von Niggern und Chinesen, die man schließlich wieder freilassen muß.

Nun aber: Die Polizei vermutet, daß der Zahlmeister mit den Verbrechern im Bunde gewesen ist!

Ja, ‚diese Vermutung gewinnt immer mehr an Wahrscheinlichkeit!‘ sagt die Polizei.

Aber Herr Dr. Berton bestreitet entschieden eine solche Möglichkeit! Sein Freund hatte wohl kostspielige Liebhabereien, aber es läßt sich nicht nachweisen, daß er verschuldet war, und Herr Dr. Berton stellt ihm das beste Zeugnis aus.

Meint die Polizei vielleicht, Herr Dr. Berton und Herr Cassagnac steckten unter einer Decke und teilten nun den Raub? Herr Dr. Berton möge mir diesen Scherz verzeihen, aber ich muß die verworrenen Anschauungen der Behörde ad absurdum führen!

Cassagnac lebte in glücklicher Ehe. Ich habe seine Frau gesprochen, sie schwört auf seine Unschuld.

Nun sagt die Behörde: ‚Wir haben oft genug die seltsamsten Erfahrungen mit Doppelnaturen gemacht. In diesem Falle gibt es eben nur die eine Lösung: Cassagnac hat, um sein Verschwinden mit den 20.000 Francs zu rechtfertigen, diese seltsame Geschichte in Szene gesetzt. Er mag naiv genug sein, zu glauben, man würde ihn für tot erklären und sich in kurzer Zeit über sein Verschwinden beruhigen.‘ —

Nun, ich für meine Person teile diese Ansicht der Polizei nicht. So naiv ist kein Mensch, der 20.000 Francs unterschlägt. Und was hätte er erreicht? Seinen Leichnam findet man nicht. Muß er sich nicht sagen, daß man ihn nun nicht für tot halten wird? Wozu dann die Komödie?

Wozu brauchte Cassagnac dann noch ein Aufgebot von Apachen, die doch nur Mitwisser und Mitnutznießer des Raubes sind?

Dies sind meine Fragen, die ich an die Intelligenz des Marseiller Publikums stelle!“

*

Die Leser dieses Artikels waren nicht klüger als vorher, aber die Fragen, die Peytral gestellt hatte, waren logisch. Man diskutierte eifrig, aber die Polizei hüllte sich in Stillschweigen, und es schien, als sei sie vollkommen hilflos.

Doch da war noch der Detektiv der Pariser Sûreté. Durand kam etwa dreißig Stunden nach jenem Überfall in Marseille an, um zu heiraten. Die hübsche, zwanzigjährige Modistin wartete bereits voll Ungeduld auf den Verlobten. Sie hatte keine Zeit mehr, ihn von der Bahn abzuholen, sie trug schon das Brautkleid. Durand sollte sich sofort zu ihr begeben, man erwartete das Paar nun endlich auf dem Standesamt.

Der Bräutigam trägt schon den Frack und sieht sehr feierlich aus — trotz des rundlichen, trinkfesten Gesichtes. Er kauft sich eine Zeitung und liest mit wachsendem Erstaunen von dem „Fall Berton“, fährt sofort ins Commissariat de la Sûreté, dann zum Präfekten in Person, vergißt seine Braut, das Standesamt, die Liebe — und erwirkt sich die Ermächtigung, ohne Verzug in dem Doktorhaus einen letzten Versuch zur Klärung des geheimnisvollen Verbrechens zu unternehmen.

Während also Julia, eine noch immer geborene Vernet, mit feuchten Augen wieder vergeblich auf den Bräutigam wartet, um schließlich das Brautbukett zum Fenster hinauszuwerfen — während also am blauesten Frühlingshimmel einer noch nicht geschlossenen Ehe schon ein Sturm heraufzieht, ein Sirocco, ein Taifun der Entrüstung, ist Durand, dieses Muster eines Detektivs, dieses Original eines Beamten, auf dem Wege zu Dr. Berton.

Dieser hatte noch mit seinen Kranken zu tun. Frau Moina empfing den Besucher. Er sah der jungen Frau, die ihn für einen Patienten hielt, scharf ins Gesicht. Er fand es sehr hübsch. Seine Hand, schon erhoben, um die Legitimation der Sûreté vorzuweisen, sank wieder herab.

Er schüttelte den Kopf, als sie ihn in das Wartezimmer führen wollte.

„Die Schwester ist noch nicht eingetroffen, die meinem Mann assistiert, und unser Mädchen ist — Sie werden es gelesen haben — schwer verletzt“, sagte die Doktorsfrau, um zu erklären, daß sie selbst die Patienten empfing. „Ich wohne nicht mehr im Hause, mein Mann hat einige Zimmer im Hotel de Paris gemietet. Wo das liegt? Rue Colbert, mein Herr, nahe dem Hauptpostamt! Trotzdem muß ich zu den Krankenbesuchen hierherkommen, um meinem Mann zu helfen. Die bisherige Assistentin hat abgesagt, die neue soll erst eintreffen!“

„Jawohl, jawohl!“ sagt Durand, während seine Augen in der Diele umhergehen. „Ich bin kein Patient. Mein Name ist Durand — ein alter Freund Ihres Gatten — —“

Frau Moina lächelt verbindlich und nötigt den Besucher in das Wohnzimmer. Es ist in englischem Stil eingerichtet. Es wirkt ein wenig steif, eine Ecke aber scheint für die Hausfrau reserviert: Eine schöne Stehlampe vor einem breiten, kissenbedeckten Schaukelstuhl, ein Fenster, durch rubinrote Vorhänge halb verdeckt. —

Durand setzt sich.

„Ja, gnädige Frau, ich habe von dem schrecklichen Verbrechen gelesen — Sie machen jetzt noch einen völlig verstörten Eindruck.“

„Ich habe mich noch nicht erholt, mein Herr. Der Aufenthalt in diesen Räumen ist mir — auch vorübergehend — entsetzlich! Ich habe meine Jugend auf dem Lande verlebt, solche Zwischenfälle habe ich niemals kennengelernt.“

„Sie sind schließlich selbst in Marseille nicht an der Tagesordnung“, bemerkt Durand.

„Es war schrecklich. Die arme Babette! Wie tut sie mir leid! Sie war mir eine treue Dienerin!“

Durand nickt. Er verschweigt, daß die Polizei Babette bereits vernommen hat. Man hatte von ihr nicht viel erfahren können. Wohl war sie für Minuten zur Besinnung gekommen, als ein Beamter an ihrem Bett saß, aber der behandelnde Arzt hatte dringend gebeten, von jeder Vernehmung abzusehen. Die Patientin schwebe in Lebensgefahr.

Die arme Babette hatte nur einen verständnislosen Blick auf den Mann neben sich geworfen. Aber irgendein geheimnisvoller Kontakt mit dem Polizeidetektiv schien sie ahnen zu lassen, daß der Herr mit den forschenden Augen etwas von ihr wissen wollte. Sie hatte sich plötzlich aufgerichtet und mit erstickter Stimme gerufen:

„Mörder! — Mantel! — Madame! Madame!“

Dann war sie zurückgesunken und hatte von neuem die Besinnung verloren.

Man hatte Durand diesen kleinen Zwischenfall erzählt, ohne etwas damit beginnen zu können.

„Arme Babette“, seufzte Moina von neuem.

„Schrecklich! Und Sie glauben wirklich, gnädige Frau, die Verbrecher seien Apachen gewesen?“

„Ich habe ja nur einen gesehen. Er stand dicht vor mir!“

„Und er sah aus wie ein Apache?“

„Ich habe sein Gesicht nicht gesehen. Es war dunkel — Augen und Nase waren von der Mütze beschattet. Ich sah nur ein bartloses Kinn — er war mittelgroß — nein, ich kann ihn nicht beschreiben, ich weiß, welche Verantwortung ich durch falsche oder ungeschickte Angaben auf mich lade!“

„Das übliche farbige Halstuch?“

„Ja! Das sah ich —“

„Keinen Mantel? Es war kalt — für diese Gegend sogar außergewöhnlich kalt!“

„Nein. Er trug keinen Mantel!“

„Freilich! Dieses Gesindel ist abgehärtet! Die Verbrecher kamen durch den Garten, ja? Drangen durch das Fenster — und sind ebenso geflüchtet?“

„Ja. Es gab keinen anderen Weg für sie.“

„Die Haustür?“

„War verschlossen. Von innen. Ich hatte den Schlüssel in meinem Zimmer. Ich bleibe immer wach, bis Guy nach Hause kommt.“

„Und Sie vermißten den Schlüssel nicht?“

„Nein.“

„Sie sagen, Sie erwarten Ihren Mann immer. Hat Ihr Gatte keinen Hausschlüssel? Sollte er so sehr unter dem kleinen Pantoffel stehen? Bekommt er den Schlüssel etwa nur bei besonderen Gelegenheiten?“

Durand macht ein spitzbübisches Gesicht und spitzt die Lippen. Man kann ihm nicht böse sein. Frau Moina muß lachen.

„Quelle idée! Natürlich hat Guy einen Schlüssel. Aber er konnte ja nicht in’s Haus, weil zwei Sicherheitsketten immer der Türe vorliegen.“

„Auch an jenem Abend?“

„Sicher! — Wie immer! —“

„Aber Guy ist doch ohne fremde Hilfe ins Haus gekommen! Er fand Sie ja auf!“

„In der Tat, ja! Darüber habe ich noch nicht nachgedacht!“

„Nun, der Polizei ist das nicht entgangen. Ihr Gatte hat auch ausgesagt, die Verbrecher seien durch die Haustür geflüchtet und hätten diese offen gelassen!“

„Dann ist es so! Ich bin noch völlig verwirrt!“

„Das läßt sich denken!“

In diesem Augenblick hört man ein Kind weinen. Frau Moina entschuldigt sich und geht hinaus.

Täuscht sich Durand?

Ja, täusche ich mich, denkt er. Das Flackern in ihren Augen! Das Zittern ihrer Hände!

Sagt sie die Wahrheit?

Wirklich die volle Wahrheit?

Sie spricht von einem bartlosen jungen Menschen ohne Mantel. Babette offenbar von einem mit Mantel! Es können natürlich zwei verschiedene in Frage kommen! Aber der Mann, der Frau Moina betäubte, stand doch nahe der Treppe. Nichts wahrscheinlicher, als daß er, nachdem er sein Opfer überwältigt hatte, die Treppe emporgeeilt war. Auch daß ihn das Mädchen von oben schon vorher bemerkt hat, ist wahrscheinlich, denn als Frau Dr. Berton — nach ihrer Aussage — die Tür aufriß, da stand er ja schon draußen! — —

Durand geht, die Hände auf dem Rücken, auf und ab. Dies also ist das Wohnzimmer! Hier die Tür zum Korridor. Dort ein Fenster auf die Straße mit schmalem, hohen Rahmen. Dann wieder eine Tür. Durand öffnet sie leise. Das Schlafzimmer Frau Moinas. Das Bett mit blauem Himmel steht mitten im Zimmer. Die Wäsche ist abgezogen. Frau Moina schläft nicht mehr hier. Das Kopfende stößt an eine Ausbuchtung der Wand. Einige Toilettegegenstände liegen noch umher. Sie verraten, daß das Zimmer nur von einer Dame benutzt wurde. Nicht ein einziges Stück verrät ein gemeinsames Schlafzimmer.

Hatte sich Frau Moina von Dr. Berton zurückgezogen?

Unglückliche Ehe? — —

Das ist sehr wichtig!

Durand schließt leise die Tür und nimmt seine Wanderung im Wohnzimmer wieder auf. Hier, auf dem Teppich neben dem Schaukelstuhl, ein Glassplitter. Durand schiebt den Fenstervorhang beiseite.

Das Fenster ist zerbrochen. Frau Moina hat die Öffnung mit Papier zugestopft. Unterhalb des Fenstersimses hat, deutlich sichtbar, ein Stiefel an der Tapete geschabt. Jemand hat also versucht, durch dieses Fenster zu entkommen, hat dabei das Glas beim heftigen Öffnen zerbrochen. Es kann sich nur um einen sehr schlanken Menschen gehandelt haben ... Es klingelt.

Durand horcht. Frau Moina öffnet. Eine zweite Frauenstimme: Die neue Assistentin, wie man vernehmen kann. Frau Moina nähert sich dem Wohnzimmer.

„Ich käme da nicht durch!“ sagt Durand heiter lächelnd, auf das Fenster zeigend, mit pfiffigem Gesicht zu Frau Dr. Berton, die eben eintritt. Sie hat das Kind beruhigt. Nun steht sie an der Tür zum Korridor, die helle Hand noch auf der Klinke, mit einem Gesicht, in dem die einzelnen Züge durcheinanderstürzen. Ja, so aufgelöst vor Schrecken ist dieses rosige Antlitz, daß Durand schnell zu ihr tritt und ihre Hand ergreift, auf die er einen Kuß hinhaucht.

„Sie sind nervös, gnädige Frau! Habe ich Sie erschreckt? Dieses dumme Fenster! Aber in der Tat, ein Mensch hat versucht, hindurchzukommen — und Sie wissen gar nichts davon?“

Frau Moina schüttelt wie im Traum den Kopf.

„Nein! Ich weiß nichts davon!“

Da öffnet die eben eingetroffene neue Assistentin die Tür: „Herr Dr. Berton läßt bitten!“

Durand verneigt sich vor Frau Moina.

„Nur keine überflüssige Angst, gnädige Frau! Die Polizei wird die Täter bald gefunden haben!“

Sie steht mitten im Zimmer, die Augen auf das seltsame Fenster gerichtet, mit einem verlorenen Ausdruck im Gesicht. Die Hände hängen schlaff an ihrem Körper nieder.

Ein Weib-ein Narr-ein Mörder

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