Читать книгу Der Fluch der Welt - Robert Heymann - Страница 10
Zivil mobil!
ОглавлениеMonate vergingen. An der eisernen Mauer der verbündeten Mittelmächte zerschellten in Ost und West alle Anstrengungen der Gegner.
Auf dem Balkan boten die Verbündeten alles auf, Rumänien in den Krieg hineinzuziehen. Aber Rumänien stand, so schien es, eher auf Seite Deutschlands als auf der der Alliierten. Es blieb neutral.
Fürchtete es das Schicksal Serbiens? Spielte es ehrliches Spiel? Waren die Reden, die in Bukarest gehalten wurden, nur für das gutgläubige Ohr Deutschlands bestimmt? Vernahmen die hellhörigen Engländer mehr?
Gingen wirklich zwischen Italien und Rumänien geheime Sendboten? Niemand wusste es. Die österreichischen Späher am Roten Turm Pass blickten in ein Land des Friedens.
Franz Scholz, der Hauptmann, erhielt nach langen Kämpfen wieder Urlaub.
Die Rätin und Violet kehrten nach Berlin zurück. Das Befinden der Frau Rätin hatte sich bedeutend gebessert. Sie hatte wieder frische Farben bekommen. Wie einen schönen Traum nahm sie die Erinnerungen an das Allgäu mir in das hastige, geschäftige Berlin.
Hans tat in der Schweiz seinen Dienst. Von Else kamen nur spärliche Nachrichten. Sie war mitten in Sibirien.
Martin Knesebeck, der Bursche des Hauptmanns, kam schwerbepackt auf dem Bahnhof an.
Der Hauptmann war schon vorausgefahren.
Martin Knesebeck packte seine Butter- und Schinkenpakete, die er aus Belgien mitbrachte, zusammen, hing sein Gewehr um und machte sich mit schweren Tritten auf den Weg ins Innere der Stadt.
Es war noch alles so, wie er es verlassen hatte. Die Elektrischen klingelten und ratterten vorbei, die Untergrundbahnen jagten durch den Bauch von Berlin, die Menschen hatten Eile, und wenn man so hinaussah auf dieses buntbewegte Leben, so schien tiefster Friede zu herrschen.
Der Krieg warf hier keine sichtbaren Schatten. Freilich, wenn man tiefer hinblickte ...
Doch das war weder Franz Knesebecks Sache noch Art. Einen kurzen Besuch bei Vatern und Muttern — und dann hinaus zu dem Buchbindermeister Ohnesorg, der ein Töchterchen hatte, das ...
„Martin!“ rief eine helle Mädchenstimme und jauchzte.
„Martin! bist du’s wirklich!“
Der feldgraue Soldat stellte bedächtig sein Gewehr in die Ecke der guten Stube, nahm das frische Mädel in den Arm und meinte mit einem frohem Lachen:
„Na, so verändert werde ich mich wohl nicht haben, dass man mich von dem Nächstbesten nicht mehr unterscheiden kann!
„Aber Martin!“ schmollte Elschen, das schlanke, fesche Ding, Tochter des Buchbindermeisters Ohnesorg, „aber Martin! Neun Monate im Felde und immer noch der alte Spötter. Aber nun erzähle! Oder nein, willst du eine Tasse Kaffee? Und ein Stück Torte vom Konditor Lehmann nebenan? Ich brächte dir ja gerne eine Portion Schinken oder sonst etwas Solides, aber!“ ...
„Ich weiss, ich weiss! Schweine sind kostbare Illusionen. Also eine gute Tasse Kaffee wird nicht verschmäht und dann setzt sich mein Mädel zunächst an meine Seite und lässt sich in die Augen schauen, ob sie auch ganz die geblieben ist, die ich verlassen habe!“
Elschen aber hatte nicht soviel Zeit, dem Verlangen des Heimgekehrten nachzukommen. Erst mal spitzte sie die roten Lippen zu einem herzhaften Kuss — und der dauerte eine Weile — dann, riss sie sich los und eilte davon, während Martin Knesebeck Tornister und Seitengewehr ablegte und es sich bequem machte. Er sah sich die alte, liebe Wohnung erstmal gründlich an — die vertrauten Bilder, das alte Sofa, die Wanduhr mit dem schweren dunklen Schlag — Elschen aber alarmierte das ganze Haus. Da kam Vater Ohnesorg und wischte sich die Hände an der blauen Schürze. Da kam Mutter, die eben mit Waschpulver die Wäsche wusch und einen Vortrag über die schöne Zeit der fettreichen Seifen hielt, da kamen Nachbarn und Freunde, und schnell war der Tisch festlich gedeckt, denn jeder wollte den Martin Knesebeck sehen und von ihm hören, wie es ihm draussen an der Front ergangen war, was die Russen machten, ob die Franzosen schon ihre Säuglinge zum Militärdienst einzögen, und ob die Unterseeboote den Engländern tüchtig einheizten ... Martin Knesebeck sass da, rauchte Ohnesorgs Extrazigarren und gab bedächtige Antworten. Als er aber von dem letzten Sturmangriff erzählte, bei dem eine Kugel ihm den Helm vom Kopfe genommen hatte, da hielten alle den Atem an und Elschen umklammerte seine Hand mit allen zehn Fingern, als könnte ihm jetzt noch etwas geschehen.
Elschen war mit Martin Knesebeck sozusagen schon verlobt. Freilich, die Aussichten auf eine baldige Heirat waren seit Kriegsbeginn immer mehr zusammengeschrumpft. Vater Ohnesorg wollte seinem Töchterchen in Herzenssachen keine Vorschriften machen, und es war doch mal eine heikle Sache mit der Zukunft. Mutter Ohnesorg war resoluter.
Gleich am nächsten Tage, nachdem Martin Knesebeck bei Elschen eingekehrt war, nahm sie ihn bei Seite und hielt ihm vor, dass er ihr immer willkommen sei, so oft er auf Urlaub käme, dass aber die Sache mit Elschen doch einen Haken habe, der nicht zu übersehen sei.
„Sieh mal, wenn sie dich auch liebt, aber von der Liebe kann doch der Mensch nicht leben, und was nun der Rentier Hinrichsen ist, der will doch Elschen heiraten.“
„Was?“ rief Martin, der bis jetzt die Worte der alten Frau ruhig hatte über sich ergehen lassen. „Was? Der alte Hinrichsen mit seinem Fettwamst, und das schlanke Elschen ...“
„Fettwamst hin, Fettwamst her, Junge: Er hat ein Vermögen auf der Bank und Elschen hat noch nichts, rein gar nichts, denn unser Geschäft nährt uns schlecht und recht und die Zeiten kosten Geld.“
„Also Elschen soll ein Ersatzmittel heiraten,“ sagte Martin Knesebeck. „Schön,“ wenn sie damit einverstanden ist ...“
„Wenn du ihr den Kopf verdrehst, ist sie natürlich nicht einverstanden“ ereiferte sich die Mutter. „Und da du doch sonst ein vernünftiger Junge bist ... doch da kommt ja Herr Hinrichsen! Guten Tag, Herr Hinrichsen!“
Durch die Tür spazierte ein beleibter Herr in den Jahren zwischen vierzig und fünfzig, lächelte Frau Ohnesorg freundlich zu und trug gravitätisch einen Blumenstrauss vor sich her.
Frau Ohnesorg wollte die beiden Herren bekannt machen. Herr Hinrichsen hielt die kostbaren Blumen mit weit vorgestrecktem Arm vor sich und grüsste bedächtig. Martin Knesebeck nahm den Strauss, den ihm Hinrichsen ahnungslos unter die Nase hielt, legte ihn zu seinem Tornister und sagte: „Danke och, Herr Hinrichsen.“
Hinrichsen vergass, den Mund zu schliessen ... Endlich stotterte er mühsam, während Frau Ohnesorg das Zimmer verliess, um Elschen zu holen: „Aber Herr ... Herr Feldwebel ... Herr Unteroffizier ... das ist ... das ist ... eine Aufmerksamkeit ...“
„Sehr nett von Ihnen, an mich armen Feldsoldaten zu denken,“ entgegnete Martin und lächelte unschuldig. Indessen trat Elschen ein, sah Martin mit einem verlegenen Blick an und begrüsste Herrn Hinrichsen mit einem Knicks.
„Gerade,“ als ob sie französisch bei ihm lernte,“ meinte Martin, zu Frau Ohnesorg gewandt, die ihm einen bösen Blick zuwarf.
Frau Ohnesorg wollte Martin entfernen. Sie versuchte es auf jede nur erdenkliche Art. Aber Martin hörte nicht.
„Wollen wir nicht mal herausgehen? fragte sie endlich und ging direkt auf ihr Ziel los.
Martin machte ein verständnisloses Gesicht und erklärte, bei dem letzten Trommelfeuer an der Somme sei ihm das Trommelfell verletzt worden, und seitdem sei er schwer von Begriff ...
„Ich habe ein Stück Schweinebraten draussen,“ sagte schliesslich Frau Ohnesorg, entschlossen, den kostbaren Besitz, der für Sonntag eingekauft war, Elschens Zukunft zum Opfer zu bringen. Da zeigte sich, dass Martin Knesebeck auch manchmal’ hellhörig war. Denn er machte eine einladende Bewegung nach der Türe und verschwand mit Frau Ohnesorg, die Herrn Hinrichsen noch einen ermutigenden Blick zuwarf, der ungefähr besagte: Sie und ich bilden eine Entente. Gehen Sie zur Offensive über, ich werde den da einstweilen wirtschaftlich blockieren.
„Ja, ja,“ sagte Hinrichsen und rieb sich mit der fetten Hand das Kinn ...“ Ja, ja Fräulein Elschen.“
„Ja, ja, Herr Hinrichsen“, erwiderte Elschen sprang plötzlich auf und holte sich die Blumen vom Spind, zwischen denen friedlich das Seitengewehr Martin Knesebecks schimmerte. „Ach, die schönen Blumen, die mir Martin mitgebracht hat. Schauen Sie doch nur, Herr Hinrichsen, die schönen Blumen!“
Sie drückte sie an die Lippen. Da beeilte sich Herr Hinrichsen zu bemerken, dass die Blumen von ihm seien, worauf die Begeisterung Elschens merklich nachliess.
„Ach so, die armen Blumen! Ich will ihnen Wasser geben.
Schnell holte sie eine Vase und steckte die Blumen hinein. Die Vase kam auf das Spind. Herr Hinrichsen hatte sich langsam erhoben.
„Ich leide immer noch etwas an Gicht,“ sagte er entschuldigend. Das hängt mit meinem Fettherz zusammen. Deswegen bin ich auch d. u. geworden. Also Sie hätten nicht zu fürchten, Fräulein Ohnesorg, dass ich je zur Front ginge und Sie Witwe würden.“
„O bitte“, erwiderte Elschen, „ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht.“
„Es wäre doch aber bitter für Sie, wenn Sie plötzlich Witwe würden.“
„Es ist nicht meine Absicht“ entgegnete Elschen verwirrt.
„Und Sie sind so zart ... Sie brauchen einen männlichen Schutz und eine gesicherte Existenz. Sehen Sie, Fräulein Ohnesorg, beides finden sie bei mir. Ich habe eine ausreichende Rente und bin in den Jahren, in denen Sie vor Überraschungen sicher sind Mit einem Wort Fräulein Elschen, ich liebe Sie und bitte um Ihre Hand!“
Elschen sass verwirrt und verwundert. Sie studierte das Gardinenmuster am Fenster und schrack zusammen, als Herr Hinrichsen sich vernehmlich räusperte.
„Ach so“, sagte sie. „Ach ja, Herr Hinrichsen. Ihr Antrag ehrt mich ... jawohl ... aber sehen Sie ... Ihre Frau, nein, Ihre Frau kann ich nicht werden. Bedenken Sie, Herr Hinrichsen, dass Sie sich viel zu viel mit mir ärgern würden. Ja, ich würde Sie in jeder Weise enttäuschen, denn ich verstehe absolut nichts von Kriegsküche und bin sehr verschwenderisch veranlagt.“
Aber diese Selbstbeschuldigungen verfehlten vollkommen ihren Zweck. Herr Hinrichsen blieb dabei, dass Elschen für ihn geschaffen sei und er begnüge sich zum Frühstück mit Kamillentee und esse überhaupt sehr wenig, wegen seines Fettherzes. Und Elschen sollte doch einfach Ja sagen, das andere würde sich schon finden ...
Elschen aber dachte an Martin, der nun sicher draussen mit Herzklopfen das Resultat der Unterredung abwartete (in Wirklichkeit sass Martin bei seinem Schweinebraten und ass seelenruhig das Ergebnis von drei Fleischkarten auf). Elschen also dachte an den Geliebten, dem sie Treue geschworen hatte, und gab sich einen Ruck.
„Herr Hinrichsen, ich kann trotzdem Ihre Frau nicht werden.“
Herr Hinrichsen versuchte es nochmals mit einem Hinweis auf die gesicherte Existenz, aber Elschen meinte, wenn alle Stricke reissen würden, dann gebe es für eine Frau in Deutschland noch genug zu tun ...
Herr Hinrichsen erschrak.
„Sie wollen doch nicht zur Wach- und Schliessgesellschaft?“
Elschen erwiderte, es müsse ja nicht gerade die Wach- und Schliessgesellschaft sein, aber es sei die Pflicht eines jeden Menschen, jetzt dem Vaterlande in irgend einer Form zu dienen. Diese Antwort fasste Herr Hinrichsen sehr persönlich auf und dachte, er würde in der Achtung Elschens entschieden mehr steigen, wenn auch er dem Vaterlande seine schwachen Kräfte zur Verfügung stellte. Das war eine Angelegenheit, die sich überlegen liess. Zum Beispiel dachte es sich Herr Hinrichsen sehr hübsch, als Ordonnanz mit einer militärisch angehauchten Aktenmappe wieder vor Elschen zu treten. Oder etwa mit einem Gewehr die Brücke zu bewachen und nach feindlichen Fliegern Ausschau zu halten. Es waren zwar nie welche da, aber es machte sich doch gut, zu sagen, es könnten mal welche kommen und da war Hinrichsen dazu da, aufzupassen, dass dann kein Unglück geschah.
Von solchen Ideen erfüllt, erhob sich Hinrichsen, dessen Mannesstolz in Anbetracht seiner guten Vorsätze gewaltig wuchs, und erklärte, er wolle später mal wieder anfragen, ob dann Elschen keinen Bedarf hätte. Das war eine Redensart, die er aus seinem früheren Beruf als Reisender in Trikots in seinen Ruhestand herübergenommen hatte.
Elschen war glücklich, dass die Sache vorläufig ohne weiteren Schaden abging, sagte: „Ach bitte sehr, es kann schon sein ... und komplimentierte Herrn Hinrichsen hinaus. Draussen begegnete er dem Martin Knesebeck, der eben das letzte Stück Schweinebraten verschlang. Herr Hinrichsen nahm von ihm Abschied, nicht ohne zu bemerken, er sei in Anbetracht der Opfer, die die Zeit verlangte, Vegetarier geworden.
Dann waren Elschen und Martin Knesebeck allein. Martin Knesebeck zeigte sich über den Ausgang der Unterredung gar nicht besorgt, was Elschen ein bisschen verstimmte. Aber als der feldgraue Soldat seine Arme um den Nacken des jungen Mädchens legte, als er die krausen Haare küsste, die widerspenstig am Halsansatz standen, da war der kleine Unmut vergessen, nnd Elschen gelobte, dass Martin ihr Gatte werden würde, und wenn sich auch eine Welt dagegen verschwor.
So ging denn Martin Knesebecks Urlaub langsam um. Viel zu schnell freilich für ihn und Elschen, denn wenn man sich so lange nicht gesehen hat, dann küsst man sich um so lieber, um so öfter und um so heisser, umsomehr, als die Küsse ohne Bezugschein verabfolgt werden dürfen und darum in ihrem Wert gestiegen sind.
Elschen machte auch Besuch bei Frau Lehmann. Das war Martin Knesebecks Quartierwirtin. Er hatte bei der resoluten Frau, die sich und ihre vier Kinder nach dem Heldentode des Mannes mit Hilfe der Kriegsunterstützung und fleissiger Arbeit ohne Sorge durchbrachte, ein kleines Zimmerchen inne. Frau Lehmann arbeitete in der Munitionsfabrik und konnte sich deshalb nicht allzuviel um ihre Mieter bekümmern. Aber schon frühmorgens versorgte sie ihn zusammen mit ihren Kindern, die die freie Zeit ausser der Schule bei Verwandten zubrachten.
Elschen kam an einem Sonntag, als Martin eben mit einigen Kameraden zusammen war, und brachte ihre Frage vor, ob denn Frau Lehmann auch für Martin Knesebeck genügend sorgen könnte.
Die olle Lehmann lachte und stemmte die Fäuste in die Hüften:
„Na, was denken Sie wohl, Fräulein Elschen? Ich werde meine Mieter doch nicht hungern lassen! Wissen Sie was? Wollen Sie sich überzeugen? Kommen Sie mal mit uns raus nach die Laubenkolonie ... morgen ist es zu spät, denn morgen ist die ganze Herrlichkeit zu Ende.“
Elschen sah Frau Lehmann verständnislos an.
„Laubenkolonie? Herrlichkeit?“
„Nu ja doch! Setzen Sie mal schnell Ihren Hut auf und kommen Sie wieder rüber. Dann gehen wir raus! Eine Überraschung, Sie werden noch etliche Bekannte treffen! Nun machen Sie schon!“
Elschen, neugierig wie alle Evastöchter, eilte schnell in die Wohnung der Eltern, zog sich an und kam wieder zu Frau Lehmann. Es war ein schöner, klarer Tag. In den Strassen der Stadt lag der Schnee festgefroren und knirschte bei jedem Schritt unter den Füssen.
Frau Lehmann hatte ihre vier Kinder versammelt, und nun ging es hinaus nach der Laubenkolonie. Aus einem der kleinen Häuschen dampfte der Rauch. Als Frau Lehmann mit ihren Schutzbefohlenen ankam, da fand Elschen eine Versammlung von etwa neun Herrschaften. Alle im Feiertagsstaate, um ein rundes grosses grunzendes Etwas versammelt. Zärtlich kosende Hände glitten über eine borstige, aber hell und lieblich glänzende Schwarte, und nun erkannte Elschen, dass der Gegenstand all der Huldigungen ein fettes, grosses, wohlgenährtes Schwein war, das ahnungslos mit optimistischen Äuglein in die Welt blickte, die hier schon mehr als enge war.
Und Frau Lehmann erklärte Elschen, dass dies das „Pensionsschwein“ sei, das Schwein, auf das zehn Erwachsene, vier Kinder und ein Feldsoldat Anspruch hätten.
„Nu sehen Sie sich das Tier mal mit Verstand an, Fräulein Elschen, und dann sagen Sie im Ernst, ob wir in Deutschland am Verhungern sind!“
„Nein wahrhaftig nicht“ prustete Elschen lachend los. Frau Lehmann versprach ihr, dass sie auch etwas von abhaben sollte, und dann traten sie vergnügt wieder den Heimweg an, während sich die übrigen „Pensionsmitglieder“ noch eine Stunde im Glanze der Speckschwarte und der kommenden Genüsse sonnten.
Doch, wie gesagt, Martin Knesebecks Urlaub nahte seinem Ende. Die dunkle Stunde kam, in der Martin, vollbepackt, wieder am Bahnhof stand und Abschied nahm. Sein Hauptmann Franz Scholz befand sich schon wieder im Felde, diesmal auf dem Balkan, wo er dem Hauptquartier Mackensens zugeteilt war. Martin ging nach Russland. Elschens Augen standen voll Tränen. Vater Ohnesorg, ehrsamer Buchbindermeister, gab dem Soldaten gleichfalls das Geleite und ebenso seine Gattin. Der Alte sagte, er wolle in Sachen Elschens Verheiratung nicht aus wohlwollender Neutralität heraustreten, während Frau Ohnesorg eine ähnliche Beteuerung schon mit einer Miene begleitete, die etwa Herr Wilson in Amerika aufsetzte, wenn er in der linken Hand mit dem Palmenzweig fächelte und mit der rechten Hand eine Masseneinladung der Neutralen zum Kulturkrieg hinter dem Rücken barg.
Kurz und gut, Elschen schwor Martin nochmals ganz heimlich, dass sie sein bleibe, tot oder lebendig. Vater Ohnesorg wischte sich eine Träne aus den Augen, Mutter Ohnesorg wickelte noch schnell eine gepökelte Gänsekeule aus dem Regenschirm, ohne den sie auch im Winter und bei Sonnenschein nicht ausging und steckte sie Martin Knesebeck zu.
„Ohne Fleischkarte, brauchst dir keine Gewissensbisse zu machen. 14 Mark kostet hier das Pfund. Ich habe sie aus Mecklenburg geschickt bekommen ... billig ... aber ganz was Feines!“
Da setzte sich der Zug in Bewegung. Dampf und Rauch verhinderten die Fernsicht. Elschen wedelte noch lange mit dem Taschentuch, aber Martin Knesebeck konnte das nicht mehr sehen, und Mutter Ohnesorg sagte:
„Nu ist es genug, Elseken. Ein Stück Weltgeschichte ist abgetan, nu dreh die Seite um und fang ein neues Leben an.“
Und auf Elschens fragenden Augenaufschlag erklärte Mudding, die Sache mit Martin sei ihr einfach zu unsicher, und sie dringe unbedingt darauf, dass Elschen den viel sicheren Herrn Hinrichsen nehme.
Elschen aber erwiderte, das tue sie nie und nimmer, und wandte sich mit einem leidenschaftlichen Apell an den Vater. Der gute alte Buchbindermeister äugelte misstrauisch zu seiner Gattin herüber. Die sagte gewöhnlich in solchen Fällen nur: „Untersteh dich!“ Dabei zog sie das „U“ in die Länge wie eine Vierverbandsnote über Menschen und Völkerrechte — und Martin Knesebeck hatte nicht Unrecht, wenn er diese Bemerkung Frau Ohnesorg die „U-bootandrohung der Ollen“ nannte.
Also Vater Ohnesorg hatte jedenfalls keine Traute, es auf diesen rücksichtslosen U-Boot-Krieg ankommen zu lassen, denn er machte einige Bemerkungen mit wenn und aber und siehmal, um sich schliesslich eine Zigarre anzuzünden und das Plädoyer seiner Gattin zu überlassen.
Aber Elschen liess sich nicht überzeugen. Die Stimmung im Hause Ohnesorg wurde im Laufe des nächsten Tages immer weniger rosig. Frau Ohnesorg wollte Elschens Einwendungen nicht gelten lassen.
„Mit der Liebe ist es wie mit den „Ententerichten“ sagte sie. „Da wird alles versprochen und nichts gehalten!“ Aber Elschen erwiderte, die Politik habe mit der Liebe nichts zu tun, und sie jedenfalls lasse sich in ihrer Bündnispflicht nicht irre machen, denn sie sei keine Ententeriche, sondern eine Deutsche. So gingen die Reden im Hause Ohnesorg hin und her. Der gute Buchbindermeister wurde zerstreut und band ein Werk über die vegetarische Ernährung Deutschlands in Schweinsleder, wofür er nichts bezahlt bekam.
Elschen aber ging mit betrübten Sinnen umher. Eines Tages hörte sie mitten auf der Strasse, im argen Schneetreiben ihren Namen nennen. Sie sah sich um — nichts. Sie guckte in die Luft, dass ihr die weissen Flocken ins Stumpfnäschen stiebten — da erblickte sie einen Bollewagen, der dicht am Rande des Bürgersteiges hielt. Eine flotte Kutscherin in blauer Schürze kletterte eben behend von dem hohen Bock und begann lachend den umherstehenden Frauen aus dem viereckigen Wagen Milch zu schenken, und die Milchkarten einzuheimsen, wobei es nicht immer ohne kleine Meinungsverschiedenheiten abging. Eine Kundin meinte, ob denn die Bollekühe endlich mehr Milch zu geben gesonnen seien, und ob sie nicht auch mal Vollmilch von sich geben könnten, statt immerzu Magermilch. Worauf die Kutscherin erklärte, die Kühe richteten sich nach den Verordnungen des Magistrats, nur die Ochsen sähen nicht ein, dass das grösstenteils zu Nutz und Frommen der Bürger wäre — worauf sich die Kritikerin unter dem Gelächter der übrigen Hausfrauen entfernte. Minna, die Bollekutscherin, wandte sich Elschen zu, das noch mit weitaufgerissenen Augen dastand und zusah.
„Was hast du für ein Organ bekommen!“ stiess Elschen endlich heraus, worauf die Freundin erklärte, das bringe die Selbständigkeit mit sich. Man müsse schon mal ’ne Lippe riskieren, wenn man die Männer ersetze. Ein Wort gab das andere. Die Bollekutscherin sagte, jetzt sei eine Zeit, in der es für die Frauen Wichtigeres zu tun gäbe, als nur Strümpfe zu stopfen, und im übrigen „Selbst sei das Weib“.
Elschen klagte Minna ihr Leid, dass sie den Hinrichsen nehmen solle, der „d. u.“ und frei von Überraschungen sei, worauf die von Bolle sagte, das sei Völkerrechtsbruch und die deutsche Frau hätte ihre Rechte auf die Zukunft, und die dürfte nicht im Wasser liegen, sonst sei es Essig. Elschen sollte einfach aufhören, den Eltern auf der Tasche zu liegen, die Zeit sei eine andere als vor etlichen Jahren noch, und es gelte, sich nützlich zu machen, dann habe man auch ein entsprechendes Selbstbestimmungsrecht.
„Geh doch zur Elektrischen! Zivildienst!“ Das waren die letzten Worte, dann stieg die von Bolle auf ihren Kutscherbock, winkte noch mit der Peitsche, riss den Gaul herum, als hätte sie im Leben nie einen anderen Reisser gemacht und fuhr durch das Schneegestöber weg.
In Elschens Herzen aber ging die Sonne auf.
Zivildienst!
Ach, sie kam sich so überflüssig vor, seit Martin fort war. Für einen beurlaubten Krieger, der aus dem Schützengraben kam, zu sorgen, das war doch schliesslich ein Beruf und ein Zweck. Und wenn sie Martin Knesebecks Frau hätte sein können — Gott doch, das konnte man auch eine Bestimmung nennen. Aber nun!
Sie hatte so ein unbändiges Verlangen, nützlich zu sein auch das Ihre beizutragen in dieser gewaltigen, waffenklirrenden Zeit, einmal sagen zu können: Auch ich habe das Meine getan, dass wir damals durchhielten, als sich die Welt gegen uns beschwor und sogar der letzte Zulukaffer und Hottentotte von England als Kämpfer für die Freiheit der Menschheit aus seinem schmutzigen Lehmwinkel geholt wurde.
Der Rat der Freundin liess sie nicht mehr schlafen, und ohne sich mit den Eltern lange auseinander zu setzen, meldete sie sich eines schönen Tages zur „Elektrischen“ und wurde nach ärztlicher Untersuchung für tauglich befunden.
Nun stellte sie ihre Eltern vor die vollendete Tatsache. Und da die alte Ohnesorg eben nur ihr eigenes Blut erkannte, das da rebellisch wurde und nicht untätig sein konnte, so gab sie ihren Segen, und Vater Ohnesorg küsste sein Elschen und bat sie, doch bloss nicht unter die Räder zu kommen, denn das sei jetzt am naheliegendsten.
Elschen also machte ihre Lehrzeit durch und eines schönes Tages ihre Probefahrt. Angetan mit der Ledertasche und dem Knipser fuhr sie in Begleitung eines gelernten Beamten durch die Stadt, und Frau Ohnesorg schleppte ihren Gatten zehnmal auf der gleichen Linie durch die Nummer 16 der Elektrischen, damit sie ihr Elschen als Zivildienstlerin sehen konnte.
Es ging alles gut. Am nächsten Tag hatte die Sache schon den Reiz des Ungewöhnlichen verloren, und Elschen tat ihren Dienst, als habe sie nie etwas anderes gemacht. Sie rief die Strassen aus und half den Fahrgästen beim An - und Aussteigen, sie hob, wenn der Wagen überfüllt war, mit der Würde eines Feldherrn den Arm und rief:
„Besetzt.“ Und sie sagte denen, die keine amtliche Überlegenheit anerkennen wollten, mit einem Temperament ihre Meinung und stellte sich dabei in Positur, dass man meinen konnte, sie habe die Schlacht in Masuren gewonnen. Ihr Stumpfnäschen stieg dann noch etwas höher in die blaue Luft, und die Herren guckten dieses Näschen an, ein Genuss, für den sie nichts zu bezahlen brauchten. Indessen wusste Herr Hinrichsen nichts von dem, was sich zugetragen.
Zu sehr mit seinem Fettherzen beschäftigt, hatte er für die grösseren Ereignisse augenblicklich keine Zeit. Denn da er sich die Heirat mit Elschen nicht aus dem Kopfe schlagen wollte, so hielt er es — schon der Rassenhygiene wegen — für seine Pflicht — zunächst zu einem Professor zu gehen und sich eine Diagnose über sein Fettherz zu holen. Daran sollte sich ein Gesundungsaufenthalt in einem Sanatorium schliessen, fern der Grossstadt, und dann wollte Herr Hinrichsen in den Zivildienst treten. Geschmückt mit diesem neuen Beruf und womöglich dem Kreuz für Zivildienste wollte er seine Werbung erneuern, und wenn dann immer noch kein Erfolg blühte, dann — nun doch, dann stand die Welt einfach Kopp!
Also Herr Hinrichsen kam zu Professor Heinemann. Der war siebzehn Monate draussen im Felde gewesen, hatte schwer Verwundete behandelt und war noch erfüllt von all dem Jammer und Leid, das er gesehen, aber auch von dem Heroismus der Feldgrauen, von der tapferen, zähen Energie, dem Heldenmut all derer, die durchhielten und wenn gleich wochenlang der Himmel Feuer und Eisen spie.
„Wo fehlts?“ fragte er seinen neuen Patienten kurz, der mit einem Bückling — aber keinem zu zwei Mark, sondern einem, der gratis war — eintrat. Er schloss die Stores, denn draussen stiebte noch immer der Schnee und wuchs in den Strassen.
„Fettherz, Herr Professor. Rheuma, Atembeschwerden, Müdigkeit, Unlust zu allem, trockener Hals, Kurzsichtigkeit und so weiter.“
„Schön, ziehen Sie sich aus!“
Professor Heinemann untersuchte seinen Patienten, stellte Fettherz fest, fand, dass die Sache gar nicht so schlimm sei und Patient durch sitzende Lebensweise an sich selber sündigte.
„Haben Sie einen Beruf?“
„Früher, ja, in Trikot, jetzt nicht mehr.“
„Hm!“
„Ich muss wohl nach Karlsbad, Herr Professor?“
Professor Heinemann schob die Unterlippe spöttisch vor.
„Karlsbad? Aber wer wird sich denn in heutiger Zeit so ne Bagatelle so teuer machen! Schneeschippen, Herr Hinrichsen. Zivildienst! Das ist billig und hilft der Leber von der Galle.“
Herr Hinrichsen stand sprachlos, verneigte sich und zahlte für diese Aufforderung, dem Reich zu helfen, 20 Mark — was Herr Hinrichsen billiger hätte haben können, wenn er nur die Bekanntmachung des Generalkommandos in den Zeitungen gelesen hätte.
Aber bei näherer Überlegung fand Herr Hinrichsen dass Professor Heinemann gar nicht Unrecht hatte. Denn es handelte sich doch in der Hauptsache darum, das Fettherz zu verlieren, und wenn das mit Schneeschippen erreicht wurde, wozu brauchte man dann nach dem teueren Karlsbad?
Herr Hinrichsen berechnete, dass er mindestens tausend Mark sparte, und er dachte weiter — da er im Grunde seines Herzens ein anständiger Mensch war — dass er damit den Hinterbliebenen der gefallenen Krieger nützen könnte.
Herr Hinrichsen also überwies der Zentralstelle für diese Fürsorge tausend Mark und machte sich tags darauf mit dem frohen Gefühl eines Menschen, der seine Pflicht tut, an das Schneeschippen.
Er wählte als Schauplatz seiner ersten Tätigkeit im Zivildienst das Haus, das er selber besass und ging seinen Mietern mit gutem Beispiel voran; da der Schnee hoch lag und die Kohlenfuhrwerke stecken blieben, so war es wirklich höchste Zeit, dass alle Arme mobil gemacht wurden, und kaum hiess es:
„Wisst Ihr das Neueste? Hinrichsen schippt Schnee!“ — Da kamen sie alle herbei und staunten das Wunder an.
Und dann griffen sie selber mit zu. Und die ganze Strasse auf und ab tönte es in die Ohren des braven Hausherrn:
Hinrichsen schippt! Was sagt Ihr dazu! Hinrichsen als Schneeschipper! So was! Es gibt auch noch Männer, auch wenn sie „d. u.“ sind.
Kurz und gut, Hinrichsen machte sich ehrliche Freunde, und wie er abends todmüde in sein Bett kroch, da war es ihm bereits viel leichter ums Herz — sowohl in seelischer als in leiblicher Hinsicht.
Und das hielt an. Das Fettherz ging zurück, und als es nichts mehr zu schippen gab, weil die Sonne allmählich immer fröhlicher ihre Frühlingsstrahlen auf die Erde sandte und im Grunewald schon die Veilchen und Primeln geblüht hätten, wenn es eben im Grunewald so was gäbe, da meldete sich Hinrichsen beim Kommando und erhielt einen Posten als Aktenträger beim stellvertretenden Generalstab. Denn Hinrichsen war in seiner Jugendzeit Soldat gewesen und da konnte man ihm so etwas schon anvertrauen.
Also nun war Hinrichsens Traum erfüllt. Das Fettherz war zusammengeschrumpft. Freilich, die Liebe zu Elschen blieb immer noch zwischen den Falten der Herzkammer hängen und war nicht wegzukriegen. Hinrichsen ging täglich mit seiner Mappe durch die Strassen und trug sein schwarzweissrotes Armband mit der Aufschrift „Zivildienst“ stolzer spazieren, als ein Unterseebootskommandant seine Prise einbringt.
Leider fand Hinrichsen ausser der inneren Befriedigung nicht die volle Belohnung für seine Tat. Denn wenn er sich auch dachte: Nun bin ich fettherzlos, zivildienstpflichtig und überdies Hausbesitzer und Rentier — nun muss mich doch das hilflose, stille Gretchen — Elseken heiraten! — Wenn er sich auch das nach menschlichem Ermessen so dachte —, es kam doch anders.
Und das Unglück erreichte den nichtsahnenden Hinrichsen an so einem strahlenden Tage, an dem die Spatzen noch viel frecher sind und die Liebe ihre Blüten aus allen Herzen treibt.
Es war Sonntag
Hinrichsen hatte sich den Tag ausgesucht, an dem er dienstfrei war, um den letzten, entscheidenden Sturm auf das Herz des schönen Elseken zu unternehmen.
In aller Frühe stand er auf und putzte sich. Ja, Herr Hinrichsen hatte sich unter den Einflüssen des Zivildienstes verjüngt. Er zog seinen Gehrock an und schlüpfte in die wildledernen Handschuhe dann machte er sich auf den Weg nach einem Blumengeschäft.
Dort kaufte er ein Bündel Maiglöckchen, denn erstens waren die billig, zweitens sahen sie gut aus, und dann setzte er seinen Weg fort.
Der war weit.
Und da Herr Hinrichsen seinen Bezugschein auf Stiefel sparen wollte, so stieg er kurz entschlossen in die Elektrische, Linie 16, mit der er in die Nähe des Hauses Ohnesorgs fahren konnte.
Es war ziemlich voll in der Elektrischen, und kaum stand er in drangvoll fürchterlicher Enge in dem Wageninnern und war einem cholerischen Herrn auf die Füsse getreten, da flötete eine sanfte Stimme in einem Tone, der keinen Widerspruch duldete:
„Der Herr mit den Maiblumen bitte weiter Vorgehen!“
Der Herr mit den Maiblumen wurde der Gegenstand eines vielseitigen Lächelns verschiedener Fahrgäste, denn er überhörte die Aufforderung, weil seine Gedanken weit weg bei Elschen Ohnesorg weilten.
Aber die Schaffnerin wurde ärgerlich und flötete nicht mehr, sondern rief mit Nachdruck:
„Der Herr mit den Maiblumen weitergehen.“
Er ging nicht weiter.
„Der Herr mit den Maiblumen — zum Donnerwetter!“
Da sagte eine Dame neben Hinrichsen:
„Etwas mehr Rücksicht gegen die armen Schaffnerinnen wäre schon angebracht, mein Herr! Sie sollen weiter gehen.“
Hinrichsen tat erschrocken einen Schritt vorwärts trat der Dame, die vermittelnd eingetreten war, auf den Rock, und zog sich von dieser Seite eine energische „Note“ zu.
Die Schaffnerin drängte sich durch das Gewühl der Mitfahrenden. Er konnte sie gar nicht sehen. Nur eine schlanke, kleine Hand sah er, die hielt ihm einen Fahrschein hin und fragte gleichzeitig:
„Für zehn oder weiter?“
Worauf Herr Hinrichsen schnell seinen Groschen bezahlte:
„Nur für zehn!“
Die Hand verschwand. Der Wagen ratterte durch die frühlingsumsponnenen Strassen. Urlauber kamen, in den Gärten wurde umgepflanzt, es war eine Lust zu leben, besonders wenn man wie Herr Hinrichsen, freien wollte.
Der Wagen leerte sich. Herr Hinrichsen dachte an Elseken und überhörte, dass die Schaffnerin eine Station ausrief. Da dies die Endstation seines Billets war, so rief die Schaffnerin nochmals und setzte hinzu:
„Herr, wollen Sie hier nicht aussteigen? Oder wollen Sie für einen Groschen eine Rundreise um die Welt machen?!“
Herr Hinrichsen fühlte sich in der Unschuld seines Herzens nicht getroffen und reagierte nicht. Bis die Stimme wieder rief: „Sie — Herr mit dem Maiblumenstrauss!“
Da riss es Herrn Hinrichsen zusammen. Er stürzte nach dem Ausgang. Die Elektrische fuhr eben an. Herr Hinrichsen kam in Schwung und flog — in die Arme der Schaffnerin.
Die richtete ihn auf, und während das Gelächter aller Fahrgäste in Herrn Hinrichsens Ohren drang wollte er sich entschuldigen, da sah er sie, da sah sie ihn —
„Elschen“ stammelte er. „El — se — ken.“
Elschen hatte in ihrem Dienst die Kunst der Selbstbeherrschung gelernt. Sie gab sich einen Ruck und erwiderte:
„Herr Hinrichsen, ich bin im Dienst.“
„Das sehe ich — aber — ich — verstehe nicht —“
Ein Herr hielt schon ein paar Minuten seinen Groschen hin, aber die Schaffnerin konnte ihm sein Billet nicht geben, weil Herr Hinrichsen dazwischen stand.
Der Herr liess etwas von Quatschkopf vernehmen und Respekt vor Schaffnerinnen — worauf Herr Hinrichsen Platz machte. Aber da sonst niemand sein Billet wünschte, so hielt Hinrichsen seinen Standplatz fest, um in einer Flut von liebenswürdigen Vorwürfen Else klar zu machen, dass sie das nie hätte tun dürfen.
„Elseken — gerade heute — wo ich — wo ich — nämlich die Maiblumen — die Maiblumen waren für Sie!“
Und er streckte der Schaffnerin die Maiblumen entgegen. Aber Elschen erklärte streng, sie dürfe im Dienst keine Maiblumen annehmen, worauf Herr Hinrichsen diese Verordnung als eine Barbarei erklärte. Darüber geriet er in Streit mit dem Passagier, der erst schon etwas von Quatschkopf hatte verlauten lassen, und schliesslich stieg der Kontrolleur ein und machte dem Hin und Her mit einem „Die Fahrkarten bitte“ ein Ende.
Der Herr, dem das Wort Quatschkopf so geläufig war, zeigte seine Karte. Elschen holte ihr Kontrollbuch aus der Tasche. Und der Kontrolleur kam zu Hinrichsen, prüfte seine Karte, warf ihm einen vernichtenden Blick zu und sagte, halb zu ihm, halb zu der Schaffnerin gewandt:
„Wie kommt denn das, dass der Herr auf einer fünfzehn Pfennig Tour mit einem Zehnpfennigfahrschein fährt?“
Elseken wurde blass. Hinrichsen aber ging sofort, ohne sich zu besinnen, zu ihrer Verteidigung vor und erklärte, das sei seine Schuld, er habe die Haltestelle übersehen, und der andere Herr meinte, die Schafferin könne doch nicht alle Fahrscheine auswendig kennen und der Herr mit den Maiblumen habe sie überdies andauernd belästigt.
Der Herr mit den Maiblumen wandte ein, er sei zivildienstpflichtig und wisse allein, was sich gehöre, der Kontrolleur entschied, dass der Herr mit den Maiblumen ein Billet nachlösen und sofort aussteigen müsse.
Herr Hinrichsen tat wie ihm befohlen. Und ehe er sich versah, stand er in einer einsamen Strasse, in einem unbekannten Viertel, mit seinen Maiblumen in der Hand und von Elschens letztem Blick verfolgt, der alle Vorwürfe eines unschuldig gekränkten Herzens in sich schloss.
Es blieb Herrn Hinrichsen weiter nichts anderes übrig, als einen weiteren Groschen zu spendieren und mit der nächsten Bahn, die „von entgegengesetzt kam“ wieder zurückzufahren.
Der Sonntag war ihm verdorben. Die Sonne schien nicht mehr wie früher, aber schliesslich ging er doch zu Frau Ohnesorg und brachte ihr die Maiblumen mit dem Bemerken, dass man einer alten Frau in dieser schweren Zeit doch auch mal eine Freude machen müsse.
Bei Ohnesorgs gab es Eisbein mit Sauerkohl.
„Die Eisbeine sind eine Aufmerksamkeit von Frau Lehmann“, sagte die Alte. Hinrichsen taute angesichts dieser kulinarischen Genüsse auf. Er spendierte drei „Weisse“, aber als er nochmals drei holen lassen wollte, sagte der Wirt von gegenüber, die „Weissen“ seien nicht mehr so zahlreich wie früher, andere Leute wollten auch mal eine kühle Blonde und bei Ohnesorgs sollten sie weniger trinken, das Eisbein schwimme auch mit drei Weissen.
„Er ist nicht so grob wie er redet“, meinte Vater Ohnesorg philosophisch, und so liess man sich die Stimmung denn nicht verderben und stiess mit den leeren Gläsern auf Elseken an, als es plötzlich klingelte.
Frau Ohnesorg ging hinaus. Ein schmuckes Mäddel stand draussen, die Postbinde um den Arm und brachte eine Depesche.
Frau Ohnesorg kam herein und sagte:
„An Else Ohnesorg. Vater, ob wir sie öffnen?“
Vater Ohnesorg meinte, das müsse man wohl, Martin werde auf Urlaub kommen. Aber er drehte den Kopf weg, wie er das sagte, und seine Stimme klang gepresst. Denn eine Depesche — eine Depesche — was konnte die Gutes bringen?
Mutter Ohnesorg knüllte die Depesche zwischen den zitternden Fingern und gab sie schliesslich Hinrichsen:
„Machen Sie ’s auf, Herr Hinrichsen.“
Hinrichsen zeigte sich als moderner Mensch und riss die Depesche auf. Halblaut las er vor:
„Bin verwundet. Rechten Arm verloren. Vergiss mich nicht. Martin.“
Da herrschte eine Weile Totenstille in dem alten Biedermeierzimmer. Dann nahm Mutter Ohnesorg die Schürze vor und weinte bitterlich. Und Vater Ohnesorg strich sich mit dem Handrücken über die Augen und trat zu Muttern.
Mit schwerfälligen Händen suchte er sie zu streicheln und zu trösten, und die alte Frau fasste seine Hand und drückte sie an die Brust. Vater Ohnesorg sah hilflos vor sich hin.
„Er ist ja nicht unser Sohn, der Martin,“ sagte Frau Ohnesorg schluchzend, „aber — gern haben wir ihn doch, was, Vater? Und nun so’n Unglück! Oh du lieber Gott! Ein Schlosser ohne Arm!“
Hinrichsen nahm seinen Hut, sagte kein Wort und verschwand.
Als er wieder in seiner Junggesellenwohnung war, da kamen ihm die besseren Gedanken. Er sah ein, dass er Elschen nie zur Frau bekommen würde, und dass Martin Knesebeck sie lieb hatte, das hätte er schon früher bemerken können.
Und er dachte weiter, wie gut er es doch hier in der Heimat hatte, und wie seine Sorgen und sein bisschen Pflichterfüllung doch gar nichts, aber auch rein gar nichts war gegen das, was die da draussen aufs Spiel setzten und opferten.
Herr Hinrichsen sah im Geiste das Feldlazarett, sah, wie dem armen Knesebeck der Arm abgenommen wurde und wie der frische Junge nun hilflos dalag, ohne rechten Arm, voll Sorgen um seine Zukunft ...
Da fasste Herr Hinrichsen einen Entschluss:
Er setzte sich hin und schrieb einen Brief an Elseken, in dem er mit keinem Wort mehr seine Liebe erwähnte, sondern tat, als sei es eine ausgemachte Sache gewesen, dass Elschen den Martin Knesebeck heiratete.
„Nun freilich ist das ganz und gar in Frage gestellt“ schrieb er weiter. „Denn Martin kann mit einem Arm seinem Beruf nicht mehr nachgehen, und mithin kann er auch keinen eigenen Hausstand gründen. Deshalb schlage ich Ihnen vor, dem Martin zu schreiben, dass er später, wenn er will, als Portier in meinem Hause eintreten kann, und dass ich ihm das dreifache Gehalt zahlen will, so lange er bei mir ist ...“
Dann kam noch eine Entschuldigung, dass er, Hinrichsen, sich erlaube, in Ihre Angelegenheit zu reden, aber er sei doch nun mal ein alter Freund der Familie.
Elschen erhielt die Nachricht von der Verwundung Martin Knesebecks als sie abends aus dem Dienst nach Hause kam. Die Eltern wollten es ihr zwar noch verheimlichen, aber sie las ihnen das Unglück vom Gesicht ab, und so mussten Sie es denn sagen.
Elschen blieb ganz still, als sie es hörte. Sie weinte nicht und schluchzte nicht und sah nur mit grossen Augen durchs Fenster in die Nacht hinaus.
Die Mutter bekam Angst. Aber als Elschen sich umdrehte, da hatte sie ein eigenes Leuchten in den Augen.
„Mutter, nun werde ich halt für mich und ihn sorgen, denn dass ich ihn nun gerade heirate, dass das meine Pflicht ist, wirst du doch begreifen.“
Nun sagte Mutter Ohnesorg nicht mehr nein, denn das hätte sie nicht übers Herz gebracht. Elschen fuhr fort:
„Sieh mal, Mutting, zweihundert Mark hab ich mir schon gespart. Bis wir heiraten, wird’s nochmal so viel sein. Dann wird er schon etwas finden, um ein paar Groschen dazu zu verdienen, und ich werde meine Pflicht tun und zeigen, dass wenn die Männer für uns ihr Leben eingesetzt haben, wir auch unser bisschen Kraft nun einsetzen müssen, damit eins dem andern keinen Dank schuldig ist.“
Damit ging sie aus dem Zimmer. Denn nun musste sie sich ausweinen. Die alte Ohnesorg nahm wieder die Hand ihres Mannes, streichelte sie und sagte — und das war zum ersten Mal in zwanzigjähriger Ehe: — „Vater, wir müssen Gott danken für das Kind!“
Der Alte sagte nichts, neigte nur seinen grauen Kopf.
Den Brief von Hinrichsen erhielt Elschen im Depot. Und dort beantwortete sie ihn auch gleich.
Schrieb, sie dankte Herrn Hinrichsen von ganzem Herzen für alles. Aber wie sie den Martin kenne, werde es immer auf ihm lasten, wenn er abhängig sei. Und die eigene Kraft nur könne uns Stolz und Frieden geben. Mithin solle Herr Hinrichsen nicht böse sein, sie habe auch seine Maiblumen, die er der Mutter Ohnesorg mit gebracht, schon ins Wasser gestellt, und nun ständen sie auf ihrem Tischchen neben ihrem Bett.
Als Hinrichsen das las, war er überglücklich. Er wollte schon nach dem Blumenladen, um Elseken einen noch viel schöneren Strauss zu senden, aber dann besann er sich und schickte in das Reservelazarett an den Gefreiten Martin Knesebeck ein Feldpostpaket ab, das einen Zwanzigmarkschein verschlang.
Aber dem Hinrichsen tat es wohl.
Ehe Martin Knesebeck auf seinem Schmerzenslager das Feldpostpaket erhielt, kam ein langer, langer Brief von Elseken. Sie schrieb noch immer nicht, dass sie auf der Elektrischen war, sondern nur, Martin solle sich keine Sorgen machen. Das Geld zum Heiraten sei da, wenn er zurückkomme und das Weitere würde sich finden. Er solle auf sie und ihre Liebe vertrauen, die kein Schwanken kenne, sondern immer ihm gehöre, und solle sehen, dass er so bald als möglich zurückkehre.
Dann kam das Feldpostpaket. Aber dem armen Martin Knesebeck wurde nicht wohl zu Mute, denn die Andeutung Elschens verstand er nicht und fürchtete, sie sei ihm nun für immer verloren.
Aber dann kam nach einigen Monaten der Tag, wo Martin Knesebeck aus dem Lazarett entlassen wurde, um einen langen Urlaub anzutreten, der mit seiner Entlassung ins Zivilleben endigen sollte.
Und eines Tages kam er ohne sich anzumelden, in der Heimat an. Der Ärmel ohne Arm steckte in der Tasche. Manch herzlicher, mitfühlender Blick traf ihn. Traurig ging Martin Knesebeck seinen Weg und stieg, wie immer, wenn er zu Ohnesorgs ging, in die Linie 16.
Ungeschickt griff er mit der Linken nach dem Billet und wunderte sich, dass es jetzt sogar Schaffnerinnen gab. Da sah er näher hin ... das Billet flatterte vom Perron, und die Schaffnerin verlor den Knipser.
Die Umstehenden begriffen gleich, wie das zusammenhing und freuten sich, als der Soldat mit dem gesunden Arm die Schaffnerin um den Hals nahm und sie beide Arme um den seinen legte. Alles schmunzelte, und da der Wagen noch an der Haltestelle hielt und die Schaffnerin kein Signal gab, so kam die Wagenführerin nach hinten, um zu sehen, was los sei. Inzwischen stauten sich die nachrollenden Wagen, es bildete sich eine lange Reihe, und alles kam um zu hören, dass der Schaffnerin von Nr. 16 ihr Soldat aus dem Felde gekommen sei, mit einem Arm, aber — wie die Führerin von 16 sagte: „Der Kopf ist ganz, und das ist die Hauptsache!“
Sie setzte also ohne Signal ihren Wagen in Bewegung. Elseken tat unter den Augen Martin Knesebecks, die immer grösser und grösser wurden, ihren Dienst und schliesslich kamen sie zu der Haltestelle, wo Martin von seinem Elschen Abschied nehmen musste.
„Um sechs bin ich dienstfrei,“ rief sie ihm nach. „Auf Wiedersehen!“
Er stand und sah dem Wagen nach.
„Dienstfrei,“ murmelte er. Das war ein Wort, das er bisher nur von sich gekannt hatte. Er war ein Mann und Soldat. Aber Elseken ...
Wie er das so überdachte, wurde ihm warm ums Herz. Er ging ins Haus und wurde von Mutter und Vater Ohnesorg als Sohn begrüsst.
Denn nun stand es fest, dass die zivildienstpflichtige Else Ohnesorg den ins Zivilleben übergehenden Gefreiten Martin Knesebeck heiraten würde. Martin Knesebeck war also wieder zuhause und wurde von allen Seiten verwöhnt. Unter Tags von den Alten, abends von Elseken, und die Tage flossen dahin, bis er endlich seine Entlassung aus dem Militärdienst erhielt.
Da ging Martin Knesebeck hin und meldete sich beim stellvertretenden Kommando und bewarb sich um eine Zivilstellung.
Und da er jetzt mit dem linken Arm so gut umgehen konnte wie früher mit dem Rechten, erhielt er eine Aushilfsstellung als Bursche bei einer alten Exzellenz. Er lernte in der Besitzung des neuen Herrn die Gärtnerei und konnte bald den Dienst für den eingezogenen Gärtner versehen.
Nun konnte die graue Sorge nicht mehr kommen und bei Martin Knesebeck anklopfen.
Die alte Exzellenz konnte nicht mehr an dem Kriege teilnehmen.
Dafür fuhr der General täglich ins Kriegsministerium, wo er ehrenhalber seinen Dienst tat.
„Dazu halten die alten Kochen noch her,“ sagte er zu Helene, seiner Nichte, die ihn getreulich pflegte. Denn Exzellenz von Wildung war ein etwas sonderbarer Herr, dessen Stimmungen man kennen und verstehen musste.
Und wie oft hörte Martin Knesebeck, der Gärtner, die Frage: „Na, Helenchen, hat Hans, der Windhund, wieder von sich hören lassen?“
Lange plagte Martin Knesebeck die Neugierde, wer Hans der Windhund war. Allmählich bekam er es heraus.
„Das ist ein ehemaliger preussischer Gardeleutnant,“ sagte ihm die dicke Köchin. „Der Neffe von Exzellenz und sein Augapfel. Fräulein Helene ist seine Schwester. Ich glaube, die heiratet nicht, weil sie sich um den Bruder härmt, der in Amerika ein Tunichtgut ist.“
„So, so,“ sagte Martin Knesebeck.
Aber er dachte, so ein grosser Tunichtgut könnte der Herr Leutnant doch nicht sein, sonst würden nicht Fräulein Helene und die alte Exzellenz abends stundenlang beisammen sitzen und seine Briefe lesen.
Freilich, Amerika war weit. Und wenn man jetzt auch viel von den Amerikanern sprach, so konnte doch kein Mensch wissen, was das eigentlich recht für ein Land war.
So dachte Martin Knesebeck.
Eines Tages musste er einen Brief zur Post tragen, der trug in den steilen Grenadierbuchstaben der alten Exzellenz die Aufschrift: Mr. Hans Toren, Journalist, New Yorker Staats-Zeitung, New-York.
Nun also wusste Martin es. Dass aber ein preussischer Gardeleutnant ein Journalist werden konnte, das wollte ihm nicht in den Kopf.
Eines Tages kehrte der Gärtner als Invalide in das Haus des Generals zurück. Martin Knesebeck schrieb an seinen lieben, alten Hauptmann, ob er ihn nicht gebrauchen könnte. Hauptmann Scholz schrieb sogleich zurück, Knesebeck solle sich rasch bei der Frau Rätin melden. Er fand dort Hans Scholz, der ihn sogleich als Diener engagierte, und der blinde Offizier hätte keinen aufopfernden und treueren Diener finden können, als diesen Martin Knesebeck, mit dem ihn ein gleiches Schicksal verband.