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Verschiedene Wege.

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Hauptmann Franz Scholz kehrte eben aus Polen zurück, als seine geliebte Mutter zu kränkeln anfing. Ihr zweiter Sohn Hans, der Lehroffizier im Blindenheim war, befand sich bei ihr und begrüsste herzlich den heimgekehrten Bruder.

Seit langer Zeit waren die Mitglieder der Familie Scholz wieder versammelt, freilich nicht vollzählig, denn Sonja und ihr Töchterlein fehlten.

Die schöne Gattin des Hauptmanns war in ihre Heimat zurückgekehrt. Die deutsche Regierung hatte sie in das neue Königreich Polen berufen, wo man sie wegen ihrer Kenntnisse der polnischen Volksseele brauchte.

Die Zeit war da, wo Deutschland „bis zum letzten Hauch von Ross und Mann“ sich einsetzen musste. Wo auch die Frauen auf den Plan traten und Seite an Seite mit den Männern um Zukunft und Existenz rangen. Frau Sonja nahm Dienst im deutschen Gouvernement, wo sie in einer eigenen Abteilung die Judenfrage zu behandeln hatte.

Sie fand trotzdem noch Zeit, ihren Mutterpflichten zu genügen. Ihre Kleine besuchte die deutsche Schule in Warschau.

Mit Entschlossenheit und Energie hatte der neue Gouverneur von Beseler Ordnung geschaffen. Polen sollte ein Königreich werden, selbständige Verfassung erhalten, ein eigenes Heer stellen.

Aber mit dieser deutschen Proklamation waren noch nicht alle Fragen gelöst, die dieses von endlosen Parteikämpfen und politischen Wirren zerrissene Land erfüllten, und hinter der scheinbaren Ruhe verbarg sich manch düsteres Problem, manche unheilverheissende Drohung.

Franz Scholz setzte sich neben den Lehnstuhl der Mutter und nahm ihre Hand. So viel hatte diese deutsche Mutter in den bisherigen zwei Kriegsjahren erduldet, so viel Opfer gebracht, so oft mit schmerzendem Herzen auf Nachrichten von ihren Lieben gewartet, dass ihre Kraft nicht mehr die alte war.

Englands Hungerkrieg war nicht ohne Folgen geblieben. In deutschen Landen herrschte zwar nicht, wie angelsächsische Politik sich das erträumte, die Hungersnot. Keine der Hoffnungen der Allianz des heiligen Egoismus hatte sich verwirklicht. Keine Revolution war entstanden, kein Abfall der Südstaaten von Preussen, keine Massenerkrankungen, kein grosses Sterben, keine Seuche, keine Pest.

Aber eine eiserne Disziplin verlangte strengste Rationierung der vorhandenen Lebensmittel. In den Städten mussten sich Alle ohne Unterschied Entbehrungen auferlegen. Es verhungerte niemand, aber keiner hatte mehr Überfluss. Und mancher Kranke, mancher Greis begann unter dem Hungerkrieg zu leiden. Das konnte nicht ausbleiben

England vermochte die deutsche Front nicht zu durchbrechen. Aber der Hunger schlug Deutschland Wunden, die es so aufrecht trug, wie nur ein Volk von solcher Selbstdisziplin und diesem Opfermut hierzu imstande war.

„Ich werde nicht lange bei der Mutter bleiben können“, sagte Hans Scholz, der Unterrichtsoffizier, der Held so vieler Erlebnisse, der jetzt seine Dienste dem Vaterlande im Innern weihen musste. „Ich habe Befehl erhalten, mich zu den Austauschinvaliden in die Schweiz zu begeben, um mit dem Elementarunterricht jener Erblindeten zu beginnen, für die keine Hoffnung mehr besteht. Deutsche und Österreicher werde ich in eigenen Kursen wieder das Vertrauen auf sich selbst, die Zuversicht in die eigene Kraft beizubringen haben.“

„Und da sei Gott vor, dass du deine heilige Pflicht meinetwegen vernachlässigst,“ unterbrach ihn die Rätin, die in dem Lehnstuhl lag und ihre Augen mit einem milden Leuchten auf diesen Sohn heftete, dessen Leid einst das ihre gewesen, dem sie geholfen hatte, kraftvoll ein bittres Schicksal zu tragen, das ihn um des Vaterlandes willen betroffen hatte. Freilich, die Frau an ihrer Seite war ihm mit unendlicher Demut zur Seite gestanden und hatte vielleicht noch mehr getan als sie selbst ...

Diese Frau ... hochaufgerichtet stand sie neben der Mutter, ein Bild der Schönheit und edler Entsagung. Else, die Gattin von Hans Scholz. Sie beugte sich zu der Rätin nieder. „Mutter, ich werde, wenn du dich schwach fühlst, vielleicht doch beim Roten Kreuz vorstellig werden, dass eine andere Dame an meiner statt die Reise nach Russland unternimmt.“

Aber die alte Dame schüttelte energisch den Kopf. „Nein, Else, auch dieses Opfer nähme ich nicht an. Es brächte mir vielleicht kein Glück. Wie dürfte ich mein eigenes Schicksal, meine Wünsche und Hoffnungen jetzt vor das von hunderttausend Unglücklichen stellen? Nein, um Gottes willen, Else, führe den Gedanken nicht aus, ich bitte dich darum. Du wirst als Rote-Kreuz-Schwester nach Russland reisen und den Gefangenen, die dort schmachten, des Vaterlandes Gruss und Trost bringen. Ach, du Tapfere, wieviel Dank ist dir und ungezählten deines Geschlechtes Deutschland schuldig!“

Else lächelte.

„Wir wollen uns nichts darauf zu Gute tun, Mutter, wir deutschen Frauen. Wir wollen nur unsere Pflicht tun bis zum letzten Atemzuge, dem Schwure getreu, den wir denen da draussen gegeben, die vor Verdun und Arras bluten, weil der Trotz und die Raserei der Gegner uns den Frieden verweigert. Sag, Mutter, könnte man denn je das Buch von diesem deutschen Dulden und diesen Opfern schreiben? Könnte man all die Braven finden, die mit ihren rationierten Lebensmitteln sich unsagbare Opfer auferlegen, die mit allen Nerven mitarbeiten, den Aushungerungsplan Englands zu Schanden zu machen?“

Alle schwiegen und blickten auf die Rätin, die leise nickte. Und alle hatten den gleichen Gedanken: Wenn man die kräftige Kost hätte, die die Kranke brauchte, all die wichtigen Nahrungsmittel, die wohl ein Gesunder entbehren kann, deren Verlust aber ein schwacher Körper nicht erträgt, dann würde die Rätin neu aufblühen — — — aber so!

Da sass sie, still ergeben, in dem edlen Antlitz verhängnisvolle Schatten, die sich nicht mehr bannen liessen, eine Kämpferin wie ungezählte, von denen keine Kriegsgeschichte künden wird, eine Heldin, die im Dulden und Entsagen leistete, was die andern in unermüdlicher Ausdauer und unbezwinglicher Tapferkeit vollbrachten. —

Ein junges Mädchen trat ein und gab den Gedanken eine andere Richtung. Sie trug ein schwarzes, einfaches Kleid, das blonde Haar war zu einem Knoten gesteckt, dessen Fülle in den Nacken geglitten war Ihre Augen umspannten das Zimmer mit einer warmen Zärtlichkeit. Die Herzen der Menschen schlugen ihr entgegen, denn ihre Lieblichkeit und Anmut nahm alle gefangen.

„Violet“, sagte die Rätin. „Schon zurück vom Markt?“

Violet grüsste die Offiziere und lächelte Else zu.

„Ach liebste Mutter, ich habe mir alle Mühe gegeben, Milch zu erhalten, aber die Zufuhr nach Berlin stockt. Doch habe ich,“ setzte sie mit stolzem Augenaufschlag hinzu, „heute etwas mehr Butter erhalten, dazu Margarine. Schweinefleisch wird seltener, und das Gemüse ist wieder gestiegen. Aber etwas Obst konnte ich in genügender Menge erhalten, und bedeutend billiger, weil die Regierung gegen die Preistreiberei mit Höchstpreisen eingeschritten ist.“

Else lachte.

„Ärmste! Was du für Sorgen hast!“

„Hätte ich sie nicht, wer müsste sie dann statt meiner haben?“

„Ich, natürlich ich, Violet,“ entgegnete Else. „Närrchen, als ob ich dir nicht Dank wüsste! Doch lege ab! Wir wollen sehen, was für Leckerbissen wir heute zusammenstellen werden, um die Mutter zu überraschen und die anspruchsvolleren Herren zu befriedigen. Besonders mein Schwager Franz wird von der Front her hübsch verwöhnt sein ...“ Die beiden Frauen gingen hinaus. Die Rätin blickte dem Mädchen, das mit seinen siebzehn Jahren noch ein halbes Kind war, mit leuchtendem Auge nach.

Violet von Königsmarck war mit der Rätin eng befreundet. Sie hatte bisher bei ihrer Schwester Fredrichsen gewohnt. Aber Elsie war ihrem Gatten vor kurzem nach Holland gefolgt, wohin den deutschen Grosskaufmann seine Geschäfte riefen. Violet hatte keine Lust gehabt, ihr Vaterland zu verlassen und hatte der Rätin ihre Unterstützung im Haushalt angeboten, bis Elsie und ihr Gatte zurückkehrten. Es liefen allerlei Gerüchte um von Rüstungen in Holland und Schweden. Die Zeitungen dieser Länder hetzten zum Kriege. Man wusste nicht recht, woran man war. Violet jedenfalls fühlte sich von der stillen Häuslichkeit der Rätin angezogen und hatte sich bald unentbehrlich gemacht.

Es verminderte die Sorgen der Söhne, zu wissen, dass dieses Kind die Mutter betreute. Der Arzt kam und erkundigte sich nach dem Befinden der Rätin. Er fühlte den Puls, sprach einige scherzhafte Worte, wie das so seine Art war von des Gatten Zeiten her, der nun schon so lange von seinen Kämpfen ausruhte, und nahm Franz Scholz beim Arm.

Hans folgte.

Im Nebenzimmer sagte der Arzt zu den beiden Söhnen: „Die Schwäche macht mir Sorge. Es muss unbedingt etwas geschehen, wenn wir nicht unliebsame Überraschungen erleben wollen. Ich schlage vor, Frau Scholz geht mit einer Person, die sie pflegt, in die bayrischen Berge. Die Höhenluft wird ihr gut tun. Und die Ernährung ist bei unseren mit glücklicheren Gesilden gesegneten Bundesbrüdern, gar auf dem Lande, eine ungleich günstigere wie hier.“

Die Offiziere beschlossen, den Rat des Arztes zu befolgen. Nach dem Mittagessen brachte Franz die Sache zur Sprache. Die Rätin wehrte sich zwar gegen den Gedanken, ihre engere Heimat in dem stillen Vorort zu verlassen, aber Violet war für den Plan Feuer und Flamme. Sie kannte Bayern von früheren Reisen her. Sie wusste Frau Scholz so vieles Schönes zu erzählen, dass die alte Frau, die nun in Kürze wieder alle ihre Lieben hinausziehen lassen musste in eine gefahrvolle, unsichere Zukunft, zustimmte.

Der Tag der Abreise kam heran.

Franz, der Hauptmann, hatte seinen Burschen nachkommen lassen, der die letzten Vorbereitungen mit Umsicht und Sorgfältigkeit erledigte. Martin Knesebeck war das Muster eines Burschen. Franz wusste ihn nicht genug zu rühmen. Gemeinsame Gefahren im Felde hatten beide einander nahe gebracht und die sozialen Unterschiede hatten sich verwischt.

Martin kämpfte lange an der russischen Front, der Hauptmann hatte ihn sogar, nachdem er verwundet ins Lazarett gekommen war, aus den Augen verloren. Doch in den Herbstkämpfen des zweiten Jahres fand er ihn wieder, und nun blieben die Beiden von neuem beisammen. Martin hatte sich das eiserne Kreuz verdient, auf der Brust des Hauptmanns hingen längst mehrere hohe Auszeichnungen.

Martin war ein schmucker Berliner Junge. Seit einem gewissen Erlebnis freilich war er nachdenklicher und stiller geworden wie früher.

Es war dem Hauptmann nicht unbekannt, dass zwischen dem Hause des Buchbindermeisters Ohnesorg und Martin Knesebeck sich zarte Fäden spannen. Aber er liess sich nichts merken, denn in ein paar Tagen schon musste Franz ins Feld, diesmal nach Westen und dann nahm er den Martin mit. Wer wusste, was später kam.

Und der Tag brach an, an welchem Alle, die die Liebe einte, voneinander Abschied nahmen. Man richtete es so ein, dass niemand in Berlin zurückbleiben musste. An einem Tage gingen alle auseinander, folgte jeder seiner Pflicht und dem Rufe höherer Gewalten. Dr. Hans Scholz, reiste nach der Schweiz.

Else, seine Gattin, begleitete ihn zur Bahn. Sie trug bereits das Abzeichen der Schwestern vom Roten Kreuz. Sie nahm von dem geliebten Gatten Abschied, als gelte es nur eine kurze Trennung von wenigen Tagen. Die Zeit hatte für sie eine neue Bedeutung und andere Wertung als früher. Wie oft waren sie schon beisammen gestanden neben dem fauchenden Zuge und hatten sich die Hände gereicht mit der bangen Frage:

Werden wir uns wiedersehen?

Ihre Augen sprachen, was die Lippen verschwiegen. Dr. Scholz küsste seiner Gattin die Hand. In solchen Augenblicken, wenn er sich niederbeugte, sah sie nicht, dass seine Augen keinen Glanz und keine Sehkraft mehr hatten. Dass sie leblose dunkle Höhlen waren.

In solchen Augenblicken wich das Leid, das namenlose Leid, das sie still und heiter trug wie eine Heldin, für Sekunden aus ihrem Herzen.

Nun reiste er in die Schweiz, allein, ohne ihre Pflege, seiner Pflicht zu genügen. Freilich, er hatte sich eine Sicherheit anerzogen, als habe er nie vorher das Augenlicht besessen, als sei er nicht einmal an ihrem Arme tastend und hilflos einhergegangen, nachdem die Granate ihn mit Blindheit geschlagen hatte.

Der Zug setzte sich in Bewegung.

„Hans, bleib gesund! Ich komme bald zurück!“

„Else! Mein Weib!“ sagte der blinde Offizier leise. Die heisse Zärtlichkeit einer unsterblichen Liebe schwang im Ton der Worte. Sie unterdrückte die heiss aufsteigenden Tränen.

Dann hatte ihn der Zug entführt.

Eine Stunde später fuhr Franz Scholz, der Hauptmann, mit seinem Burschen Martin Knesebeck nach Flandern.

„Die Engländer sollen dort die Franzosen ablösen,“ sagte er Else. „Das ist die letzte Neuigkeit.“

Er war im Generalstab festgehalten worden und hatte deshalb seinem Bruder nicht zum letzten mal die Hand reichen können. Die Rätin war infolge ihres Leidens zu Hause festgehalten.

„Wenn du nach Russland reisest, Schwägerin, nimm den Weg über Warschau und grüss mir meine Gattin Sonja! Sag ihr, dass mein Herz ...“

Da pfiff der Zug, Else nickte. Sie kämpfte gegen den Wind. Darum sah Franz Scholz nicht, dass sie weinte. In diesem Augenblick weinte sie. All der Schmerz, den dieser Krieg willkürlich ausstreute, erschütterte sie.

„Leb wohl, Franz!“

Und als der Zug schon aus der Halle fuhr, rief sie noch nach: „Kehr gesund heim!“

Er verstand sie nicht, nickte nur.

Am Abend verabschiedete sie sich von der Rätin. Lange hielten sich die beiden Frauen umschlungen. Immer wieder küsste die alte Frau dieses liebe Gesicht, diese warmen jungen Lippen.

Immer wieder strich sie segnend über das Haar ihrer Schwiegertochter. „Else, bei allen Gefahren, in jeder Lage, in der du dich befindest, denk daran, dass Hans niemanden hat als dich! Hans, mein Sohn!“

„Mutter!“

Und dann war Schweigen.

Mit dem Nachtzug reiste Else Scholz mit noch zwei Schwestern nach Thorn. Sie sollten die russischen Gefangenenlager besuchen und Bericht erstatten. Sie sollten den deutschen Gefangenen in Asien Liebesgaben überbringen und ihnen sagen: Verzweifelt nicht! Das Vaterland kämpft bis zum letzten Atemzuge und vergisst euch nicht!

Der Fluch der Welt

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